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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Offene Rechnungen

Als Deutsch­lands Außen­mi­ni­ste­rin Anna­le­na Baer­bock im ver­gan­ge­nen Jahr Grie­chen­land besuch­te, hat sie auch das frü­he­re Fol­ter­ge­fäng­nis der Nazi-Kom­man­dan­tur in Athen besucht und am Holo­caust-Mahn­mal Blu­men nie­der­ge­legt. Mit Blick auf die Nazi-Ver­bre­chen in Grie­chen­land wäh­rend der Zwei­ten Welt­krie­ges sag­te sie: Vie­len Deut­schen sei »Grie­chen­land als Urlaubs­ort sehr ver­traut, aber zu weni­ge wis­sen um das Aus­maß der Schuld, die Deutsch­land dort im Zwei­ten Welt­krieg durch die Gräu­el­ta­ten der NS-Besat­zung auf sich gela­den hat«. Ihr sei wich­tig, die Erin­ne­rung an die­se Ver­bre­chen wach­zu­hal­ten, weil dies die Vor­aus­set­zung einer guten gemein­sa­men Zukunft sei. Wört­lich beton­te sie: »Die Ver­ant­wor­tung für die eige­ne Geschich­te, die ken­nen wir, und die hat für uns kei­nen Schlussstrich.«

Zugleich aber hat Baer­bock – wie bis­lang alle deut­schen Regie­rungs­ver­tre­ter zuvor – Repa­ra­ti­ons- und Ent­schä­di­gungs­for­de­run­gen für die Zer­stö­run­gen und das Leid wäh­rend der deut­schen Besat­zung in den Jah­ren 1941 bis 1944/​45 ent­schie­den zurück­ge­wie­sen. Die­ses The­ma sei abge­schlos­sen. Die grie­chi­sche Regie­rung hat die­ser Behaup­tung post­wen­dend ent­schie­den widersprochen.

Zur Erin­ne­rung: Es war Palm­sonn­tag, der 6. April 1941, als die deut­sche Wehr­macht in Grie­chen­land ein­mar­schier­te, das Land bin­nen weni­ger Wochen unter­warf, ein bru­ta­les Besat­zungs­re­gime errich­te­te und begann, das Land aus­zu­rau­ben. Noch wäh­rend der Kampf­hand­lun­gen wur­den Kom­man­dos zur »Beu­te­er­fas­sung« aktiv. Die Deut­schen »beschlag­nahm­ten Nah­rungs­mit­tel und requi­rier­ten, was ihnen gefiel«, schreibt der bri­ti­sche Histo­ri­ker Mark Mazower in sei­nem Stan­dard­werk »Grie­chen­land unter Hit­ler«. Unge­rührt expor­tier­ten die Deut­schen auch dann noch Nah­rungs­mit­tel ins Reich, als in den grie­chi­schen Städ­ten bereits Zehn­tau­sen­de unter Hun­ger lit­ten. Mit mehr als 100.000 Toten ver­ur­sach­ten sie die schlimm­ste Hun­gers­not im faschi­stisch beset­zen Euro­pa – außer­halb des von den Nazis errich­te­ten KZ-Systems und der spä­ter bela­ger­ten sowje­ti­schen Metro­po­le Lenin­grad. Ver­geb­lich hat­te sogar Mus­so­li­ni bei Hit­ler auf eine Ände­rung der deut­schen Poli­tik gedrängt, die in Grie­chen­land erst­mals die für den Über­fall auf die Sowjet­uni­on ent­wickel­ten Plä­ne für einen Raub- und Ver­nich­tungs­krieg zur Anwen­dung brachte.

Den Grie­chen wur­den maß­lo­se Besat­zungs­ko­sten auf­er­legt. Zu denen gehör­te auch eine Mil­li­ar­de teu­re Zwangs­an­lei­he (»Besat­zungs­kre­dit«). Als die deut­schen Trup­pen sich schließ­lich 1944 aus Grie­chen­land zurück­zie­hen muss­ten, hin­ter­lie­ßen sie »ver­brann­te Erde« und eine ver­elen­de­te Gesell­schaft: syste­ma­tisch zer­stör­ten sie vor ihrem Rück­zug die Infra­struk­tur des Lan­des. 4,8 Pro­zent der damals 6,9 Mil­lio­nen Ein­woh­ner Grie­chen­lands über­leb­ten das deut­sche Besat­zungs­re­gime nicht.

»Es gibt kaum eine Fami­lie in Grie­chen­land, die kei­nen Ver­wand­ten unter den Opfern der Besat­zung zu bekla­gen hät­te, ob erschos­sen, ver­gast, im Wider­stand gefal­len, an Hun­ger und Krank­hei­ten gestor­ben«, berich­tet Aris Radio­pou­los, Bot­schafts­rat im grie­chi­schen Außenministerium.

Der Diplo­mat arbei­te­te von 2011 bis 2018 in der grie­chi­schen Bot­schaft in Ber­lin, also wäh­rend der für die aktu­el­len deutsch-grie­chi­schen Bezie­hun­gen prä­gen­den Zeit der Ban­ken- und Euro­kri­se. Es waren jene Jah­re, als BILD und ande­re deut­sche Medi­en gegen die »Plei­te-Grie­chen« hetz­ten und grie­chi­sche Zei­tun­gen deut­sche Poli­ti­ker mit Hit­ler-Bärt­chen kari­kier­ten. Es war die dra­ma­ti­sche Zeit der soge­nann­ten »Hilfs­pa­ke­te« und »Memo­ran­den«, als vor allem auf deut­schen Druck die »Troi­ka« aus EU, Inter­na­tio­na­lem Wäh­rungs­fonds und Welt­bank der Regie­rung in Athen eine Aus­wei­tung ihrer Staats­schul­den sowie dra­ko­ni­sche sozia­le Kür­zun­gen und die Pri­va­ti­sie­rung öffent­li­cher Güter dik­tier­te, um euro­päi­sche Groß­ban­ken vor der Plei­te zu ret­ten. Auch Deutsch­lands bis heu­te unbe­zahl­te Kriegs­schul­den gegen­über Grie­chen­land wur­den damals zum The­ma einer erbit­ter­ten öffent­li­chen Kon­tro­ver­se, in deren Ver­lauf die Sym­pa­thie­wer­te für Deut­sche in Grie­chen­land abstürzten.

Die­se Aus­ein­an­der­set­zung habe in ihm das Bedürf­nis wach­sen las­sen, »nach den Quel­len zu schau­en«, berich­tet Radio­pou­los. Im Archiv des grie­chi­schen Außen­mi­ni­ste­ri­ums habe er 80.000 grie­chi­sche und 20.000 deut­sche Doku­men­te zur Fra­ge der deut­schen Kriegs­schul­den gesich­tet. Das Ergeb­nis sei­ner Stu­di­en hat Radio­pou­los 2019 in Athen ver­öf­fent­licht. Seit Ende 2022 liegt sei­ne Quel­len­edi­ti­on auch in deut­scher Über­set­zung im Metro­pol-Ver­lag vor: »Die grie­chi­schen Repa­ra­ti­ons­for­de­run­gen gegen­über Deutsch­land. Archiv­do­ku­men­te des grie­chi­schen Außen­mi­ni­ste­ri­ums«. Radio­pou­los hat das 600 Sei­ten star­ke Buch Anfang des Jah­res im Rah­men einer Vor­trags­rei­se in meh­re­ren deut­schen Städ­ten vorgestellt.

Minu­ti­ös beschreibt er auf Basis von 112 im Buch ver­öf­fent­lich­ten Doku­men­ten, die auf 350 Sei­ten prä­sen­tiert wer­den, die ver­schie­de­nen Etap­pen der grie­chi­schen Repa­ra­ti­ons­for­de­run­gen aus dem Zwei­ten Welt­krieg gegen­über Deutsch­land. Begin­nend mit der Pari­ser Repa­ra­ti­ons­kon­fe­renz 1945, die den Grie­chen eine Kriegs­ent­schä­di­gung in Höhe von rund 7,5 Mil­li­ar­den US-Dol­lar zuge­spro­chen hat, prä­sen­tiert er erst­mals in deut­scher Spra­che die grie­chi­sche Sicht der For­de­run­gen und nimmt die Stra­te­gien, Argu­men­te und Zie­le bei­der Sei­ten unter die Lupe.

Er zeigt, dass das Haupt­au­gen­merk der deut­schen Regie­run­gen im Fall der Kriegs­re­pa­ra­ti­ons­fra­ge auf die finan­zi­el­le Kom­po­nen­te aus­ge­rich­tet war. Das ein­deu­ti­ge deut­sche Ziel war die Ver­mei­dung von ange­mes­se­nen Repa­ra­ti­ons­sum­men bis hin zur voll­stän­di­gen Ableh­nung jeg­li­cher Zah­lun­gen. Für die­ses Ziel wur­den diver­se Tak­ti­ken ange­wen­det und kon­stru­ier­te Begrün­dun­gen bemüht. Das gän­gig­ste Argu­ment in den ersten bei­den Nach­kriegs­jahr­zehn­ten war, dass die grie­chi­sche Sei­te von ihren For­de­run­gen zurück­ge­tre­ten sei. In den 1960er Jah­ren scheu­ten sich hoch­ran­gi­ge Regie­rungs­be­am­te auch nicht, Unwahr­hei­ten über grie­chi­sche Diplo­ma­ten und Poli­ti­ker zu ver­brei­ten, um eine inner­grie­chi­sche Aus­ein­an­der­set­zung zu ent­fa­chen und die Auf­merk­sam­keit von der Ein­for­de­rung der Repa­ra­tio­nen abzulenken.

Als die Behaup­tung des ver­meint­lich per­sön­lich zuge­si­cher­ten Rück­tritts von den For­de­run­gen nicht zum Erfolg führ­te, wur­de auf das Lon­do­ner Schul­den­ab­kom­men von 1953 ver­wie­sen, wonach die Repa­ra­ti­ons­fra­ge zumin­dest ver­tagt wur­de. Die­se Tak­tik prak­ti­zier­ten die deut­schen Regie­run­gen bis zum Fall der Mauer.

Unmit­tel­bar danach wech­sel­te die deut­sche Sei­te ihre zyni­sche Argu­men­ta­ti­on: Jetzt war es für Repa­ra­tio­nen angeb­lich zu spät, bezie­hungs­wei­se mit dem Zwei-plus-vier-Ver­trag habe sich die Fra­ge juri­stisch erledigt.

Behaup­tun­gen, Athen habe in der Ver­gan­gen­heit auf sei­ne For­de­run­gen ver­zich­tet, weist Radio­pou­los mit Ver­weis auf die Archiv­do­ku­men­te zurück: Nicht eine grie­chi­sche Regie­rung sei in der Nach­kriegs­zeit von irgend­ei­nem Aspekt des Repa­ra­ti­ons­kom­ple­xes zurück­ge­tre­ten. Das unter­streicht im Vor­wort zum Buch auch der grie­chi­sche Staats­prä­si­dent a. D., Prof. em. Pro­ko­pi­os Pav­lo­pou­los: Nicht ein­mal die grie­chi­sche Mili­tär­dik­ta­tur in der Zeit von 1967 bis 1974 habe einen sol­chen Ver­zicht gewagt; auch bei dem durch Zwang und Erpres­sung dem Drit­ten Reich gewähr­ten Besat­zungs­kre­dit, den zurück­zu­zah­len die Bun­des­re­gie­rung sich bis heu­te wei­gert, kön­ne von Ver­zicht oder Ver­jäh­rung kei­ne Rede sein. Ein­deu­tig han­de­le es sich bei dem Kre­dit um ein »ver­trag­li­ches Schuld­ver­hält­nis«. Offen sei ledig­lich die Berech­nung der Gesamt­schuld, die Höhe der Ver­zugs­zin­sen auf­grund der nicht frist­ge­rech­ten Til­gung, mit der das Nazi-Regime damals immer­hin schon begon­nen hatte.

Wie Radio­pou­los rät auch Pav­lo­pou­los, die ver­bürg­ten grie­chi­schen Ansprü­che auf der Basis des Völ­ker­rechts inter­na­tio­nal zum The­ma zu machen. Bis­lang hät­ten die grie­chi­schen Regie­run­gen kei­ne syste­ma­tisch orga­ni­sier­ten Bemü­hun­gen unter­nom­men, um die Fra­ge in Grie­chen­land selbst als auch im Aus­land wei­ter­zug­brin­gen. Der Welt­öf­fent­lich­keit sei bis heu­te das »Aus­maß der Kata­stro­phe, die die deut­sche Besat­zung über Grie­chen­land brach­te, noch viel zu wenig bekannt«. Auch gel­te es, schreibt Radio­pou­los, die deut­sche Gesell­schaft zu sen­si­bi­li­sie­ren und die grie­chi­sche Gesell­schaft in die­ser Fra­ge zu akti­vie­ren. Der Diplo­mat beschreibt sei­ne Erkennt­nis­se nüch­tern-sach­lich und ohne jede Pole­mik. Er prä­sen­tiert Fak­ten, die jeden gut­wil­li­gen Deut­schen beschä­men. Sei­ne her­vor­ra­gen­de Stu­die kann dazu bei­tra­gen, deutsch-grie­chi­sche Miss­ver­ständ­nis­se aus­zu­räu­men und Falsch­be­haup­tun­gen zu korrigieren.

»Die Ver­ant­wor­tung für die eige­ne Geschich­te ken­nen wir, und die hat für uns kei­nen Schluss­strich«, hat die deut­sche Außen­mi­ni­ste­rin in Athen erklärt. Soll­te sie die­se ihre Wor­te wirk­lich ernst mei­nen, dann soll­te sie die Stu­die von Aris Radio­pou­los als Chan­ce und Basis für eine fak­ten­ba­sier­te Aus­ein­an­der­set­zung über die Kriegs­schul­den­fra­ge sehen, dann soll­te end­lich die deut­sche Regie­rung Gesprä­che mit der Regie­rung in Athen über die­se offe­nen Rech­nun­gen, die das deutsch-grie­chi­sche Ver­hält­nis chro­nisch bela­sten, nicht län­ger ver­wei­gern. Nicht nur Radio­pou­los ist davon »über­zeugt, dass das Bedürf­nis nach Gerech­tig­keit so tief ver­an­kert ist, dass es nur einen Anlass braucht, das The­ma wie­der in den Vor­der­grund zu rücken«.