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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Unterdeutschland aktuell

»Unter­deutsch­land« lau­tet der Titel eines Romans mit unver­kenn­ba­rem Bezug zur Gegen­wart. Wei­te Pas­sa­gen des Buch-manu­skripts – auf­ge­fun­den und her­aus­ge­ge­ben anno 2024 – spie­len zwar im Jah­re 2022. Aber die Sto­ry han­delt von einer Gefähr­dung, wie sie uns seit 2020 als töd­li­che Bedro­hung poli­tisch und medi­al ver­mit­telt wird.
In Ber­lin schwebt über dem ehe­ma­li­gen Flug­feld Tem­pel­hof eine gif­ti­ge Wol­ke. Sie ist die Fol­ge eines Anschlags im Luft­raum über der Haupt­stadt. Die Medi­en tau­fen die schwe­ben­de Bestie »Azo­va«. Azo­va bedroht die Sicher­heit der Stadt und ihrer Bewoh­ner. Ver­schie­de­ne staats­na­he Insti­tu­te unter­strei­chen die beun­ru­hi­gen­de Gefahr. Aus Exper­ten­sicht han­delt es sich um gefähr­li­che Viren, angeb­lich aus einem rus­si­schen Labor. Wer denkt da nicht an Coro­na, das Robert-Koch-Insti­tut und an Wuhan?
Der Finanz­mi­ni­ster der auto­ri­tä­ren Demo­kra­tie »Unter­deutsch­land« schal­tet groß­zü­gig Mit­tel frei, um allen Anfor­de­run­gen zumin­dest bud­ge­tär gerecht zu wer­den. Als in kur­zer Fol­ge drei Tote und ein her­ren­lo­ser Hund auf­tau­chen, wird Kom­mis­sar Hans Falck von der pri­va­ten Nach­fol­ge-Orga­ni­sa­ti­on der Ber­li­ner Poli­zei auf den Fall angesetzt.
Auf sei­ner Tour durch den »tie­fen Staat« kommt Falck in ein Akten­ver­nich­tungs-Zen­trum. Er trifft auf die Hacker einer omi­nö­sen Orga­ni­sa­ti­on. Zusam­men mit ande­ren Prot­ago­ni­sten gerät er ins Getrie­be mäch­ti­ger wirt­schaft­li­cher und poli­ti­scher Inter­es­sen und stellt end­lich fest, vom Geheim­dienst VS (sic!) auf eine fal­sche Fähr­te gesetzt wor­den zu sein.
Bei ihrer Odys­see durch »Unter­deutsch­land« begeg­nen Falck & Co. den­ken­den Autos und auto­no­men Droh­nen. Sie ler­nen Ent­wick­ler von High-Tech-Waf­fen ken­nen und las­sen sich erklä­ren, wie und war­um die Lei­chen hoch­ran­gi­ger Häft­lin­ge als Ener­gie­trä­ger ver­wer­tet wer­den. Sie tref­fen auf sen­si­bel geschütz­te V-Leu­te, die nach alpha­be­ti­schen Prin­zi­pi­en anony­mi­siert und aus der Rechts­ord­nung aus­ge­glie­dert sind.
Wenn Falck nach Fei­er­abend in sei­ner Kreuz­ber­ger Knei­pe zu erklä­ren ver­sucht, was ihm wider­fährt und wie die­ses Land sich rasant ver­än­dert, stößt er auf Unver­ständ­nis. Zu stark haben sich – ohne dass es jeman­dem auf­ge­fal­len wäre – die Lebens­wel­ten der Bür­ger unter den Herr­schafts­be­din­gun­gen der auto­ri­tä­ren Demo­kra­tie ent­kop­pelt. Auf der dunk­len Sei­te der Macht regiert eine über jedes Maß ange­wach­se­ne Kon­troll­agen­tur durch den auf Dau­er gestell­ten Ausnahmezustand.
Das Gerüst der Roman­erzäh­lung wird auf viel­fäl­ti­ge und teils gro­tes­ke Wei­se zeit­be­züg­lich, histo­risch, wis­sen­schaft­lich und lite­ra­tur­ge­schicht­lich ange­rei­chert – mit Kreuz­ber­ger Kiez­dia­lekt und Ber­li­ner Ori­gi­na­len, Schwei­ne­pest und Aero­so­len, Haken­kreuz und Fron­tex, Faschi­sten und Ver­schwö­rungs­theo­rien, den Schrift­stel­lern Johan­nes Mario Sim­mel und Oskar Paniz­za, dem Ver­hal­tens­for­scher Kon­rad Lorenz und Fri­days for Future, dem Gesund­heits­mi­ni­ste­ri­um und Abu Ghraib.
Die Fül­le von Bezü­gen berei­chert die Lek­tü­re, macht sie zu einem intel­lek­tu­el­len Ver­gnü­gen, unter­hält auf hei­ter­ste Art. Wort­spie­le, Gedan­ken­sprün­ge und Abkür­zungs­ka­prio­len geben der Lek­tü­re Witz und Ele­ganz. In fei­ner Dosie­rung ent­hält der Roman sur­rea­li­sti­sche Ele­men­te, die den Rah­men der all­täg­li­chen Rea­li­tät ins Unsäg­li­che spren­gen. Wie Kipp­fi­gu­ren begeg­nen sich Schrecken und Realität.
»Unter­deutsch­land« the­ma­ti­siert auf beäng­sti­gen­de Wei­se den para­no­iden Irr­sinn der Wirk­lich­keit, die inhu­man-ver­bre­che­ri­schen Aspek­te der ord­nungs-, poli­zei- und mili­tär­po­li­ti­schen Rea­li­tät unse­rer aktu­el­len Gegen­wart. Den bedroh­li­chen Hin­ter­grund bil­den kei­ne erzäh­le­ri­schen Fik­tio­nen. Viel­mehr wer­den rea­le Pro­jek­te ange­spro­chen: Werk­zeu­ge, mit denen Staa­ten und Kon­zer­ne auf unse­ren All­tag in beäng­sti­gen­der Wei­se Ein­fluss nehmen.
Dem Autor des Romans, Olaf Arndt, kommt dabei zustat­ten, dass er seit mehr als zwei Jahr­zehn­ten die Ent­wick­lung sämt­li­cher Tech­no­lo­gien poli­ti­scher Kon­trol­le kri­tisch beglei­tet. Den teuf­li­schen Pro­zess der »schock-stra­te­gi­schen« Ent­ste­hung (Nao­mi Klein) des »Über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­mus« (Shosha­na Zuboff) hat Arndt ein­ge­hend unter­sucht und über des­sen unter­drücke­ri­sche Kon­troll­di­men­sio­nen aufklärt.
Mit »Unter­deutsch­land« liegt ein lite­ra­ri­sches Werk vor, das die Schrecken der Gegen­wart wuch­ti­ger schil­dert, als ein Sach­buch es ver­mocht hät­te. Erleb­bar ist schon jetzt die Ent­kop­pe­lung von Lebens­wel­ten: Freun­de wer­den zu Geg­nern, kri­ti­sche Lin­ke zu affir­ma­ti­ven Coro­na-Gläu­bi­gen, Gewerk­schaf­ter zu Agen­ten des phar­ma­zeu­tisch-indu­stri­el­len Kom­ple­xes, Kir­chen ent­hal­ten sich der Seel­sor­ge, Leh­rer füh­len sich von Schü­lern bedroht. Wir wer­den uns fremd.
»Unter­deutsch­land« ist ein gesell­schaft­li­cher Ent­wick­lungs­ro­man, ein auf­rüt­teln­des Non-Fic­tion-Werk in lite­ra­ri­scher Gestalt, ein Jahr­hun­dert-Buch, eine schrift­stel­le­ri­sche und poli­ti­sche Her­aus­for­de­rung – sowie ein ver­le­ge­ri­sches Juwel (faden­ge­hef­te­tes Hard­co­ver, zwei far­bi­ge Lese­bänd­chen, gesetzt aus EB Gara­mond und Pop­lar), oben­drein ergänzt um ein üppi­ges, frei zugäng­li­ches Glos­sar im Internet.

Olaf Arndt: Unter­deutsch­land. Roman. [Innen­ti­tel: Auf­zeich­nun­gen des AutorIn­nen­kol­lek­tivs BBM/​VD, gefun­den nach deren Aus­lö­schung im Jahr 2024. Her­aus­ge­ge­ben von Olaf Arndt.], Bre­men: Mox & Maritz 2020, 520 Sei­ten, 19,80 €. Anmer­kun­gen unter: https://unterdeutschland.bbm.de/