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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ostersonntag in Bochum

»Schon ein­mal hat man dem deut­schen Volk den Vor­wurf gemacht, geschwie­gen zu haben, wo muti­ge Wor­te und Taten not­wen­dig waren. In den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern – wie Ber­gen-Bel­sen – kamen Mil­lio­nen Men­schen ums Leben. Bei Fort­set­zung der Ver­suchs­explo­sio­nen und der ato­ma­ren Auf­rü­stung aber dro­hen der gesam­ten Mensch­heit Vernichtung.«

So beginnt der Auf­ruf zum ersten deut­schen Oster­marsch der Atom­waf­fen­geg­ner, der vor 61 Jah­ren in Nord­deutsch­land zum Rake­ten­übungs­platz bei Ber­gen-Bel­sen führ­te. Ich war damals dabei und Mitveranstalter.

Von Anfang an waren Oster­mär­sche Aktio­nen gegen die Bom­be und gegen den Faschis­mus – den alten wie den neu­en. Die Anwen­dung der Atom­bom­be wur­de als faschi­sti­sche Kriegs­füh­rung, weil vor allem Zivi­li­sten betref­fend, angesehen.

Heu­te ist die pro­fa­schi­sti­sche Par­tei AfD auch eine Par­tei der ato­ma­ren Teil­ha­be Deutsch­lands, die wie Tei­le der Uni­on nach eige­nen Atom­waf­fen, nach »ato­ma­rer Abschreckung« drängt. Außer der LINKEN hat sich kei­ne Par­tei für die Zustim­mung Deutsch­lands zum Atom­waf­fen­ver­bot bekannt, das die UNO beschlos­sen hat.

Die Bun­des­re­gie­rung plant, mit­tels zwei Pro­zent des BIP mehr an Rüstung pro Jahr den Mili­täre­tat bis 2024 zu ver­dop­peln. Dem schließt sich die AfD an und for­dert in ihrem Pro­gramm »Streit­kraft Bun­des­wehr. Der Weg zur Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit Deutsch­lands« sogar noch weit mehr.

Lei­der müs­sen wir heu­te fest­stel­len: Der Auf­ruf von 1960 ist noch immer aktu­ell. In unse­rem Land wer­den nach wie vor Atom­waf­fen gela­gert. Sie haben jeweils die viel­fa­che Wir­kung der Bom­be von Hiro­shi­ma. Und sie sind in der Hand von Atom­mäch­ten, die sie, wie die USA, bereits mit furcht­ba­ren Fol­gen ein­ge­setzt und gete­stet haben; ein Erst­schlag mit die­ser unmensch­li­chen Waf­fe ist noch immer Teil ihrer Militärdoktrin.

Zum ersten Ruhr-Oster­marsch, heu­te vor 60 Jah­ren, wur­de ein »Euro­päi­sches Mani­fest« von Oster­mar­schie­rern vie­ler Län­der Euro­pas ver­le­sen. Es heißt dar­in: Die Teil­neh­mer stel­len fest, »dass die Pro­ble­me unse­rer Welt zu ernst sind, um noch mili­tä­risch gelöst wer­den zu kön­nen, und dass die Anbe­tung der blin­den Zer­stö­rung höch­stens zur Ver­nich­tung der Mensch­heit, nicht zur Lösung ihrer Pro­ble­me füh­ren kann. Die­ser Oster­marsch drückt unse­re For­de­rung nach poli­ti­schen Lösun­gen aus, nach einer Poli­tik ohne Bom­be. Euro­pa ist auf­ge­ru­fen, sei­nen poli­ti­schen Bei­trag im Kampf gegen Hun­ger, Krank­heit und Elend zu leisten.«

Auf der Oster­marsch-Schluss­kund­ge­bung von 1961 führ­te der Dort­mun­der Phi­lo­soph Prof. Niko­laus Koch aus: »Wir sagen ein bedin­gungs­lo­ses Nein zum Atom­krieg, von wel­cher Sei­te er auch kom­me. Die Atom­bom­be auf Hiro­shi­ma gestern und auf Ham­burg, Mos­kau, New York oder Lon­don mor­gen ist in jedem Fall ein unge­heu­er­li­ches Ver­bre­chen: das Ver­bre­chen des Mas­sen­mor­des an Män­nern, Frau­en und Kin­dern, an Gesun­den und Kran­ken, an Schul­di­gen und Unschul­di­gen. Für den moder­nen, tota­len und ato­ma­ren Krieg gibt es kei­ne Recht­fer­ti­gung, kei­ne mensch­li­che, kei­ne christ­li­che und kei­ne politische.«

Der Red­ner erin­ner­te dar­an, dass auch die Befür­wor­ter der Bom­be ihre Wir­kung sehr gut ken­nen. Aber sie sagen: Die Dro­hung damit sei das sicher­ste Mit­tel, jeden Angrei­fer abzu­schrecken. Jedoch, so mahn­te der Red­ner: »Das theo­re­ti­sche Nein zum Atom­krieg ist auf die Dau­er schwä­cher als das prak­ti­sche Ja zu ihm.« Denn dies sei eine der »gefähr­lich­sten Illu­sio­nen der­je­ni­gen, die den Krieg dadurch angeb­lich ver­hin­dern wol­len, dass sie ihn vor­be­rei­ten. In die­sem Glau­ben ver­rät sich eine fata­le Unkennt­nis der moder­nen Kriegs­zu­sam­men­hän­ge.« Dazu gehö­re die Mög­lich­keit des Atom­kriegs aus Ver­se­hen, aus einem Manö­ver her­aus, das aus dem Ruder läuft, aus dem Drücken eines Wahn­sin­ni­gen auf den roten Knopf.

Ich erin­ne­re an den sowje­ti­schen Oberst Sta­nis­law Petrow, der 1983 durch beson­ne­nes Han­deln das ato­ma­re Infer­no ver­mied. Fer­ner an den Nato-Mit­ar­bei­ter Rai­ner Rupp, der eben­falls im letz­ten Moment Mos­kau vor einer fal­schen Reak-tion auf einen anschei­nend erfolg­ten Angriff war­nen konn­te. Sol­che Beson­nen­heit darf von heu­ti­ger KI, von Künst­li­cher Intel­li­genz, die Rake­ten und Droh­nen steu­ert, nicht erwar­tet werden.

Nun kann man sagen: Die Abschreckung hat ja 60 Jah­re funk­tio­niert, und man­che den­ken wohl, sie wird auch wei­te­re 60 Jah­re funk­tio­nie­ren. Das Pro­blem ist jedoch: Heu­te wird von den Mili­tärs und scharf­ma­che­ri­schen Poli­ti­kern ja nicht mehr gesagt: Wir wol­len Frie­den, wir wol­len ihn durch Abschreckung. Nein, sie sagen ganz offen, was die Mili­tär­füh­rung plant, näm­lich die Ver­wirk­li­chung einer Poli­tik, die nur mit Krieg zu errei­chen ist. Der Chef des deut­schen Hee­res, Gene­ral Alfons Mais, sprach es aus: Das Heer müs­se »kriegs­be­reit und sie­ges­fä­hig« sein, das deut­sche Mili­tär müs­se »letzt­end­lich gewin­nen kön­nen« (aus der Schrift: »Das Deut­sche Heer im Lich­te ein­ge­gan­ge­ner Bünd­nis­ver­pflich­tun­gen – in Zukunft noch leistbar?«).

Ziel der Nato ist der Regime-Chan­ge in Russ­land und Chi­na. Dazu wird auch ato­mar gerü­stet. Wir sind heu­te hier beim Oster­marsch, um die­ser gefähr­li­chen Poli­tik entgegenzutreten.

Schon vor sechs Jah­ren erfuh­ren wir von den Kriegs­zie­len der Nato und der USA fol­gen­des: Es gel­te, die rus­si­sche und auch die chi­ne­si­sche Gesell­schaft dazu zu brin­gen, dem »ukrai­ni­schen Mai­dan-Bei­spiel zu fol­gen« und eine Regime-Chan­ge her­bei­zu­füh­ren (Süd­deut­sche Zei­tung 25.2.2014). Ein Wett­rü­sten unge­heu­ren Aus­ma­ßes soll Chi­na und Russ­land in die Knie zwin­gen. Und an den Gren­zen die­ser Län­der bau­en Bun­des­wehr, Nato und USA eine gewal­ti­ge Droh­ku­lis­se auf, so mit dem Manö­ver Defen­der, das wie­der bevorsteht.

Im Mit­tel­punkt der Aus­sa­gen zum dies­jäh­ri­gen Oster­marsch steht wie­der die For­de­rung nach ato­ma­rer Abrü­stung. Dies ist in der Zeit der Drei­fach­kri­se der Pan­de­mie und der Gesund­heits­po­li­tik, der Kli­ma­po­li­tik und der Kri­se der inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen das vor­dring­li­che Ziel – heu­te noch dring­li­cher als vor 60 Jahren.

Ich erin­ne­re dar­an: Deutsch­land rüstet auf wie nie zuvor und betei­ligt sich jedes Jahr an Manö­vern zur direk­ten Vor­be­rei­tung eines Atom­krie­ges in Euro­pa. Die­se Manö­ver hei­ßen Cold Igloo und Stead­fast Noon. Zur Übung gehört auch der Ein­satz von Bun­des­wehr-Kampf­jets bei Angrif­fen mit Atom­bom­ben. Die Mili­tärs nen­nen das ver­harm­lo­send »Nuklea­re Teil­ha­be«. Sol­che »Teil­ha­be« wäre das Ende der Zivi­li­sa­ti­on in Europa.

Die Atom­bom­ben im deut­schen Büchel sol­len nach US-Plä­nen bis 2024 durch neu­ar­ti­ge Arse­na­le ersetzt wer­den, die kei­ne nor­ma­len Fall­bom­ben mehr sind, son­dern die wie Marsch­flug­kör­per und Kampf­droh­nen einen Ziel­fin­dungs­me­cha­nis­mus haben, der sie beson­ders ziel­ge­nau und damit umso bes­ser ein­setz­bar macht. Die Mili­tärs spre­chen davon, dass die­se Syste­me »gebrauchs­freu­di­ger« sind. Sie sen­ken also die Schwel­le zum Atom­krieg. Die Frie­dens­be­we­gung stellt sich die­sem Wahn­sinn am Nukle­ar­stand­ort Büchel mit Aktio­nen wie unse­rem Oster­marsch ent­ge­gen. Wir kämp­fen mit der For­de­rung nach einer De-Nukle­a­ri­sie­rung für das Über­le­ben der Menschheit.

Als der Sozi­al­ab­bau mit Hartz IV und Agen­da 2010 ein­setz­te – beschlos­sen von SPD und Grü­nen und leb­haft begrüßt von FDP und CDU/​CSU –, sag­te der dama­li­ge Kriegs­mi­ni­ster Peter Struck auf die Fra­ge nach der Bezahl­bar­keit sei­ner Rüstungs­plä­ne: »Die Agen­da 2010 wird ihre Früch­te tra­gen und auch dem Haus­halt« – dem Rüstungs­etat! – »mehr Spiel­raum ver­schaf­fen« (Süd­deut­sche Zei­tung 4.2.04). Die Regie­rungs­po­li­ti­ker haben also zuge­ge­ben, dass die Bevöl­ke­rung für Krieg und Rüstung bezah­len soll. Und sie hat ja auch bezahlt. Heu­te im Wahl­kampf müs­sen wir deut­lich machen: Wir brau­chen eine ande­re Poli­tik. Wir brau­chen wirk­li­che Refor­men. Refor­men für ein bes­se­res Leben der Men­schen. Für Frie­den, Ret­tung des Kli­mas und sozia­le Gerechtigkeit.

Abschlie­ßend möch­te ich noch ein­mal auf die Anfän­ge der Oster­marsch­be­we­gung 1960/​61 zurück­kom­men. Die Oster­mär­sche wur­den not­wen­dig, weil die SPD die Poli­tik des Frie­dens damals zugun­sten einer Poli­tik der Nato auf­ge­ge­ben hat, um regie­rungs­fä­hig zu wer­den. Auch Wil­ly Brandt mit sei­ner Ost­po­li­tik hat die Unter­ord­nung unter die Nato nie in Fra­ge gestellt, und die Kanz­ler Schmidt und Schrö­der stan­den für Rake­ten­rü­stung und dann für Bom­ben auf Bel­grad. Heu­te steht wie­der eine lin­ke Oppo­si­ti­ons­par­tei vor der Fra­ge: Wie wei­ter. Ich kann nur abra­ten, der Poli­tik Her­bert Weh­ners von 1961 zu fol­gen. Der Frie­den wird mit der Nato-Poli­tik nie­mals zu errei­chen sein. Daher kann es nur dar­um gehen, einer Regie­rung fern­zu­blei­ben, die eine Poli­tik betreibt, die zum Krie­ge füh­ren wird, wenn wir ihr nicht in den Arm fal­len. Um dabei Erfolg zu haben, bedarf es einer star­ken außer­par­la­men­ta­ri­schen Bewe­gung sowie der Gemein­sam­keit von Kli­ma­be­we­gung, Frie­dens­be­we­gung und Gewerkschaften.

Der Text ist die leicht gekürz­te Fas­sung einer Rede, die Ulrich San­der zu Ostern 2021 in Bochum gehal­ten hat.