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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Pass für alle Fälle

Sie sind immer für eine Über­ra­schung gut, unse­re eng­li­schen Freun­de. Als man auf dem Kon­ti­nent das Wort »Brexit« nicht mehr hören konn­te, weil das Unter­haus erst die Regie­rung, dann sich selbst blockier­te, ging plötz­lich alles ganz schnell: Wuschel-Pre­mier Boris John­son ruft Neu­wah­len aus, Labours Jere­my Cor­byn zieht über Nacht mit, und alle atmen befreit auf: Alles wird gut!

Na ja, wir wol­len mal auf dem Tep­pich blei­ben. Als im Jahr 2016 David Came­ron arg­los ein Refe­ren­dum über den Ver­bleib des Ver­ei­nig­ten König­reichs in der EU vom Zaun brach, hat­te er mit einem kla­ren Ja sei­ner Lands­leu­te gerech­net. Die ent­schie­den sich gegen­tei­lig. Danach ver­han­del­te die neue Pre­mier­mi­ni­ste­rin The­re­sa May end­los in Brüs­sel und hat­te nach ver­lo­re­ner Wahl auch noch die Nord­iren im Genick, von deren par­la­men­ta­ri­scher Unter­stüt­zung sie abhing.

Spä­te­stens jetzt wur­den vie­le Men­schen unru­hig, die gleich­sam zwei Wel­ten ange­hö­ren, Insel und Kon­ti­nent. Geht die Frei­zü­gig­keit zum Teu­fel? Kann ich in Zukunft noch pro­blem­los mei­ne Lie­ben in der ande­ren Welt besu­chen? Und bald las man in den Zei­tun­gen, dass sich vie­le poten­ti­ell Betrof­fe­ne um Ein­bür­ge­rung und Päs­se bemüh­ten. You never know …

In Swan­ley (Graf­schaft Kent) ent­schloss sich mei­ne Freun­din Inge N., bei der Deut­schen Bot­schaft in Lon­don ihre Chan­cen auf Wie­der­ein­bür­ge­rung zu ergrün­den. Sie hat­te Ende der 1950er Jah­re einen Eng­län­der geehe­licht, der als Inge­nieur an einem gehei­men Rüstungs­pro­jekt mit­ar­bei­te­te. Den Job hät­te er mit einer deut­schen Ehe­frau auf­ge­ben müs­sen. So ließ sich die Gute ein­bür­gern. Nun schick­te ihr die lie­bens­wür­di­ge Bot­schaft einen Hau­fen Papier und warn­te, bei dem Andrang der »Rück­keh­rer« kön­ne es schon mal zwei Jah­re dau­ern. Tat es dann aber nicht, weil Urkun­den und Nach­wei­se kom­plett und die leb­haf­ten Bezie­hun­gen zum alten Hei­mat­land breit doku­men­tiert waren. Nach gut einem Drei­vier­tel­jahr erfolg­te die Wiedereinbürgerung.

Dann kommt der gro­ße Tag: Der Pass wird abge­holt! Eine hal­be Stun­de vor Öff­nung der Bot­schaft steht eine lan­ge Schlan­ge vor dem Neben­ein­gang. Es ist ein bun­tes Völk­chen, nach Tracht und Aus­se­hen aus vie­len Län­dern auf­ge­lau­fen. Irgend­wann sind wir dran. Inge legi­ti­miert sich mit ihrem zwei­ten – eng­li­schen – Pass. Dar­in liegt eine deut­sche Kenn­kar­te ohne Bild aus den spä­ten Vier­zi­gern. Die Secu­ri­ty-Frau­en – eine far­bi­ge Eng­län­de­rin und eine blut­jun­ge deut­sche Bun­des­po­li­zi­stin – bestau­nen das unge­wöhn­li­che histo­ri­sche Doku­ment. Sie stau­nen noch mehr, als ich ihnen erklä­re, dass der Geburts­ort der Antrag­stel­le­rin, Wangerin/​Kreis Regen­wal­de (Pom­mern), seit Kriegs­en­de zu Polen gehört. Die Welt ist vol­ler Wunder.

Deutsch­land hat eine Bür­ge­rin mehr. Das wird abends mit Rot­wein begos­sen. Und ich muss mal gucken, wie ich zu einem eng­li­schen Pass kom­me. Viel­leicht kriegt man so was im Darknet.