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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Büchernarr und Mann von Welt

»Er war ein Mann von Welt. Er stamm­te vom Lan­de«, schrieb der 1946 in Cel­le gebo­re­ne und am 9. März die­ses Jah­res in Ham­burg ver­stor­be­ne Urhe­ber­rechts­an­walt und Schrift­stel­ler Joa­chim Ker­sten. So cha­rak­te­ri­sier­te er den däni­schen Dich­ter Her­mann Bang und beschrieb doch auch einen eige­nen Grund­zug. Ker­stens Rück­zugs­ort vom Ham­bur­ger Anwalts­bü­ro war sei­ne viel­tau­send Bän­de umfas­sen­de, wohl­ge­ord­ne­te Pri­vat­bi­blio­thek, die er sich in zwei nie­der­säch­si­schen Dör­fern, zuerst an der Ört­ze und dann an der Elbe auf­ge­baut hat. Ein Refu­gi­um, auch für Freun­de, an bei­den Orten. Cel­le hat er als sei­nen Geburts­ort stets mit Lie­be betrach­tet, aber den­noch außer­or­dent­lich kri­tisch den brau­nen Filz »Hin­ter den Fas­sa­den« bloß­ge­legt (1982 im Steidl Ver­lag, als Mit­au­tor); der erste kri­ti­sche Ver­such einer Auf­ar­bei­tung der Cel­ler Zustän­de nach 1945.

Um schrei­ben und teu­re Bücher erwer­ben zu kön­nen, wähl­te er den Beruf eines Anwalts. Die­se Dop­pel­fi­gur trug anfangs, neben dem bür­ger­li­chen Namen, den Autoren­na­men Georg Eyring. Dar­un­ter fin­den sich sei­ne ersten Ver­öf­fent­li­chun­gen. Eyring, so heißt der Ich-Erzäh­ler in Wil­helm Raabes »Die Gän­se von Büt­zow«. Allein die­se Wahl gibt schon den Blick auf den Lite­ra­tur­enthu­sia­sten und Buch­samm­ler frei, der sich im Bänd­chen »Lose Blät­ter. Aus dem Tage­buch eines Bücher­nar­ren« (1997) selbst doku­men­tiert hat. Im Ver­lau­fe der Jah­re publi­zier­te er nur noch unter sei­nem bür­ger­li­chen Namen, das war ein wech­sel­wei­se flie­ßen­der Über­gang. Er war allei­ni­ger oder Mit-Her­aus­ge­ber aus­ge­wähl­ter Wer­ke u. a. von Vic­tor Aubur­tin, Her­mann Bang, Fritz Grass­hoff, Johann Georg Keyß­ler, Karl Kraus, Klaus Mann, Ernst Schul­ze und Fried­rich Sieburg.

Doch damit ist der Bücher­mensch Ker­sten, der Spe­zia­list für Ver­lags- und Medi­en­recht, noch nicht hin­rei­chend beschrie­ben. Er war ein bril­lant und form­voll­endet for­mu­lie­ren­der Autor, begei­ster­ter Her­aus­ge­ber und umsich­ti­ger Nach­lass­ver­wal­ter, uner­müd­li­cher Leser, Ken­ner des lite­ra­ri­schen Lebens und ein Ermög­li­cher, der sich um fra­gi­le Lebens­la­gen von Dich­tern küm­mer­te, begna­de­ter Vor­le­ser, Vor­stands­mit­glied der Stif­tung des Ham­bur­ger Insti­tuts für Sozi­al­for­schung, der Arno Schmidt und Kurt Wolff Stif­tung – und er war ein Freund, der sich den Freun­den ver­schen­ken konn­te. Das gehör­te bei ihm alles zusam­men. Zu sei­nem Glück wur­de er auch noch ein spä­ter Fami­li­en­va­ter, ein Lebens­glück, das ihn noch ein­mal verwandelte.

Dass er vom Lan­de stamm­te, aus nie­der­säch­si­scher Pro­vinz, lässt sich hier und da an sei­nen kuli­na­ri­schen Bemer­kun­gen able­sen, wenn er in lau­ni­gen Abschwei­fun­gen regio­nal-rusti­ka­le Küche auf­tischt, ganz nach einem Mot­to Arno Schmidts: »Die Staats­form wech­selt: die Bou­let­te bleibt!« – und Ker­sten über »Magen­fül­ler« und »Gau­men­spie­ler« sinniert.

Über die Theo­rie des Über­gangs­zu­stan­des mit Joa­chim Ker­sten zu plau­dern, die bekannt­lich auf den Theo­re­ti­ker Hen­ry Eyring zurück­geht, die soge­nann­te Eyring-Theo­rie, dazu müss­te Joa­chim zur Tür her­ein­kom­men, um dar­über eine hal­be Nacht zwi­schen Ernst und Geläch­ter zu phi­lo­so­phie­ren. Doch Joa­chim Ker­sten hat das Zim­mer ver­las­sen. Eine Lun­gen­ent­zün­dung hat ihm zuletzt den Atem genommen.