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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Elite vertraut dem Staat

Georg Ram­mer Eli­te ver­traut dem Staat

 

Die Bun­des­re­gie­rung hat eine gro­ße Umfra­ge in Auf­trag gege­ben, um die Ursa­chen für schwin­den­des Ver­trau­en zum Staat zu ergrün­den. Die wich­tig­sten Fra­gen: Hal­ten Sie es für demo­kra­tisch, wenn Groß­kon­zer­ne und Finanz­in­ve­sto­ren wie Black­Rock, Ama­zon und Apple mehr Ein­fluss auf die Poli­tik haben als der Sou­ve­rän, also das Volk? Tun Bun­des­re­gie­rung und Par­tei­en genug für sozia­le Gerech­tig­keit und gegen Ungleich­heit? Sol­len Gesund­heit, Bil­dung und Mie­ten wei­ter­hin dem Gewinn­stre­ben pri­va­ter Inve­sto­ren aus­ge­lie­fert blei­ben? Halt, das sind natür­lich Fake News – die Regie­rung wird sich hüten, eine sol­che Befra­gung durch­zu­füh­ren: Sie kennt das zu erwar­ten­de Ergebnis.

»Die Ver­trau­ens­kri­se des Staa­tes«: Unter die­sem Titel befass­te sich Mar­cel Fratz­scher, Lei­ter des Deut­schen Insti­tuts für Wirt­schafts­for­schung (DIW), mit dem Ver­hält­nis der Bevöl­ke­rung zum Staat und sei­nen Insti­tu­tio­nen (zeit.de, 31.1.2020). Auf der Grund­la­ge der Daten der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­agen­tur Edel­mann (»Ver­trau­ens­in­dex«) stell­te er fest, dass »die west­li­che Welt eine zuneh­men­de Ver­trau­ens­kri­se des Staa­tes erlebt und immer weni­ger Men­schen ihren staat­li­chen Insti­tu­tio­nen zutrau­en, die Pro­ble­me unse­rer Zeit zu lösen«. Erschreckend sei der gro­ße Ver­trau­ens­ver­lust gegen­über Kom­pe­tenz und ethi­schem Ver­hal­ten von Poli­ti­kern – beson­ders in Deutschland.

Betrach­tet man Schwer­punk­te und aktu­el­le Ent­wick­lun­gen der deut­schen Regie­rungs­po­li­tik und das Agie­ren ihres Per­so­nals, stellt sich weni­ger die Fra­ge, woher das Miss­trau­en rührt. Viel­mehr drängt sich der Ein­druck auf, dass wenig davon zu der Über­zeu­gung Anlass geben könn­te, die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen wür­den Pro­ble­me im Sin­ne des Gemein­wohls lösen. Ohne­hin sind sie der­zeit mit selbst ver­schul­de­ten Skan­da­len ausgelastet.

Da ist zum Bei­spiel die Affä­re um Phil­ipp Amt­hor. Der CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te hat Lob­by-Arbeit für das US-Unter­neh­men Augu­stus Intel­li­gence (AI) betrie­ben und dafür einen Direk­to­ren­po­sten und Akti­en­op­tio­nen ange­nom­men. All­mäh­lich hat sich das Staats­volk an sol­che Inter­es­sen-Ver­quickun­gen dies­seits und jen­seits justi­tia­bler Kor­rup­ti­on gewöhnt. Der Abge­ord­ne­te Amt­hor räumt einen Feh­ler ein, trägt aber nichts zur Auf­klä­rung bei. Bis­lang weiß nie­mand genau, was AI als Unter­neh­men der KI-Bran­che betreibt; nichts wird ersicht­lich in der knap­pen Selbst­dar­stel­lung über Zie­le (»Daten­lö­sun­gen zum Nut­zen der Mensch­heit«) und Mit­ar­bei­ter. Was macht es so attrak­tiv für – vor­sich­tig for­mu­liert – umstrit­te­ne Spit­zen deut­scher Poli­tik und Geheim­dien­ste: für Ex-Mini­ster Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg und die Ex-Geheim­dienst­chefs Hans-Georg Maa­ßen (BfV) und August Han­ning (BND)? Die Poli­ti­ke­rin der Links­par­tei Mar­ti­na Ren­ner äußert den Ver­dacht, bei AI könn­te es sich um eine Tarn­fir­ma eines Geheim­dien­stes han­deln. Auf die Auf­ar­bei­tung darf man gespannt sein. Seit Jah­ren wird ein Lob­by­re­gi­ster gefor­dert, um den außer­de­mo­kra­ti­schen Ein­fluss mäch­ti­ger Akteu­re in Wirt­schaft und Medi­en wenig­stens erfas­sen zu kön­nen; eben­so beharr­lich stellt sich die CDU einer sol­chen mini­ma­len Kon­trol­le von Lob­by­isten in der Poli­tik entgegen.

Auch im Fall men­schen­ver­ach­ten­der, skru­pel­lo­ser Pro­fit­gier heu­chelt die Regie­rung Betrof­fen­heit und ethi­sche Kom­pe­tenz: Der Chef des Fleisch­kon­zerns Tön­nies hat bis­lang über 1500 an Covid-19 erkrank­te Mit­ar­bei­te­rIn­nen zu ver­ant­wor­ten. Poli­ti­ker wie der nord­rhein-west­fä­li­sche Mini­ster­prä­si­dent Armin Laschet scho­ben die Schuld rumä­ni­schen Wan­der­ar­bei­tern zu. Die­se Abwäl­zung poli­ti­scher Ver­ant­wor­tung ist eben­so infam wie typisch. Denn seit vie­len Jah­ren sind Werk­ver­trä­ge, der rui­nö­se Preis­kampf, die skla­ve­rei­ähn­li­chen Arbeits­be­din­gun­gen in deut­schen Schlacht­häu­sern bekannt und poli­tisch tole­riert. Spe­zi­ell über Tön­nies, Euro­pas größ­ten Pro­du­zen­ten von Bil­lig­fleisch, konn­te man schon mehr­fach lesen, wie er Tau­sen­de ost­eu­ro­päi­scher Wan­der­ar­bei­ter aus­ge­beu­tet hat. Nie zogen Legis­la­ti­ve oder Exe­ku­ti­ve die not­wen­di­gen Kon­se­quen­zen – ganz im Gegen­teil. Tön­nies wur­de zwar ille­ga­ler Preis­ab­spra­chen und der Steu­er­hin­ter­zie­hung mit Cum-Ex-Geschäf­ten beschul­digt; einer Stra­fe ent­ging der Kon­zern jedoch durch juri­sti­sche Spitz­fin­dig­kei­ten. Nur jede/​r drit­te Mit­ar­bei­te­rIn wird nach Tarif beschäf­tigt, die Mehr­heit arbei­tet auf der Grund­la­ge von Werk­ver­trä­gen. Der Min­dest­lohn steht nur auf dem Papier; Mie­te, Arbeits­klei­dung und Trans­port zur Arbeit wer­den bei Sub­un­ter­neh­men häu­fig vom Mini­mum abge­zo­gen. Impor­tiert wur­den also Bil­lig­ar­bei­ter, expor­tiert Bil­lig­fleisch. Der Publi­zist Wer­ner Rüge­mer stellt fest: Ein »dau­er­haf­ter, flä­chen­decken­der Rechts­bruch«, der poli­tisch zu ver­ant­wor­ten ist.

Als die Links­par­tei Anfang März eine par­la­men­ta­ri­sche Anfra­ge zu den Ver­hält­nis­sen in den Schlacht­hö­fen an die Regie­rung rich­te­te, kam eine ent­lar­ven­de Ant­wort: Sie habe kei­ne Erkennt­nis­se über den Anteil der Werk­ver­trä­ge, über die Arbeits­be­din­gun­gen, über die Unter­neh­men, die auf der Grund­la­ge von Werk­ver­trä­gen arbei­ten, über die Zahl von Kon­trol­len. Wie ver­trau­ens­wür­dig ist eine sol­che Poli­tik? Übri­gens ist die Fir­ma Tön­nies kei­nes­wegs der ein­zi­ge Coro­na-Hot­spot: Erkran­kun­gen der Arbei­te­rIn­nen gab es auch bei Mül­ler­fleisch in Bir­ken­feld, beim West­fleisch­werk in Coes­feld und ande­ren – zusam­men schät­zungs­wei­se 2500 Erkrank­te. Wer über­nimmt die Ver­ant­wor­tung, wer ent­schä­digt die Aus­ge­beu­te­ten? Die ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­ker, die sol­che Ver­hält­nis­se zulas­sen und för­dern, empö­ren sich lie­ber öffent­lich­keits­wirk­sam über eine geschmack­lo­se Sati­re in der tages­zei­tung, in der Poli­zi­sten auf den Müll gewor­fen wer­den soll­ten, als dar­über, dass Men­schen tat­säch­lich so behan­delt werden.

Der­glei­chen »Affä­ren« wer­den von Poli­ti­ke­rIn­nen zer­re­det und Schein­lö­sun­gen zuge­führt, durch neue über­la­gert, also bald ver­ges­sen. Man kommt kaum hin­ter­her: Rech­te Netz­wer­ke brei­ten sich aus in Bun­des­wehr, Poli­zei und Geheim­dien­sten; Black­Rock berät die EU; Kon­zer­ne berei­ten Kla­gen gegen Staa­ten wegen coro­nabe­ding­ter Ver­lu­ste vor – die Rei­he täg­li­cher Berich­te über empö­ren­de Unge­rech­tig­kei­ten und Bedro­hun­gen ist schier end­los. Gera­de mel­den die Medi­en bereits die näch­sten Betrü­ge­rei­en: Der Finanz­dienst­lei­ster Wire­card ließ 1,9 Mil­li­ar­den Euro ver­schwin­den, unter den Augen der Kon­troll­be­hör­de, der Bun­des­an­stalt für Finanz­dienst­lei­stungs­auf­sicht (BaFin), und der zustän­di­gen Poli­ti­ker. Übri­gens: Das Ver­mö­gen der Super­rei­chen ist in und durch die Pan­de­mie glo­bal von März bis Mai um sat­te 434 Mil­li­ar­den Dol­lar gewach­sen. Neue Mel­dung: Die Alters­ar­mut steigt. Die Bil­dungs­be­nach­tei­li­gung ärme­rer Kin­der laut Bil­dungs­be­richt auch – na und? Sie sind nicht system­re­le­vant. Nie­mand von den Pro­fi­teu­ren und Ver­ant­wort­li­chen hat Skru­pel, emp­fin­det Schuld­ge­füh­le. War­um auch: Das ist doch das System, in dem wir leben!

Wäh­rend Armut und Ungleich­heit wei­ter mas­siv wach­sen, die Daseins­für­sor­ge schrumpft und statt­des­sen Rüstungs­kon­zer­nen groß­vo­lu­mi­ge Auf­trä­ge zuge­schanzt wer­den, wird offen­bar, wie wenig Men­schen zäh­len, ihr Leben, ihre Gesund­heit, ihre Absi­che­rung. Und wie ver­ächt­lich die­je­ni­gen behan­delt wer­den, die nicht zur Eli­te zäh­len. Die Covid-19-Kran­ken in den Göt­tin­ger Armen-Hot­spots sind nach offi­zi­el­len Ver­laut­ba­run­gen von Poli­ti­ke­rIn­nen selbst schuld an der Ansteckung, sie wer­den von Bun­des­wehr­sol­da­ten bewacht. Genau­so erging es Hun­der­ten erkrank­ter Flücht­lin­ge in ihren Lagern. Als wäre all das kei­ne Gewalt, die sofort Gegen­maß­nah­men erfor­dern wür­de. Sol­che wer­den aber mit laut­star­ker Empö­rung und Dro­hung in Stutt­gart gefor­dert, nach den Kra­wal­len, bei denen auch Poli­zi­sten ange­grif­fen wur­den. Selbst­ver­ständ­lich sind Kra­wal­le kri­tik­wür­dig, zumal sie die Lage der Ent­rech­te­ten eher ver­schlim­mern. Aber wo bleibt die Ursa­chen­for­schung, das ehr­li­che Nach­den­ken über die Lebens­rea­li­tät jun­ger Leu­te, die immer weni­ger Ver­an­las­sung haben, Ver­trau­en zu staat­li­chen Insti­tu­tio­nen zu hegen?

Der ein­gangs zitier­te »Ver­trau­ens­in­dex« könn­te wei­te­ren Stoff zum Nach­den­ken lie­fern: Im rei­chen Deutsch­land ist die sozia­le Ungleich­heit höher als in den mei­sten Indu­strie­län­dern – aber die Auf­stiegs­chan­cen durch Bil­dung wesent­lich gerin­ger. Jeder Zwei­te hält den Kapi­ta­lis­mus für eine schäd­li­che Gesell­schafts­form, denn er ver­tre­te nicht die Inter­es­sen der Bevöl­ke­rung. Deut­lich wird, dass der Staat nur für die Eli­te gut funk­tio­niert: Die­se hat 50 Pro­zent mehr Ver­trau­en in den Staat und sei­ne Insti­tu­tio­nen als der Durch­schnitt der Bevölkerung!

Die Coro­na-Pan­de­mie hat in aller Deut­lich­keit gezeigt, dass der neo­li­be­ral radi­ka­li­sier­te Kapi­ta­lis­mus den glo­ba­len Pro­ble­men nicht gerecht wird. Ihm gel­ten Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te als Geschäfts­schä­di­gung und als Waf­fe, die man gegen Chi­na in Anschlag brin­gen kann. Auf Ein­sicht der Macht­eli­ten zu hof­fen und men­schen­wür­di­ge Kon­se­quen­zen – etwa gerech­te Ver­tei­lung der Reich­tü­mer, fried­li­che Lösun­gen von Kon­flik­ten, Kon­trol­le wirt­schaft­li­cher Macht – zu erwar­ten, wäre voll­kom­men unrea­li­stisch. Bereits jetzt arbei­ten die Kon­zern­lob­by­isten dar­an, jede Beschrän­kung ihrer Pro­fi­te und ihrer Macht zu ver­hin­dern (vgl. Lob­by­Con­trol: »Die deut­sche EU-Rats­prä­si­dent­schaft: Indu­strie in der Haupt­rol­le?«). Der Staat rüstet auf, nach innen mit neu­en Kon­troll- und Poli­zei­ge­set­zen, nach außen mit mas­si­ver Auf­rü­stung und Droh­ge­bär­den. Ver­trau­en wird durch Gewalt ersetzt. Ver­ges­sen sind schon die system­re­le­van­ten Hel­dIn­nen in Kli­ni­ken und Kitas – sie gehen leer aus bei der Neu­ver­tei­lung. Das »Schwei­ne­sy­stem« von Tön­nies wird zum deut­li­chen Bei­spiel für ein System men­schen­feind­li­cher Aus­beu­tung, der Mil­li­ar­den von Men­schen in der Welt aus­ge­lie­fert sind. Die­ses System und sei­ne Reprä­sen­tan­tIn­nen genie­ßen kein Ver­trau­en mehr; über­zeu­gen­de Alter­na­ti­ven auf­zu­zei­gen ist die Auf­ga­be der Lin­ken. Denn das System muss von Grund auf ver­än­dert wer­den, bevor es uns um die Ohren fliegt.