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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Keine Zukunft in der EU?

»Auf die Fra­ge ›Habt ihr eine Zukunft für mich?‹ bleibt lei­der nur zu sagen: ›Nein, aber magst du eine Ziga­ret­te?‹ Mit die­sem ernüch­tern­den Satz beschrei­ben Frei­wil­li­ge des S.O.S.-Teams Veli­ka Kla­duša die Lage in der bos­ni­schen Grenz­stadt am Über­gang zum EU-Mit­glieds­staat Kroa­ti­en. Veli­ka Kla­duša liegt im Kan­ton Una Sana, am nord­west­lich­sten Punkt Bos­ni­ens vor den Gren­zen der EU. Allein in die­ser Klein­stadt mit ihren 40.000 Einwohner*innen leben über tau­send Leu­te auf der Rei­se (eng­lisch: »peo­p­le on the move«), im gan­zen Kan­ton wer­den es min­de­stens vier­tau­send sein. Sie war­ten auf eine Gele­gen­heit, in die EU zu gelan­gen und dort Asyl zu beantragen.

Die Inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM) hat ein leer­ste­hen­des Fabrik­ge­bäu­de des Fen­ster­her­stel­lers Miral als Camp her­ge­rich­tet, doch die hygie­ni­schen Zustän­de sind schwie­rig. Die dort Leben­den kla­gen dar­über, dass es kein war­mes Essen gibt, kei­ne Mög­lich­keit, Wäsche zu waschen – und Klei­dung ist Man­gel­wa­re. Ohne schrift­li­che Geneh­mi­gung der IOM in Sara­je­vo darf man das Camp nicht betre­ten. Spricht man IOM-Per­so­nal an der Ein­gangs­kon­trol­le auf die Kla­gen an, wer­den die­se als »inof­fi­cal rumours« zurückgewiesen.

Finan­ziert wird das IOM-Camp von der EU – was nur logisch ist, denn gemäß der Dub­lin-III-Ver­ord­nung der EU ist der­je­ni­ge Staat ver­pflich­tet, das Asyl­ver­fah­ren durch­zu­füh­ren, in dem eine asyl­su­chen­de Per­son zum ersten Mal die EU-Gren­zen pas­siert. Das wäre nach Über­que­rung die­ser Gren­ze der kroa­ti­sche Staat, doch es gibt kei­ne Berich­te, nach denen es grenz­über­tre­ten­den Per­so­nen gelun­gen wäre, Asyl zu bean­tra­gen. Beson­ders kri­tisch ist die Lebens­si­tua­ti­on, wenn Leu­te nach ver­such­tem Grenz­über­tritt durch­nässt, zer­schla­gen, ohne Geld und mit zer­stör­tem Han­dy zurückkommen.

Die Mit­ar­bei­ter des Pro­jekts »Bor­der vio­lence moni­to­ring« doku­men­tie­ren ille­ga­le Zurück­wei­sun­gen von Men­schen an der Außen­gren­ze der EU nach Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na, und nach ihrem Report vom 16. Dezem­ber 2018 wur­den von ver­schie­de­nen Sei­ten schwe­re Vor­wür­fe gegen Beam­te der kroa­ti­schen Grenz­po­li­zei erho­ben. Die inter­na­tio­na­le Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on Save the Child­ren ver­öf­fent­lich­te am 24. Dezem­ber einen Bericht, dem zufol­ge Hun­der­te von Kin­dern an den Außen­gren­zen der EU von Poli­zei­ge­walt bei ver­such­tem Grenz­über­tritt berich­ten (https://t1p.de/stc-100e).

Frei­wil­li­ge des Bor­der-Vio­lence-Moni­to­ring-Teams berich­ten in Veli­ka Kla­duša von per­fi­den Fal­len, die mit Hil­fe von gefass­ten Grenz­über­tre­ten­den den Über­tritts­hel­fern gestellt wur­den: Unter der Vor­spie­ge­lung, anschlie­ßend einen Asyl­an­trag stel­len zu dür­fen, wur­den Auf­ge­grif­fe­ne dazu gebracht als Lock­vo­gel zu die­nen. Als sie dann im Gericht aus­sa­gen soll­ten und ver­mu­te­ten, nun ihren Asyl­an­trag stel­len zu dür­fen, wur­den sie über ihren »Irr­tum« auf­ge­klärt: Sie waren nur als Zeu­gen gefragt und wur­den nach der Aus­sa­ge durch einen Fluss über die Gren­ze nach Bos­ni­en zurück­ge­scho­ben. Man kann sich leicht aus­ma­len, was ihnen blüht, wenn die ver­ur­teil­ten Hel­fer nach Ver­bü­ßung ihrer kur­zen Haft­stra­fe wie­der in Bos­ni­en sind.

Seit letz­tem Jahr ist ein S.O.S.-Team aus Frei­wil­li­gen in Veli­ka Kla­duša aktiv und ver­teilt gespen­de­te Klei­dung und Schu­he, aber auch von Spen­den gekauf­te Wäsche und Socken an Leu­te auf der Rei­se. Ein klei­ner Kel­ler­raum mit weni­gen Rega­len dient als »Free­Shop«. Men­schen, die von einer gewalt­sa­men Zurück­wei­sung (»push­back«) kom­men, wer­den als Not­fall sofort ver­sorgt; anson­sten kön­nen sich Neu­an­kömm­lin­ge jeden Mitt­woch und Sams­tag für die Aus­ga­be­zei­ten an den ande­ren Werk­ta­gen regi­strie­ren las­sen. Immer nur drei oder vier sind dann gleich­zei­tig im Raum, damit kein Gedrän­ge ent­steht und der klei­ne Kel­ler­raum zumin­dest für eine gewis­se Zeit eine der weni­gen Ruhe­oa­sen auf der hek­ti­schen und gefähr­li­chen Rei­se wer­den kann.

Ober­halb befin­det sich das klei­ne Restau­rant des Bos­ni­ers Latan. Für vier­hun­dert Men­schen kochen er und sein Team jeden Mit­tag eine war­me Mahl­zeit nach dem Mot­to: »Im Krieg ist hier nie­mand ver­hun­gert, also soll auch jetzt nie­mand Hun­ger lei­den.« Ehe­mals neun Jah­re Kell­ner in einem Restau­rant in Deutsch­land, war Latan mit sei­ner Fami­lie wäh­rend des Bos­ni­en­krie­ges hier in Veli­ka Kla­duša fünf Tage von jeg­li­cher Ver­sor­gung abge­schnit­ten. Kei­ne Kriegs­par­tei fühl­te sich für die Ver­sor­gung der Zivil­be­völ­ke­rung der Stadt zustän­dig. Vor einem Jahr begann Latan, freie Mahl­zei­ten für Durch­rei­sen­de aus Syri­en, dem Irak oder Afgha­ni­stan aus­zu­ge­ben – als dann nach und nach sei­ne zah­len­den Gäste weg­blie­ben, wur­de nur mehr für die »Leu­te auf der Rei­se« gekocht, not­dürf­tig finan­ziert aus Spen­den- und Stiftungsmitteln.

Neben­an wird das S.O.S.-Team um medi­zi­ni­sche Erst­ver­sor­gung gebe­ten, denn die medi­zi­ni­sche Hil­fe des »Danish Refu­gee Coun­cil« im Camp Miral oder eine Behand­lung im loka­len Kran­ken­haus bekommt nur, wer dort regi­striert ist. Doch man­che unter­las­sen die Regi­strie­rung, weil sie die damit ein­her­ge­hen­de Bestim­mung ihres Auf­ent­halts­or­tes ver­mei­den wol­len, oder sie wer­den wegen Über­fül­lung nicht auf­ge­nom­men. Sie müs­sen sich eine Unter­kunft in der Stadt oder ihrer Umge­bung suchen, sind damit aber ganz ohne medi­zi­ni­sche Versorgung.

Seit Anfang Febru­ar 2019 berich­ten die Frei­wil­li­gen des S.O.S.-Teams Veli­ka Kla­duša von ras­si­sti­schen Angrif­fen auf die »Leu­te auf der Rei­se«, bei denen ihre letz­te Bar­schaft und mit dem Han­dy auch die Ver­bin­dung zur Fami­lie in Gefahr sei. Die Lage wer­de immer schwie­ri­ger. Neue Frei­wil­li­ge für min­de­stens zwei Wochen wer­den gesucht, aber die jet­zi­gen sagen auch ganz klar: »Wir kön­nen weder ret­ten noch gro­ße Ver­än­de­run­gen her­bei­füh­ren. Das ist kein Ort für Held*innen. Unse­re Auf­ga­be besteht dar­in, den Men­schen hier mit Wür­de zu begeg­nen und mit ihnen den Zustand unse­rer Welt, der hier einen Herd der Grau­sam­keit geschaf­fen hat, aus­zu­hal­ten.« (https://t1p.de/SOS-VK)

Nicht nur im Mit­tel­meer und in der Ägä­is hat die EU unsicht­ba­re Mau­ern gegen Geflüch­te­te errich­tet, auch auf dem Bal­kan wird eine – offen­bar gewalt­sa­me – Abschot­tungs­po­li­tik betrie­ben. Dun­ja Mija­to­vić, Men­schen­rechts­kom­mis­sa­rin des Euro­pa­ra­tes, hat eben­falls schon gegen die dor­ti­ge Poli­zei­ge­walt pro­te­stiert und Unter­su­chun­gen gefor­dert, wie https://www.borderviolence.eu/blog/​ schreibt.

Zuletzt haben Auto­ri­tä­ten des Kan­tons Una Sana gedroht, hier regi­strier­te »Leu­te auf der Rei­se« nach Sara­je­vo zu ver­brin­gen, wenn die Zen­tral­re­gie­rung die Unter­brin­gung in den Orten des Kan­tons nicht unter­stützt. Das wäre eine wei­te­re erheb­li­che Erschwer­nis und Gefähr­dung der­je­ni­gen Men­schen, die einen EU-Staat suchen, der es ihnen gewährt, Asyl auch nur zu bean­tra­gen (https://t1p.de/usk-ultim). Any future?

Anfra­gen zur Mit­ar­beit im S.O.S.-Team bit­te auf Eng­lisch an soskladusa@gmail.com richten.