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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mit Herz und mit Hand

Es war weder eine freund­li­che Auf­for­de­rung noch ein Vor­schlag zur Güte, son­dern ein Befehl, was da die west­deut­schen Mini­ster­prä­si­den­ten von dem ame­ri­ka­ni­schen, dem bri­ti­schen und dem fran­zö­si­schen Gou­ver­neur am 1. Juli 1948 in Frank­furt a. Main ent­ge­gen­nah­men. Die­se »Frank­fur­ter Doku­men­te« ent­hiel­ten nichts Gerin­ge­res als den Auf­trag, »in nur zwei Mona­ten eine ver­fas­sungs­ge­ben­de Ver­samm­lung ein­zu­be­ru­fen«, deren Mit­glie­der »eine demo­kra­ti­sche Ver­fas­sung aus­ar­bei­ten« soll­ten, »die eine Regie­rungs­form des föde­ra­li­sti­schen Typs schafft«.

Es war der Auf­trag zur Erfin­dung der Bun­des­re­pu­blik, wie Sabi­ne Böh­ne-Di Leo ihr erzäh­len­des Sach­buch zur Ent­ste­hung des Grund­ge­set­zes beti­telt hat, das Anfang März im Ver­lag Kie­pen­heu­er & Witsch erschie­nen ist. Schon weni­ger als ein Jahr nach der Frank­fur­ter Befehls­aus­ga­be war der Auf­trag ausgeführt.

Am Mon­tag, dem 23. Mai 1949, vor knapp 75 Jah­ren also, schlug die Geburts­stun­de der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Unter Orgel­klän­gen tra­ten damals die 61 Män­ner und vier Frau­en des Par­la­men­ta­ri­schen Rates im Sit­zungs­saal der Päd­ago­gi­schen Aka­de­mie in Bonn in alpha­be­ti­scher Rei­hen­fol­ge nach vor­ne, »um am Tisch mit der Deutsch­land­fah­ne das Grund­ge­setz zu unter­schrei­ben« und damit sei­ne Ver­kün­dung zu besie­geln. Alle lei­ste­ten die Unter­schrift, bis auf die bei­den KPD-Abge­ord­ne­ten Max Rei­mann und Heinz Ren­ner. »Ich unter­zeich­ne nicht die Spal­tung Deutsch­lands«, soll Ren­ner der Ver­samm­lung zuge­ru­fen haben.

In den zurück­lie­gen­den zehn Mona­ten hat­te der »deut­sche Schick­sals­auf­trag« (Böh­ne-Di Leo) mehr­mals kurz vor dem Schei­tern gestan­den. Zu groß schie­nen die Gegen­sät­ze zwi­schen den Akteu­ren aus unter­schied­li­chen poli­ti­schen Par­tei­en, zu unüber­sicht­lich die Lage in den Besat­zungs­zo­nen, zu unter­schied­lich die Vor­stel­lun­gen der Sie­ger­mäch­te von einem neu­en deut­schen Staat, zu gegen­sätz­lich ihre Inter­es­sen, und alles wur­de über­schat­tet und gefähr­det durch den auf­zie­hen­den Kal­ten Krieg. Die Ein­tracht der Anti­hit­ler­ko­ali­ti­on war zer­bro­chen. Am 4. April 1949 grün­de­ten die USA, Kana­da und zehn west­eu­ro­päi­sche Län­der in Washing­ton die Nato und ver­pflich­te­ten sich zum gegen­sei­ti­gen Bei­stand im Fal­le eines Angriffs. Das Gespenst eines Drit­ten Welt­kriegs droh­te sich zu materialisieren.

Das Chur­chill zuge­schrie­be­ne Zitat: »Wir haben das fal­sche Schwein geschlach­tet« ist wohl ähn­lich apo­kryph, wie das Lenin zuge­schrie­be­ne Wort von der Kon­trol­le, die bes­ser als Ver­trau­en sein soll. Aber es traf »den Nagel auf den Kopf« in der sich nach 1945 rasch ent­wickeln­den Gemenge­la­ge: hier die Sowjet­uni­on, die den größ­ten Blut­zoll im Kampf gegen Nazi-Deutsch­land gezahlt hat­te und in deren Ein­fluss­be­reich jetzt wei­te Tei­le Mit­tel- und Ost­eu­ro­pas lagen, dort die drei west­li­chen Alli­ier­ten USA, Groß­bri­tan­ni­en und Frank­reich, die über eine Con­tain­ment- und spä­ter über ihre Roll­back-Poli­tik Front mach­ten gegen die ter­ri­to­ria­le und ideo­lo­gi­sche Aus­brei­tung der Sowjet­uni­on und des Kom­mu­nis­mus. Die dabei aber gleich­zei­tig bestrebt waren, die eige­ne Ein­fluss­sphä­re zu erwei­tern. Und mit­ten­drin das vier­ge­teil­te Deutsch­land mit dem vier­ge­teil­ten, für bei­de Lager geo­stra­te­gisch wich­ti­gen Ber­lin. Die ehe­ma­li­ge Haupt­stadt, jetzt eine Insel mit­ten in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne, war gera­de von Sta­lin abge­rie­gelt wor­den, als Reak­ti­on auf die Ein­füh­rung der D-Mark im West­teil der Stadt. Die Ame­ri­ka­ner hat­ten eine spek­ta­ku­lä­re Luft­brücke zur Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung gestar­tet, ande­re Staa­ten schlos­sen sich an.

Auch dem mit der Mate­rie nicht ver­trau­ten Lai­en führt Sabi­ne Böh­ne-Di Leo schlüs­sig vor Augen, wie die Par­la­men­ta­ri­er um die Regeln für die künf­ti­ge Repu­blik und die rich­ti­gen Leh­ren aus dem Natio­nal­so­zia­lis­mus gerun­gen haben. Wie­viel Macht sol­len die Län­der im neu­en föde­ra­len Staat haben? Was ist mit einem Recht auf Asyl, das die Erfah­run­gen aus der NS-Zeit beher­zigt? Wie steht es um das Recht der Mei­nungs­frei­heit? Ist es nicht höch­ste Zeit, die Gleich­be­rech­ti­gung zwi­schen Män­nern und Frau grund­ge­setz­lich zu garan­tie­ren? Wird es nicht bei der Grün­dung eines sepa­ra­ten West­staa­tes, wie es die Ame­ri­ka­ner, Bri­ten und Fran­zo­sen ver­lan­gen, zur Tei­lung Deutsch­lands und der alten Haupt­stadt kom­men? Soll über­haupt etwas End­gül­ti­ges geschaf­fen wer­den, bevor Ber­lin mit den übri­gen Zonen wie­der zu einer Ein­heit gekom­men ist? Wo soll zukünf­tig die deut­sche Haupt­stadt sein?

Bei aller Unüber­sicht­lich­keit, schreibt die Autorin, stand eines »für die west­deut­schen Poli­ti­ker der ersten Stun­de fest: Sie (…) wol­len das Land zurück­füh­ren in die Gemein­schaft der euro­päi­schen Völ­ker. Sie wer­den die Deut­schen zu Demo­kra­tie und Frie­den erzie­hen.« Zu die­sen Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern der ersten Stun­de, die an der Erfin­dung der Bun­des­re­pu­blik mit­ar­bei­te­ten, gehör­ten: Car­lo Schmid (SPD), stell­ver­tre­ten­der Staats­prä­si­dent und Justiz­mi­ni­ster von Würt­tem­berg-Hohen­zol­lern; Max Brau­er (SPD), Erster Ham­bur­ger Bür­ger­mei­ster; er hat­te den Begriff »Grund­ge­setz« – statt: Ver­fas­sung – in die Dis­kus­si­on ein­ge­bracht; Kon­rad Ade­nau­er (CDU), der ehe­ma­li­ge Köl­ner Ober­bür­ger­mei­ster und von 1920 bis 1933 Prä­si­dent des preu­ßi­schen Staats­ra­tes, »ein Alt­mei­ster par­la­men­ta­ri­scher Tak­tik«, nach eige­ner Inter­pre­ta­ti­on als gewähl­ter Vor­sit­zen­der des Par­la­men­ta­ri­schen Rats »bis auf wei­te­res allei­ni­ger Ver­tre­ter des deut­schen Vol­kes gegen­über den Alli­ier­ten«; Eli­sa­beth Sel­bert (SPD), die schon die hes­si­sche Lan­des­ver­fas­sung mit­ge­schrie­ben hat­te; zusam­men mit Frie­de­ri­ke Nadig (SPD) aus Nord­rhein-West­fa­len focht sie in den näch­sten Mona­ten für die Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter; aus Nord­rhein-West­fa­len kam von der CDU Hele­ne Weber und von der Zen­trums­par­tei Hele­ne Wes­sel, bei­de »kämp­fe­ri­sche Voll­blut­po­li­ti­ke­rin­nen mit lan­ger Ver­bands­er­fah­rung«; die Kom­mu­ni­sten Max Rei­mann und Hugo Paul, der nach kur­zer Zeit dem ehe­ma­li­gen Esse­ner Ober­bür­ger­mei­ster und nord­rhein-west­fä­li­schen Ver­kehrs­mi­ni­ster Heinz Ren­ner Platz machen muss­te; von der FDP kamen Tho­mas Deh­ler und Theo­dor Heuss, der spä­te­re erste Bun­des­prä­si­dent. Jedes drit­te Mit­glied des Rats war über 60. Die Sitz­ver­tei­lung ent­sprach den Macht­ver­hält­nis­sen in den west­deut­schen Land­ta­gen: SPD und CDU/​CSU hat­ten jeweils 27 Stim­men, die FDP fünf, die KPD, die Deut­sche Par­tei und das katho­li­sche Zen­trum jeweils zwei.

Sabi­ne Böh­ne-Di Leo ist nicht nur Pro­fes­so­rin für Poli­tik an der Hoch­schu­le Ans­bach, son­dern auch für Jour­na­lis­mus. Dies gereicht dem Buch zum Vor­teil. Ihre Dar­stel­lung kommt unprä­ten­ti­ös und ohne pro­fes­so­ra­len Duk­tus daher, was sich sehr för­der­lich auf die Les­bar­keit aus­wirkt. Das Buch ori­en­tiert sich an dem in der Bun­des­re­pu­blik vor­herr­schen­den poli­tisch-histo­ri­schen Main­stream. Aber auch wer die dama­li­gen histo­ri­schen Vor­gän­ge und Ent­schei­dun­gen anders beur­teilt, kann aus der vor­lie­gen­den Dar­stel­lung der Abläu­fe und Dis­kus­sio­nen einen Gewinn ziehen.

Zurück nach Bonn, in den Mai 1949. Die Abge­ord­ne­ten des Par­la­men­ta­ri­schen Rates erhe­ben sich von ihren Plät­zen, wäh­rend der Prä­si­dent das Inkraft­tre­ten des Grund­ge­set­zes ver­kün­det. Und dann sin­gen sie, nach geta­ner Arbeit sicher­lich fei­er­lich und aus vol­ler Keh­le, in Erman­ge­lung einer deut­schen Natio­nal­hym­ne das 1820 von Hans Fer­di­nand Maß­mann gedich­te­te Lied Gelüb­de, auf das sie sich auf Vor­schlag des SPD-Abge­ord­ne­ten Car­lo Schmid ver­stän­digt hatten:

Ich habe mich ergeben
Mit Herz und mit Hand
Dir, Land voll Lieb und Leben
Mein deut­sches Vaterland.

Die­ser Text wur­de in den fol­gen­den Jah­ren bei offi­zi­el­len Anläs­sen gesun­gen, bis sich Bun­des­prä­si­dent Theo­dor Heuß 1952 auf die drit­te Stro­phe des von August Hein­rich Hoff­mann von Fal­lers­le­ben 1841 auf der Insel Hel­go­land ver­fass­ten Gedich­tes Lied der Deut­schen als Natio­nal­hym­ne fest­leg­te, in der es ein­gangs heißt:

Einig­keit und Recht und Freiheit
für das deut­sche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
brü­der­lich mit Herz und Hand!

Ob dabei jemand auf­ge­fal­len ist, dass in bei­den Lie­dern eine Zei­le fast iden­tisch ist? Jeden­falls haben die Mit­glie­der des Par­la­men­ta­ri­schen Rats ihren Auf­trag mit »Herz und Hand« erfüllt, mit Lei­den­schaft und prag­ma­ti­scher Ver­nunft. Dies haben sicher­lich auch ihre Kon­ter­parts in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne für sich in Anspruch genom­men, die vor der glei­chen Auf­ga­be stan­den. Die Ver­fas­sung der DDR trat vier­ein­halb Mona­te spä­ter, am 7. Okto­ber 1949, in Kraft. Die Tei­lung Deutsch­lands war damit ver­brieft und besiegelt.

So war ein­ge­tre­ten, wovor Loui­se Schroe­der (SPD) als amtie­ren­de Ober­bür­ger­mei­ste­rin von Ber­lin im Juli 1948 die Mini­ster­prä­si­den­ten gewarnt hat­te, in Dis­sens zu ihrem Par­tei­kol­le­gen Ernst Reu­ter, der am 7. Dezem­ber 1948 zum Ober­bür­ger­mei­ster gewählt wur­de und der unbe­dingt die Anbin­dung West-Ber­lins an die Bun­des­re­pu­blik errei­chen woll­te. Heu­te wis­sen wir: Schroe­ders »Visi­on eines ver­ein­ten Deutsch­lands wird erst viel spä­ter Wirk­lich­keit werden«.

Sabi­ne Böh­ne-Di Leo: Die Erfin­dung der Bun­des­re­pu­blik – Wie unser Grund­ge­setz ent­stand, Kie­pen­heu­er & Witsch, Köln 2024, 220 S., 23 €.