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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vom »Ich« zum »Wir«

Die Höl­le, so wuss­te Jean-Paul Sart­re, »das sind die Ande­ren«. In eine beson­de­re Spiel­art die­ser Höl­le ver­setzt uns die Demo­kra­tie, die uns als Staats­form nicht nur ein gro­ßes Ver­spre­chen poli­ti­scher Frei­heit gibt, son­dern auch die Zumu­tung auf­er­legt, die »Ande­ren« mit all ihren abwei­chen­den Mei­nun­gen, Bedürf­nis­sen und Inter­es­sen tat­säch­lich zu ertra­gen. Ja, Demo­kra­tie ist mit­un­ter anstren­gend, lang­wie­rig, nicht sel­ten ermüdend.

Sophie Schön­ber­ger, Par­tei­en­for­sche­rin und Pro­fes­so­rin für Öffent­li­ches Recht an der Hein­rich-Hei­ne-Uni­ver­si­tät Düs­sel­dorf lässt Sart­re gleich zu Beginn ihres Essays zu Wort kom­men, um sich auf den fol­gen­den Sei­ten ergie­big dem Zustand unse­rer demo­kra­ti­schen Wirk­lich­keit zu wid­men: prä­zi­se, ana­ly­tisch und empha­tisch. Ihr Anlie­gen wird rasch sicht­bar: Um den viel­fäl­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen gewach­sen zu sein, der unse­re Demo­kra­tie aus­ge­setzt ist, braucht es vor allem eines: die Bereit­schaft des Ein­zel­nen, sich zu »ver­ge­mein­schaf­ten«.

Wenn wir uns dar­auf ver­stän­di­gen kön­nen, dass Demo­kra­tie nicht das ist, wor­auf die Bür­ge­rin­nen und Bür­gern Anspruch haben, son­dern etwas, das uns in Anspruch nimmt – dann sind wir demo­kra­tie-fähig. Vom ICH zum WIR – das ist die For­mel, die sich eine demo­kra­ti­sche Gesell­schaft im besten Fal­le selbst auf­er­legt. Demo­kra­tie, so die Autorin, ist eine Zumu­tung, weil sie andau­ern­der, empa­thi­scher Zuwen­dung bedarf. Sie lebt von Teil­nah­me und Teil­ha­be, von Ver­pflich­tung und Ver­ant­wor­tung. Viel beque­mer ist es, wenn ein ver­meint­lich star­ker Mann – wahl­wei­se auch Frau – durch­re­giert, wenn man sich nicht all­zu vie­le Gedan­ken machen muss. Genau mit die­sem Ver­spre­chen einer radi­ka­len Reduk­ti­on von Kom­ple­xi­tät locken die Fein­de der Demo­kra­tie. Sie locken mit der Unfreiheit.

Frei­heit aber – wer wür­de das bezwei­feln, macht den Kern von Demo­kra­tie aus. Demo­kra­tie ermög­licht nicht nur Frei­heit, sie ist selbst Aus­druck von Frei­heit. Der Begriff ist so etwas wie die »Leit­wäh­rung«. An ihm müs­sen sich Insti­tu­tio­nen und Ver­fah­ren mes­sen las­sen. Die Fra­ge nach der ange­mes­se­nen Inter­pre­ta­ti­on des Begriffs Frei­heit stellt sich in beson­de­rer Dich­te in Kri­sen­zei­ten. Tat­sa­che ist: Wir leben im per­ma­nen­ten Kri­sen­mo­dus. Die ein­zi­ge ver­läss­li­che Erwar­tung an die Zukunft besteht dar­in, dass noch wei­te­re Kri­sen auf uns zukom­men: Krieg, Kli­ma, Coro­na, Infla­ti­on. Alte Gewiss­hei­ten ver­lie­ren ihre Gül­tig­keit, etwa die vom ste­ten Wachs­tum, Frie­den und Wohl­stand. Kri­sen sind in der moder­nen Gesell­schaft kein Aus­nah­me­fall, son­dern der Nor­mal­zu­stand. Moder­ne Gesell­schaf­ten befin­den sich gewis­ser­ma­ßen immer im Ungleich­ge­wicht. Wir leben in einer fra­gi­len Wirklichkeit.

Und die Demo­kra­tie ist eben­falls eine fra­gi­le Kon­struk­ti­on, das kon­sta­tiert auch die Autorin. Dem­ago­gen, Popu­li­sten Ver­schwö­rungs-Erzäh­ler und Unter­gangs-Pro­phe­ten aller Cou­leur erken­nen und nut­zen ihre Chan­ce, sie zu schwä­chen. Und vie­le fol­gen ihnen bereit­wil­lig. Wo Ver­trau­en aber fehlt, ent­steht Ent­täu­schung, Rück­zug, Igno­ranz. Teil­nahms­lo­sig­keit. Kein guter Zustand, denn Demo­kra­tie lebt auch von der Hoff­nung, dass Din­ge bes­ser wer­den. Der Ver­lust von Zukunfts­glau­ben ist ein Pro­blem für die Demo­kra­tie. Gerin­ge Wahl­be­tei­li­gun­gen sind bedenk­li­che Signa­le, eben­so das Votum für popu­li­sti­sche Parteien.

In ost­deut­schen Bun­des­län­dern wie Thü­rin­gen erreicht die AFD kon­stant weit über 20 Pro­zent der Stim­men, in Sach­sen kommt die Par­tei auf über 26 Pro­zent. Demo­kra­tie-Ver­ach­tung gras­siert nicht allein im Osten Deutsch­lands, auch der west­deut­sche Mit­tel­stands-Hedo­nist – beruf­lich erfolg­reich, gut ver­sorgt und von aku­ten Armuts­äng­sten weit­ge­hend ver­schont – mischt mun­ter mit. Es sind nicht allein kau­zi­ge, Cord­ho­sen-bewaff­ne­te Reichs­bür­ger, die aus der Bahn glei­ten und einen ver­schlun­ge­nen Pfad demo­kra­tie-feind­li­cher Polit-Häme ein­ge­schla­gen haben. Die radi­ka­li­sier­te Peri­phe­rie der Gesell­schaft ist unüber­seh­bar auch von Mit­glie­dern der bür­ger­li­chen Mit­te besie­delt. Popu­lis­mus greift auch auf dem Golf­platz. Wir müs­sen auf­pas­sen, was den demo­kra­ti­schen Him­mel ver­dun­kelt. Gesell­schaf­ten kön­nen Zivi­li­tät ler­nen – und ver­ler­nen. Es gibt einen Pro­zess der Ent-Demo­kra­ti­sie­rung, der Ent-Soli­da­ri­sie­rung, der nur schwer rever­si­bel ist.

Es ist die Stär­ke des Buches, unse­ren Blick dafür zu schär­fen, was uns unse­re Demo­kra­tie wert sein soll­te. Die Autorin weiß, gegen die Ero­si­on demo­kra­ti­scher Errun­gen­schaf­ten gibt es kei­ne »Wun­der­waf­fe«. Es ist ein bestän­di­ger, mit­un­ter müh­sa­mer Weg. Und sie hat einen all­tags­kom­pa­ti­blen Vor­schlag: mög­lichst vie­le Orte des Aus­tauschs schaf­fen, die Par­ti­zi­pa­ti­on ermög­li­chen. Orte die Demo­kra­tie »erleb­bar« machen, sich als Gemein­schaft zu begrei­fen, mit­ein­an­der zu leben, mit­ein­an­der zur reden, mit­ein­an­der zu regie­ren. Es braucht, staat­lich geför­der­te Begeg­nungs­an­ge­bo­te zur Ein­übung, Sta­bi­li­sie­rung und Wei­ter­ent­wick­lung einer demo­kra­ti­schen Kul­tur. Denn: »Demo­kra­tie ist nichts Selbst­ver­ständ­li­ches« – so lau­tet der erste Satz ihres Essays.

Sophie Schön­ber­ger ist eine klu­ge Gegen­warts­dia­gno­stik gelun­gen, die uns ins Gewis­sen redet. Ein wich­ti­ges Buch zur rech­ten Zeit.

Sophie Schön­ber­ger: Zumu­tung Demo­kra­tie. Ein Essay, C.H. Beck, Mün­chen 2023, 188 S., 16 €.