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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Antiimperialismus und Antifaschismus

Die Demon­stra­tio­nen gegen die AfD, an denen sich Anfang 2024 fast vier Mil­lio­nen Men­schen betei­lig­ten, ver­ein­ten das poli­ti­sche Lager von der Par­tei »Die Lin­ke« bis hin zur CDU/​CSU, mit­ten­drin die drei Regie­rungs­par­tei­en SPD, Grü­ne und FDP. Häu­fig ver­bun­den mit einem Bezug zu den Juden­ver­fol­gun­gen des Drit­ten Rei­ches ver­stan­den sich ihre Teil­neh­mer über­wie­gend als anti­fa­schi­stisch – wobei ihr Faschis­mus­be­griff in der Regel um die Ver­fol­gung von Juden als dem ver­meint­li­chen Kern der Regie­rungs­zeit der NSDAP her­um grup­piert war.

Der so von jedem Kapi­ta­lis­mus­be­zug ent­kern­te Anti­fa­schis­mus droht zur Legi­ti­ma­ti­on für die Vor­be­rei­tung des Krie­ges gegen Russ­land und Chi­na zu wer­den, weil er vom poli­ti­schen Zen­trum der genann­ten Bewe­gun­gen, den drei Regie­rungs­par­tei­en, als Vor­hang benutzt wird, hin­ter dem sie ihre Kriegs­vor­be­rei­tung ideo­lo­gisch unbe­hel­ligt vor­an­trei­ben können.

Mar­xis­mus ist vor allem eine histo­ri­sche Wis­sen­schaft. Sie wen­det sich gegen jede sche­ma­ti­sche Über­stül­pung histo­ri­scher Begrif­fe auf neue Situa­tio­nen. Die gegen­wär­ti­ge Infla­ti­on im Gebrauch des Begrif­fes »Anti­fa­schis­mus« erfüllt den Tat­be­stand einer sol­chen Überstülpung.

Die domi­nie­ren­de Gefahr, vor der wir ste­hen, ist kei­ne Wie­der­ho­lung der Ereig­nis­se in Deutsch­land nach 1933. Die bis heu­te wir­ken­de histo­ri­sche Kon­stan­te unse­rer Zeit ist der sich gegen Ende des vor­letz­ten Jahr­hun­derts her­aus­ge­bil­de­te Impe­ria­lis­mus in der von Lenin 1916 ana­ly­sier­ten Form, Begriff­lich­keit und Defi­ni­ti­on. Ent­schei­dend ist des­sen Cha­rak­te­ri­stik als höch­stem und damit letz­tem Sta­di­um der kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schafts­for­ma­ti­on. Faschis­mus in der in Deutsch­land von 1933 bis 1945 regie­ren­den Form ist eine sehr spe­zi­fi­sche Aus­prä­gung inner­halb die­ser impe­ria­li­sti­schen Schluss­pha­se des Kapitalismus.

Um den Cha­rak­ter unse­rer Pha­se zu begrei­fen und damit die unmit­tel­bar vor uns lie­gen­den Aus­wir­kun­gen kor­rekt zu bestim­men, mag ein etwas wei­te­rer Blick auf die Ent­wick­lung des Impe­ria­lis­mus nütz­lich sein.

Die Ereig­nis­se zwi­schen dem August 1914 und dem Novem­ber 1918 mach­ten schlag­ar­tig deut­lich, dass der Kampf der impe­ria­li­sti­schen Räu­ber, mit Deutsch­land an der Spit­ze des einen und Eng­land an der Spit­ze des ande­ren Lagers, offen aus­ge­bro­chen war. Die damals herr­schen­den Krei­se wähn­ten sich in der Sicher­heit, damit aber­mals – wie aus der Sicht Deutsch­lands etwa in den Kämp­fen gegen Däne­mark und Öster­reich-Ungarn 1866 oder gegen Frank­reich 1870/​71 – durch mili­tä­ri­sches Geran­gel auf Kosten des Lebens der unte­ren Volks­mas­sen die Fra­ge zu klä­ren, wel­cher Zweig des um Queen Vic­to­ria einer­seits und Wil­helm II. ande­rer­seits her­um grup­pier­ten euro­päi­schen Königs­clans nach dem Geran­gel den grö­ße­ren Bat­zen Fleisch auf sei­nem Tel­ler fin­den wür­de. Das dama­li­ge Völ­ker­ge­met­zel mach­te eine neue Herr­schafts­form zu ihrer Vor­be­rei­tung nicht nötig. Es gab kei­ne Bestre­bun­gen, etwa die Errich­tung einer offen ter­ro­ri­sti­schen Dik­ta­tur, wie dann spä­ter 1933. Das war auch des­halb nicht nötig, weil es gelun­gen und allen Betei­lig­ten im direk­ten Vor­feld des August 1914 klar war, dass die SPD als poten­ti­el­le Stör­kraft poli­tisch in die Tasche gesteckt wor­den und vom Geg­ner zum Kom­pli­zen der Kriegs­trei­ben­den gewor­den war. Die Mög­lich­keit, dass aus die­sem gepfleg­ten Geran­gel um Ein­fluss­sphä­ren so etwas wie der Okto­ber 1917 in Petro­grad ent­ste­hen könn­te, hat­te von den ton­an­ge­ben­den Her­ren und Damen nie­mand auf dem Schirm.

Es gibt in unse­ren Krei­sen den Hin­weis, dass bei der Ent­schei­dung zur Errich­tung des Faschis­mus in Ita­li­en und Deutsch­land auch die Erwä­gung Pate gestan­den habe, unter dem Ein­druck der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on in Russ­land vor einem neu­en Expan­si­ons-Feld­zug eine Art vor­aus­ei­len­de Kon­ter­re­vo­lu­ti­on zu orga­ni­sie­ren – also die KPD aus­zu­schal­ten, bevor es ihr gelän­ge, den Krieg in einen Bür­ger­krieg zu ver­wan­deln. Das schien in Deutsch­land auch des­halb min­de­stens über­le­gens­wert, weil im Ergeb­nis des Ver­rats der Sozi­al­de­mo­kra­tie an den Frie­dens­schwü­ren der II. Inter­na­tio­na­le ab 1919 die KPD als eine zuneh­mend der SPD eben­bür­ti­ge Arbei­ter­par­tei ent­stan­den war. Weil klar war, dass die­se in Lenins Tra­di­ti­on ste­hen­de Par­tei, anders als die SPD, nicht in den Kriegs­kurs der herr­schen­den Klas­se zu inte­grie­ren war, muss­te sie aus­ge­schal­tet wer­den. Nüch­tern betrach­tet müs­sen wir aber kon­sta­tie­ren: Das war eher eine Vor­sichts­maß­nah­me. Die Ereig­nis­se des Ham­bur­ger Auf­stands 1923 hat­ten gezeigt, dass eine revo­lu­tio­nä­re Gefahr in Deutsch­land nicht drohte.

Aus Sicht der damals in Deutsch­land Herr­schen­den war der ab 1933 for­ciert vor­be­rei­te­te neue Waf­fen­gang sei­nem Cha­rak­ter nach ein Revan­che­krieg, in dem die Nie­der­la­ge gegen das bri­ti­sche Empire kor­ri­giert wer­den soll­te. Über die Zer­schla­gung erst Frank­reichs, dann aber vor allem Russ­lands soll­te, Groß­bri­tan­ni­en beset­zend, das von Ber­lin aus regier­te Euro­pa mit den USA anschlie­ßend (wie 1914 mit dem United King­dom) in den fina­len End­kampf um Platz 1 am Tisch der impe­ria­li­sti­schen Räu­ber eintreten.

Dies ist nach wie vor der gro­ße Rah­men, in dem unse­re aktu­el­len Kämp­fe statt­fin­den. Der Haupt­be­zugs­punkt histo­ri­scher Start­punk­te unse­rer heu­ti­gen Kämp­fe ist nicht 1933, son­dern 1914. Die Fokus­sie­rung auf einen auch noch des von Dimitroff beschrie­be­nen Kerns beraub­ten Anti­fa­schis­mus klärt die gegen­wär­ti­ge Lage nicht, son­dern ver­ne­belt sie. Sie ver­stellt den Blick auf die drin­gen­de Haupt­auf­ga­be, in unse­rer Zeit anti­im­pe­ria­li­stisch zu den­ken und zu handeln.

Zwei Aspek­te kom­men hin­zu: Anders als 1914 haben die herr­schen­den Klas­sen in Washing­ton, Brüs­sel und Ber­lin heu­te sehr wohl im Blick, dass der jetzt her­auf­zie­hen­de Kampf mit dem Unter­gang der For­ma­ti­on enden könn­te, der sie Reich­tum und Macht ver­dan­ken. Auch dafür gibt es geschicht­li­che Par­al­le­len. Die eine ist die »Nach uns die Sintflut«-Mentalität, die die herr­schen­den feu­da­le Klas­se in Frank­reich ange­sichts der gro­ßen fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on ergrif­fen hat­te. Sie bil­de­te die Men­ta­li­tät her­aus, dass dann eben nicht nur sie, son­dern alle unter­ge­hen soll­ten. Noch ein­mal: Das war 1914 anders. Trotz der War­nung der 1912 unter­ge­gan­ge­nen Tita­nic war es aus Sicht der Herr­schen­den ein Geran­gel auf einem für unsink­bar gehal­te­nen Damp­fer. Seit 1917 aber – viel­leicht unter­bro­chen durch die Jah­re 1989 bis spä­te­stens 2022 – und ins­be­son­de­re seit der sich abzeich­nen­den Über­le­gen­heit Chi­nas über die Füh­rungs­macht USA ver­brei­tet sich wie­der die von den 1780er Jah­ren in Frank­reich bekann­te End­kampf-Stim­mung. Sie geht ein­her mit der dump­fen Ahnung, dass nach einer Nie­der­la­ge die kapi­ta­li­sti­schen Pri­vi­le­gi­en für sich selbst und die eige­ne Brut nicht mehr durch die Wir­ren der Zeit getra­gen wer­den könn­ten. Bei frü­he­ren Epo­chen­brü­chen ver­wan­del­ten sich Skla­ven­hal­ter in Feu­dal­her­ren und Feu­dal­her­ren in Fabri­kan­ten – sie blie­ben aber Teil der aus­beu­ten­den Klas­sen. Mit der Über­win­dung der Klas­sen­ge­sell­schaft und Aus­beu­tung über­haupt ver­schwin­det die­se Per­spek­ti­ve. Inso­fern ähnelt die bei Fort­schrei­bung der gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lun­gen her­auf­zie­hen­de Stim­mung in die­sen Krei­sen weni­ger der des abtre­ten­den fran­zö­si­schen Adels, son­dern eher der Stim­mung im Ber­li­ner Füh­rer­bun­ker 1945 – nur eben nicht nur als Stim­mung einer Cli­que, son­dern als Stim­mung einer gan­zen herr­schen­den Klasse.

Der ande­re ergän­zen­de Aspekt betrifft unse­re poli­tisch und sozi­al unter­drück­te Klas­se. Faschis­mus steht auch des­halb nicht vor der Tür, weil neben der von den Herr­schen­den voll inte­grier­ten SPD (und den sogar über­eif­rig inte­grier­ten Grü­nen) kei­ne KPD von 300.000 Mit­glie­dern mehr im Wege steht, die vor dem Krieg zu eli­mi­nie­ren wäre. Die knapp 3000 Mit­glie­der von heu­te sind aus Sicht der Herr­schen­den (noch) kei­ne Gefahr, und die 5000 Unter­schrif­ten unter dem Gewerk­schafts­auf­ruf für Frie­den mit Russ­land sind auch von der ande­ren Sei­te als die Unter-einem-Pro­mil­le-Bewe­gung regi­striert wor­den, die sie im Haupt­strom der 5,7 Mil­lio­nen Mit­glie­der eben dar­stel­len. Noch mehr als 1914 kann also die Kriegs­vor­be­rei­tung ohne Wech­sel in der Herr­schafts­form durch­ge­führt wer­den. So wie damals durch Ein­sper­ren von Luxem­burg und Lieb­knecht, durch Pres­se­zen­sur, öffent­li­chen Druck, Kan­zel­pre­dig­ten und Front­ver­schickun­gen lässt sich, so das Kal­kül der Herr­schen­den, Kriegs­fä­hig­keit auch im Rah­men einer mili­ta­ri­stisch-reak­tio­när for­mier­ten klas­si­schen bür­ger­li­chen Demo­kra­tie organisieren.

Die Wor­te von Rosa Luxem­burg »Sozia­lis­mus oder Bar­ba­rei« kennt jeder gebil­det Mar­xist in Deutsch­land. Sie hat das – auf Fried­rich Engels Bezug neh­mend – in ihrer Schrift über die Kri­se der Sozi­al­de­mo­kra­tie aller­dings nicht auf die­se drei Wor­te redu­ziert geschrie­ben, son­dern davon gespro­chen, die bür­ger­li­che Gesell­schaft ste­he »vor einem Dilem­ma, ent­we­der Über­gang zum Sozia­lis­mus oder Rück­fall in die Bar­ba­rei«. Die Ereig­nis­se wer­den auf die­sen Punkt zulau­fen. Für das 85-Mil­lio­nen-Volk Deutsch­lands ist ange­sichts der seit 1989 täg­lich voll­zo­ge­nen Het­ze gegen die DDR der Dilem­ma-Aspekt die­ses Gedan­kens beson­ders ins Auge zu fas­sen. Selbst wenn die Mil­lio­nen die­ses Lan­des die ihnen dro­hen­de Gefahr eines Falls in die Bar­ba­rei in den Blick bekom­men, steht ihnen der Aus­weg des Sozia­lis­mus erst dann offen, wenn es der an Marx und Engels ori­en­tier­ten Par­tei gelingt, die Fra­ge des Über­gangs zum Sozia­lis­mus nicht als Teil eines Dilem­mas, son­dern als Teil einer Hoff­nung wach­sen zu lassen.