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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein heißes Eisen

Die Dis­kre­di­tie­rung der Aus­stel­lung »Wil­li Sit­te – Fritz Cremer« in der Rostocker Kunst­hal­le setz­te bereits vor der Eröff­nung ein. Die Bild-Zei­tung ver­stieg sich sogar dazu, an einem gro­ßen Fen­ster vor der Licht­hal­le die Schrift anzu­brin­gen: »UNSITTEN – Herr Neu­mann, schlie­ßen Sie die­se Aus­stel­lung!« Nichts dar­aus mach­te sich der Direk­tor der Kunst­hal­le Jörg-Uwe Neu­mann, der schon Wer­ke von Künst­lern wie Wer­ner Tüb­ke, Arno Rink, Jo Jastram und Wolf­gang Mattheu­er gezeigt hat­te. Auf eine Umfra­ge der Ost­see-Zei­tung »Darf man die­se Kunst zei­gen?« ant­wor­te­ten 96,3 Pro­zent der Befrag­ten mit: »Ja«. Work­shops lie­fen unter dem Titel »Motiv Mensch. Wil­li Sit­te und Fritz Cremer im Dia­log«. Sie waren gut besucht, wie auch die Ver­an­stal­tung mit dem Kunst­wis­sen­schaft­ler Klaus Tie­de­mann und der Toch­ter Kat­ri­ne Cremer zum The­ma »Künst­le­ri­sche Wahr­haf­tig­keit – Der Bild­hau­er Fritz Cremer«.

In einer Ver­öf­fent­li­chung mit der Über­schrift »Unsit­te« nennt ein Autor namens Sven Hadon, Mit­glied der Ver­ei­ni­gung der Opfer des Sta­li­nis­mus, Sit­te und Cremer »Pro­le­ta­ri­sche Über­men­schen … Sozia­li­sti­sche Hel­den … Stram­me SED-Mit­glie­der«. Die Besu­cher lehn­ten die­se Schrei­be­rei ab, wäh­rend der Histo­ri­ker und Anti­kom­mu­nist Fred Mrot­zek, Lei­ter einer For­schungs- und Doku­men­ta­ti­ons­stel­le zur Geschich­te der Dik­ta­tu­ren in Deutsch­land die Aus­stel­lung als einen Skan­dal bezeich­ne­te. Wie viel Angst muss man vor zwei genia­len, welt­be­kann­ten Alt­mei­stern haben, um sie so zu ver­teu­feln? Hat­ten wir nicht schon ein­mal eine Zeit, die Künst­ler als »ent­ar­tet« brandmarkte?

1993 brach der Maler Georg Base­litz den deutsch-deut­schen Bil­der­streit vom Zaun mit der Fra­ge, ob Staats­kunst über­haupt Kunst sei. 2012 gab es in Wei­mar eine uner­träg­li­che Schau mit DDR-Kunst, die zu einem hand­fe­sten Ärger­nis wur­de. Jetzt set­zen sich Muse­en wie das Bar­be­ri­ni in Pots­dam, die Moritz­burg Hal­le, die Kunst­hal­le Rostock, das Alber­ti­num in Dres­den, das Staat­li­che Muse­um Schwe­rin und das Folk­wang-Muse­um Essen mit die­ser Kunst posi­tiv aus­ein­an­der. Der Frank­fur­ter Kunst­kri­ti­ker Edu­ard Beau­camp äußer­te Unver­ständ­nis für die Ver­bots­for­de­run­gen: Das nut­ze »weder der Kunst noch der Gesell­schaft … Die­se Kunst soll­te man in der Natio­nal­ga­le­rie zei­gen.« Und der Dres­de­ner Histo­ri­ker Reh­berg: »Ver­bie­ten? Das wäre absurd. Wir müs­sen uns damit beschäftigen.«

Der Direk­tor der Kunst­hal­le Rostock ist sprach­los, dass nach 30 Jah­ren noch sol­che Dis­kus­sio­nen nötig sind: »All die Bil­der und Skulp­tu­ren haben ein huma­ni­sti­sches Men­schen­bild und sind ein­fach unfass­bar gut. Außer­dem zei­gen wir die Kunst, nicht die Künst­ler.« Ich den­ke an das uralte Sprich­wort: Die Hun­de bel­len, die Kara­wa­ne zieht wei­ter. Irgend­wie haben Leu­te wie Sven Hadon und Fred Mrot­zek den Anschluss verpasst.

Mich hat die Rostocker Aus­stel­lung begei­stert. Es stimmt fei­er­lich, wie Gemäl­de und Pla­sti­ken in einen Dia­log tre­ten. Von Wil­li Sit­te (1921 – 2013) wer­den Früh­wer­ke der Fünf­zi­ger- und Sech­zi­ger­jah­re aus der Mer­se­bur­ger Sit­te-Gale­rie gezeigt. (Die Sit­te-Stif­tung hat gegen­wär­tig Exi­stenz­pro­ble­me.) Sit­tes Wer­ke sind nach The­men geord­net. Sie wei­sen auf sei­ne Vor­bil­der Léger und Picas­so hin und sind von einer har­mo­ni­schen und zurück­hal­ten­den Far­big­keit. Sein »Pferd mit Schlan­ge« erin­nert an Picas­sos »Guer­ni­ca«. Erschüt­ternd: »Die Mör­der von Koye« (1959). Lei­der ist das Tri­pty­chon »Lidi­ce«, ein wich­ti­ges Werk aus Sit­tes frü­hem Schaf­fen, ver­schol­len; es zeigt die »Ver­gel­tungs­maß­nah­me« der SS für das Atten­tat auf Rein­hard Heyd­rich. 172 Lidi­cer Män­ner wur­den getö­tet, die Frau­en und Kin­der ins KZ ver­schleppt. Eine wei­te­re Serie beschäf­tigt sich mit dem Hoch­was­ser am Po, das auch Gabrie­le Muc­chi inspi­riert hat. Die Wer­ke »Ber­gung« und »Mäd­chen mit Schrank« über­zeu­gen in ihrer Rea­li­stik und Expres­si­vi­tät. Bekannt sind Bil­der zur anti­ken Mytho­lo­gie: »Urteil des Paris«, »Danae« und »Har­py­ien«. In der Ein­gangs­hal­le begrü­ßen uns stark far­bi­ge Gemäl­de aus spä­te­ren Schaf­fens­pha­sen, dar­un­ter »Sie­ger«, ein Werk, das auch in der Kas­se­ler docu­men­ta aus­ge­stellt war. Die frü­hen Arbei­ten zei­gen eine wenig bekann­te Pha­se im Schaf­fen Sit­tes. Sei­ne kraft­vol­len Dar­stel­lun­gen von Lie­bes­paa­ren, Sport­lern, Men­schen aus dem All­tag sind eher bekannt. Der ein­fäl­ti­ge Spruch: »Lie­ber vom Leben gezeich­net, als von Sit­te gemalt« beschämt im Ange­sicht sei­nes Gesamt­werks. In der Früh­pha­se sei­nes Schaf­fens war Sit­te hef­ti­gen Angrif­fen wegen eines angeb­li­chen For­ma­lis­mus aus­ge­setzt. Als eigen­wil­li­ger Künst­ler und Mit­glied der »Vie­rer­ban­de« (Sit­te, Tüb­ke, Hei­sig, Mattheu­er) ist er über Län­der­gren­zen hin­aus bekannt.

Fritz Cremer (1906 – 1993) ver­bin­det mit Wil­li Sit­te ein anti­fa­schi­sti­sches Enga­ge­ment und ein Bekennt­nis zum Sozia­lis­mus. Sei­ne Mahn­ma­le für die Opfer des Faschis­mus – unter ande­rem das Buchen­wald­denk­mal von 1958 – sind welt­be­kannt. Auch in Ungarn und Öster­reich ste­hen sei­ne Denk­ma­le. Für mehr künst­le­ri­sche Frei­heit rief er 1964 in einer Rede zur Abkehr von der ein­engen­den Dok­trin des Sozia­li­sti­schen Rea­lis­mus auf; das hat­te nichts mit einer Abkehr von sei­ner sozia­li­sti­schen Hal­tung zu tun. Die Pla­stik »Auf­stei­gen­der« – ein Geschenk der DDR an die Ver­ein­ten Natio­nen in New York (ein Zweit­guss steht vor der Rostocker Kunst­hal­le) – löste Dis­kus­sio­nen aus. Zu bestau­nen sind Por­trät­bü­sten unter ande­rem von Ber­tolt Brecht, Gabrie­le Muc­chi und eine Sta­tu­et­te von Hanns Eis­ler. Cremers Lie­be zum Men­schen ver­kör­pern Klein­pla­sti­ken wie »Müt­ter« oder »Sor­gen­de Frau­en«, die an Bar­lach erin­nern. Mich begei­stern auch sei­ne sen­si­blen Zeich­nun­gen, hier zum ersten Mal zu sehen.

Gemäl­de und Pla­sti­ken füh­ren ein Zwie­ge­spräch in der her­vor­ra­gend kon­zi­pier­ten und gestal­te­ten Aus­stel­lung, die man sich nicht ent­ge­hen las­sen sollte.

Die Aus­stel­lung ist noch bis zum 10. März in der Kunst­hal­le Rostock zu sehen (Ham­bur­ger Stra­ße 40, 18069 Rostock, geöff­net Di. bis So. 11-18 Uhr, Ein­tritt 12 €).