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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lenin pur

Wer Lenins Gedan­ken über die Wirt­schaft Sowjet­russ­lands und ihre Umge­stal­tung ken­nen­ler­nen will, ohne über zehn Bän­de mit den von ihm nach Okto­ber 1917 ver­fass­ten Schrif­ten und Brie­fen zu stu­die­ren, fin­det in dem Büch­lein des ita­lie­ni­schen Öko­no­men und Finanz­fach­manns Vla­di­mi­ro Giac­ché ein ziem­lich umfas­sen­des Kom­pen­di­um über »Lenins öko­no­mi­sches Den­ken nach der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on« vor. Es besteht wohl schät­zungs­wei­se zu acht­zig Pro­zent aus Zita­ten, dar­un­ter eini­gen weni­gen, die in den deutsch­spra­chi­gen Lenin­aus­ga­ben nicht ent­hal­ten sind. Die die Zita­te ver­bin­den­den Sät­ze geben die zu ihrem nähe­ren Ver­ständ­nis not­wen­di­gen Hin­wei­se über ideo­lo­gi­sche Anläs­se und histo­ri­sche Rah­men­be­din­gun­gen. All das geschieht ohne jede Hagio­gra­phie und ohne die heut­zu­ta­ge übli­che, Lenin als »Vor­gän­ger Sta­lins« denun­zie­ren­de Sicht. Auch gegen­über jenen, die sich nach Lenins Tod bestän­dig auf ihn berie­fen und vor­ga­ben, in sei­nem Sin­ne zu han­deln, ist Giac­ché von gera­de­zu vor­neh­mer Zurück­hal­tung: Die Ent­wick­lung der Sowjet­uni­on nach Lenins Tod »ent­sprach jeden­falls nicht den letz­ten Emp­feh­lun­gen des Grün­ders des Sowjetstaates«.

Was die Zitat­kol­la­gen beson­ders anre­gend macht, ist die Tat­sa­che, dass Lenin vor allem sei­ne eige­ne, aber auch die Poli­tik sei­ner Mit­strei­ter bestän­dig kri­ti­siert hat. In sei­nen Reden und Schrif­ten fehl­te völ­lig der »Tri­um­pha­lis­mus« sei­ner amt­lich bestall­ten Nach­fol­ger. Das ent­hob den Ver­fas­ser zu einem Gut­teil der Auf­ga­be, eine ein­ge­hen­de ana­ly­ti­sche Kri­tik der Lenin­schen Wirt­schafts­po­li­tik zu lie­fern. Wer bedau­ert, dass der Ver­fas­ser die­se nicht sel­ber wei­ter­ge­trie­ben habe, hat sicher recht, soll­te aber zwei­er­lei beden­ken: Zum einen setzt eine sol­che an die Sub­stanz gehen­de, nicht an blo­ßen Erschei­nun­gen ori­en­tier­te Kri­tik eine umfas­sen­de Kennt­nis der ori­gi­nal­spra­chi­gen Quel­len vor­aus (die dem Ver­fas­ser man­gels Sprach­kennt­nis fehlt), zum ande­ren hat­te der Ver­fas­ser ein sehr viel beschei­de­ne­res Resul­tat vor Augen, näm­lich »eine Ent­deckungs­rei­se zu einem öko­no­mi­schen Auf­bau­pro­zess, der vor hun­dert Jah­ren auf uner­forsch­tem Gebiet statt­fand«. Wer ihm auf die »Ent­deckungs­rei­se« folgt, wird viel­leicht auch ein­mal bei Lenin selbst nach­le­sen wollen.

Wer Geschich­te und Gegen­wart zusam­men­denkt, wird nicht ver­wun­dert sein, wie aktu­ell sich man­che Über­le­gun­gen Lenins aus­neh­men – sicher­lich nicht für das in den Schoß des Kapi­tals zurück­ge­kehr­te Ost­eu­ro­pa, wohl aber ange­sichts der andau­ern­den Dis­kus­sio­nen über die chi­ne­si­sche Wirt­schaft und ihren Cha­rak­ter. Die dort vor­han­de­ne »neu­ar­ti­ge Kom­bi­na­ti­on von Plan­wirt­schaft und Markt­wirt­schaft« ist nach Giac­chés Auf­fas­sung »nicht weni­ger ver­blüf­fend, als es ein­mal der Über­gang zur NÖP unter Lenin war. Und auch die Reak­ti­on dar­auf ähnelt der vie­ler Zeit­ge­nos­sen Lenins: Es hand­le sich um eine simp­le Rück­kehr zum Kapi­ta­lis­mus. Die chi­ne­si­sche Füh­rung spricht ihrer­seits von einem ›Sozia­lis­mus mit chi­ne­si­schen Merkmalen‹…«

Schließ­lich sei auf ein Zitat in dem Buch hin­ge­wie­sen, das nicht von Lenin stammt, son­dern vom ehe­ma­li­gen Füh­rer der fran­zö­si­schen Sozia­li­sten (und spä­te­ren Prä­si­den­ten) Fran­çois Mit­ter­rand, und das jeder Wirt­schafts­po­li­ti­ker, gleich wel­cher poli­ti­schen Cou­leur, beher­zi­gen soll­te: »In der Wirt­schaft gibt es zwei Mög­lich­kei­ten. Ent­we­der Sie sind Leni­nist. Oder Sie ändern nichts.« Mit­ter­rand war kein Leni­nist, er änder­te nichts.

Vla­di­mi­ro Giac­ché: »Lenins öko­no­mi­sches Den­ken nach der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on«, über­setzt von Her­mann Kopp, Edi­ti­on Mar­xi­sti­sche Blät­ter 115, Neue Impul­se Ver­lag, 143 Sei­ten, 9,80 €