Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

S›ist leider Krieg …

… und ich begeh­re, nicht schuld dar­an zu sein! Ganz in der Nähe mei­ner Woh­nung lebt die ver­folg­te suda­ne­si­sche Schrift­stel­le­rin Stel­la Gai­ta­no. Sie war­tet auf die Ankunft ihrer bei­den Söh­ne und fühlt sich anson­sten sicher in der klei­nen Stadt Kamen.

Bei einer öffent­li­chen Lesung in der Stadt­bü­che­rei trug sie eine Erzäh­lung über ihr Leben im Sudan vor. Drei­ßig Jah­re Leben im Bür­ger­krieg. Kei­ne Fami­lie ohne Kriegs­op­fer. Alle Zuhö­rer waren gerührt, alle auch erstaunt dar­über, dass Stel­la trotz allem ein opti­mi­sti­scher Mensch geblie­ben ist und ger­ne lacht.

Aber Sudan, das haben wohl alle gedacht, ist weit weg. Es berührt uns emo­tio­nal, aber nicht exi­sten­zi­ell. Doch dann kam der 24. Febru­ar, der Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne. Da war der Krieg vor der Haus­tür, wie zum Grei­fen nah. Und plötz­lich fing ich an, Ereig­nis­se im Zusam­men­hang zu sehen, deren Ein­zel­tei­le mir natür­lich bekannt waren. Bekannt, aber nicht wirk­lich bewusst.

Der erste Mann mei­ner Oma müt­ter­li­cher­seits starb an der Spa­ni­schen Grip­pe. Drei klei­ne Mäd­chen hat­te sie, und es war klar, dass sie noch mal hei­ra­ten muss­te. Die­ser Ehe ent­stamm­te ein Sohn, Heinz, der fast so hieß wie ich hei­ße. Er war ein klu­ger Jun­ge, sein Zeug­nis hing als Vor­bild­bei­spiel beim Arbeits­amt aus, erzähl­te mir mei­ne Cou­si­ne. Er war ein Talent. Ganz jung wur­de er ein­ge­zo­gen, wur­de krank, kam ins Kame­ner Kran­ken­haus, und als sich eng­li­sche Flie­ger der Stadt näher­ten, ist er nicht in den Bun­ker gebracht wor­den. Mal wur­de gesagt, er hät­te das nicht gewollt, der Angriff wäre schnell vor­über, hät­te er ver­mu­tet. Viel­leicht ging es auch gar nicht in der Kür­ze der Zeit, alle in den Bun­ker zu brin­gen, jeden­falls traf eine Bom­be das Kran­ken­haus und zwan­zig Men­schen star­ben. Dar­un­ter mein Onkel, gera­de mal ein­und­zwan­zig Jah­re alt. Für mei­ne Oma war es, als steck­te ein Stein in ihrer Brust, der sich nicht lösen wollte.

Ihre jüng­ste Toch­ter, Schwe­ster mei­ner Mut­ter, hei­ra­te­te kurz vor Kriegs­en­de. Es gibt ein Hoch­zeits­fo­to und zeigt neben ihr einen Mann, der mir fremd ist. Er kam nicht zurück aus dem Krieg. Ihm folg­te mein Onkel Franz, zwei Kin­der kamen. Mei­ne Cou­si­ne und mein Vet­ter. Die kann­te und ken­ne ich gut.

Kei­ne Fami­lie ohne Kriegsopfer.

Am buch­stäb­lich letz­ten Kriegs­tag star­ben die ein­zi­ge Schwe­ster mei­nes Vaters und ihr Mann. Sie hat­ten, weil es in ihrem Haus kei­nen Kel­ler gab, sich beim Nach­barn in Sicher­heit gebracht. Als der Beschuss aus Rich­tung Nach­bar­stadt auf­hör­te, sind sie nach Hau­se gegan­gen, genau in dem Moment, als die Schie­ße­rei wie­der ein­setz­te. Der Schwa­ger mei­nes Vaters, also mein Onkel, starb an einem Bauch­schuss, mei­ner Tan­te wur­de von einem Split­ter die Fin­ger­kup­pe abge­trennt. Mein Vet­ter war ganz jung, am Sonn­tag dar­auf woll­te er sei­ne Mut­ter im Kran­ken­haus besu­chen, da war auch sie tot. Blut­ver­gif­tung, es gab kei­ne Medizin.

Kei­ne Fami­lie ohne Kriegsopfer.

Bei mei­nem Vater waren es meh­re­re glück­li­che Zufäl­le, die ihm das Leben ret­te­ten und damit auch mei­nes mög­lich mach­ten, der ich nach dem Krieg gebo­ren wur­de. Nicht gebo­ren zu wer­den, über­steigt jede Vorstellungkraft.

Plötz­lich wur­de mir das alles bewusst, plötz­lich sah ich Ein­zel­er­eig­nis­se im Zusammenhang.

Und sah dann auf mei­ne eige­ne klei­ne Fami­lie. Ich bin Vater von drei Söh­nen. Ein Krieg, sagen wir um 2010, und alle wären ein­ge­zo­gen wor­den. Wer wäre zurück­ge­kehrt, wäre es über­haupt einer gewe­sen? Ich erschrak und woll­te den Gedan­ken ver­drän­gen. Aber ich schaff­te es nicht.

Da hat Russ­land die Ukrai­ne über­fal­len, und plötz­lich ist das Selbst­ver­ständ­li­che nicht mehr selbst­ver­ständ­lich. Der Krieg in der Ukrai­ne hat unse­rem Leben die Unschuld genom­men, plötz­lich bin ich Stel­la Gai­ta­no viel näher, als ich es je geglaubt habe. Über 75 Jah­re Frie­den bis­her, was für ein Glück. Und plötz­lich wird der brüchig.

Ich kann mir Leben nur vor­stel­len, indem es wei­ter­geht, immer wei­ter­geht. Mein indi­vi­du­el­les ist begrenzt, aber in mei­nen Söh­nen lebt man­ches von mir wei­ter. Und jetzt, seit knapp einem Jahr, auch in mei­nen Enkeln. Zwei sind schon da, eine Enkel­toch­ter ist unterwegs.

Das ist es, was ich Putin neben allem ande­rem, auch vor­wer­fe. Er hat Unsi­cher­heit aus­ge­löst. Er hat das beru­hi­gen­de Gefühl zer­stört, dass auf jeden Mor­gen ein ande­rer folgt. Bei mir, bei mei­nen Söh­nen und bei mei­nen Enkeln.

Er hat zusätz­lich ein furcht­ba­res Wett­rü­sten ange­facht. Hun­dert Mil­li­ar­den Euro für die Bun­des­wehr, man stel­le sich das vor! Und plötz­lich sind sie alle wie­der da, die die Pro­ble­me der Welt mit Gewalt lösen wol­len, immer nur mit Gewalt. Noch mehr Pan­zer, noch mehr Rake­ten. Kein Raum mehr für beson­ne­ne Stim­men. Und die, die mehr Waf­fen for­dern, füh­len sich abso­lut sicher, sind nicht erreich­bar für stil­le­re Töne. Erschreckend, deprimierend.

Ich bin zum Grab mei­ner Eltern gegan­gen. Ich kann mir Leben nur so vor­stel­len, dass es wei­ter­geht. Das nach­fol­gen­de Gedicht stell­te sich wie von selbst ein:

Der schwar­ze Stein, glitzernd
im Son­nen­licht, beweist
ihr hat­tet mal gelebt
und durch euch ich, durch

mich die ande­ren, die um mich
sind und die, die fol­gen werden
und steh vor die­sem Stein
und red mit ihm und red

mit euch, erzäh­le alles
was ich mache, was meine
Kin­der tun und wie die
klei­nen Enkel wach­sen, bleibt

ihr bei uns, steh ich vor
euch, steh vor dem Stein
ich bin euch nah und fühle
wie ich euch erreiche

und mer­ke, wie mein Wort
ver­fliegt. Ihr seid so fern
und doch so nah, bleib ich
bei euch, solang ich lebe

Die Ket­te darf nicht abrei­ßen. Bei niemandem.