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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Brave New Europe

In For­eign Affairs erschien vor zwei Wochen eine »sen­sa­tio­nel­le« Neu­ig­keit. Die »welt­weit ein­fluss­reich­ste Fach­zeit­schrift« (Time Maga­zi­ne) für außen­po­li­ti­sche Stra­te­gien, von der US-ame­ri­ka­ni­schen Denk­fa­brik Coun­cil on For­eign Rela­ti­ons her­aus­ge­ge­ben, deckt eine »ver­bor­ge­ne Geschich­te der Diplo­ma­tie« zum Beginn des Russ­land-Kriegs um die Ukrai­ne auf! Die­se Geschich­te ist – auf­grund des Macht­kon­glo­me­rats aus Medi­en und Poli­tik – bis vor Kur­zem offi­zi­ell ver­bor­gen und abge­wie­gelt wor­den. Man kann­te die Vor­gän­ge. Woll­te aber nicht recher­chie­ren und wis­sen! Aus­nah­me: Die Ber­li­ner Zei­tung, die kürz­lich eini­ge Bei­trä­ge zu den Frie­dens­ver­hand­lun­gen zwi­schen Russ­land und der Ukrai­ne zwi­schen März und Mai 2022 veröffentlichte.

Was bedeu­tet es, wenn die geo­stra­te­gi­sche Zeit­schrift schlecht­hin, in der ver­schie­de­ne poli­tisch-mili­tä­ri­sche Stra­te­gien der US-Poli­tik und trans­at­lan­ti­scher Bünd­nis­part­ner dis­ku­tiert wer­den, Fak­ten ver­dich­tet? Der libe­ral-demo­kra­ti­sche Main­stream leug­ne­te bis­her diplo­ma­ti­sche Mög­lich­kei­ten für den Frie­den. Aber der Rei­he nach: Wenn öffent­lich gemacht wird, was an den Frie­dens­ver­hand­lun­gen betei­lig­te Akteu­re vor zwei Jah­ren erreicht haben, und dies in der füh­ren­den Fach­zeit­schrift der USA dar­ge­legt wird, hat es Bedeu­tung. Der Vor­marsch der rus­si­schen Armee in der Ukrai­ne, mit vie­len Opfern und Zer­stö­run­gen, hat Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen des Westens geschwächt, die­je­ni­gen Russ­lands gestärkt. Wäh­rend Deutsch­land als Vor­po­sten stra­te­gi­scher US-Inter­es­sen in Euro­pa »mehr Ver­ant­wor­tung« über­neh­men soll, um die Ukrai­ne im Abwehr­krieg zu stär­ken, kann mili­tä­risch das Ziel nicht erreicht wer­den ohne mas­si­ve Mili­tär­hil­fe der USA. Die­se ist in Höhe von 61 Mil­li­ar­den Dol­lar, zum Teil als Kre­dit, gera­de von Kon­gress und Senat bewil­ligt wor­den. Ein Wie­der­auf­grei­fen von Frie­dens­ver­hand­lun­gen wür­de nicht direkt an der Lage der Kriegs­si­tua­ti­on von März/​April 2022 anset­zen kön­nen, auch nicht an der Lage einer aus­ge­ge­be­nen Paro­le vom »Sieg der Ukrai­ne« und der »Nie­der­la­ge Russ­lands«, wie deut­sche und Nato-Exper­ten hofften.

Die plau­si­bel erschei­nen­de Zusam­men­fas­sung des Ver­laufs der Frie­dens­ver­hand­lun­gen in den Anfangs­wo­chen des Kriegs und der Ver­trags­ent­wür­fe und -ele­men­te in der Zeit­schrift For­eign Affairs ent­hält Anre­gun­gen zur Gestal­tung eines zukünf­ti­gen Frie­dens­ver­trags, so die Autoren: Samu­el Cha­rap, füh­ren­der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler der RAND-Cor­po­ra­ti­on, der sich für einen früh­zei­ti­gen Beginn von Nach­kriegs­pla­nun­gen ein­setz­te, und der sowje­tisch-bri­ti­sche Histo­ri­ker Ser­gey Rad­chen­ko, Pro­fes­sor an der Johns Hop­kins School of Advan­ced Inter­na­tio­nal Stu­dies, fäl­len in ihrem Bei­trag das bedeu­ten­de Urteil, dass die Diplo­ma­tie den Krieg in der Ukrai­ne 2022 hät­te been­den können!

Die Ver­hand­lungs­er­geb­nis­se sind jedoch als nicht erfolg­ver­spre­chend bei­sei­te­ge­scho­ben wor­den, weil die »Zeit noch nicht reif sei«, behaup­te­ten in Deutsch­land »Fach­leu­te« wie etwa Clau­dia Major, Car­lo Masa­la, Sön­ke Neit­zel u. v. a. Medien-»Sicherheitsexperten« sowie ehe­ma­li­ge Gene­rä­le der Bun­des­wehr und eine Arma­da kriegs­lü­ster­ner (die nicht den Frie­den, son­dern den (Ver­tei­di­gungs-)Krieg immer aus­grei­fen­der bis zum Sieg den­ken) Poli­ti­ker und Journalisten.

Die For­eign Affairs vom 16. April 2024 legen dar, dass die­se Gesprä­che weni­ge Wochen nach Kriegs­be­ginn zu einer Eini­gung hät­ten füh­ren kön­nen. Das »Istan­bu­ler Kom­mu­ni­qué« defi­nier­te den Rah­men für eine Eini­gung, die Unter­händ­ler wei­ter­führ­ten, bis die Gesprä­che Anfang Mai abbra­chen. »Inmit­ten der bei­spiel­lo­sen Aggres­si­on Mos­kaus«, schrei­ben Cha­rap und Rad­chen­ko, hät­ten die Rus­sen und die Ukrai­ner bei­na­he ein Abkom­men geschlos­sen, das den Krieg been­det und der Ukrai­ne mul­ti­la­te­ra­le Sicher­heits­ga­ran­tien und den Weg zu einer dau­er­haf­ten Neu­tra­li­tät und spä­ter zu sei­ner Mit­glied­schaft in der EU geeb­net hät­te. Die frü­he Offen­heit für Gesprä­che sei­tens Mos­kaus hat­ten auch mit dem Schei­tern des Vor­sto­ßes der rus­si­schen Armee auf Kiew zu tun. Die Ukrai­ne such­te einen Weg, sowohl die Aggres­si­on zu been­den als auch sicher­zu­stel­len, dass sie sich nicht wie­der­holt. Das Kom­mu­ni­qué war detail­liert, for­der­te unter ande­rem bei­de Sei­ten auf, in den näch­sten 15 Jah­ren eine fried­li­che Bei­le­gung ihres Streits um die Krim anzu­stre­ben. Putin stimm­te dem zu, weil sein Vor­marsch auf Kiew schei­ter­te und er die grund­le­gen­den Sicher­heits­in­ter­es­sen sei­nes Lan­des wah­ren woll­te. Am 29. März 2022 habe der Lei­ter der rus­si­schen Dele­ga­ti­on Medin­sky von einem Gip­fel­tref­fen gespro­chen, auf dem Putin und Selen­skyj den Ver­trag unter­schrei­ben wür­den. Auch nach den Ver­bre­chen in But­scha, Tage nach­dem Kolon­nen der rus­si­schen Armee die 25 Kilo­me­ter nord­öst­lich von Kiew gele­ge­ne Gemein­de erreich­ten, die Anfang April 2022 öffent­lich wur­den und in der For­de­rung des ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten mün­de­ten, Russ­land wegen der Ver­bre­chen aus dem UN-Sicher­heits­rat aus­zu­schlie­ßen, arbei­te­ten bei­de Sei­ten am Ver­trag wei­ter. Aktiv sei­en Ver­trags­ent­wür­fe unter­ein­an­der aus­ge­tauscht wor­den, berich­ten die Autoren auf­grund von Befra­gun­gen wich­ti­ger Ver­hand­lungs­teil­neh­mer. Es ging unter ande­rem um die wich­ti­ge Fra­ge, wie die Sicher­heits­ga­ran­tien beschaf­fen sein soll­ten, um den zah­len­mä­ßi­gen Bestand er ukrai­ni­schen Armee, deren Bewaff­nung und Sta­tio­nie­rung vor ihren Außen­gren­zen. War­um die Gesprä­che abge­bro­chen wur­den? »Russ­land zu schwä­chen« und eine stra­te­gi­sche Nie­der­la­ge bei­zu­brin­gen, ist eine Opti­on der USA und Nato-Staa­ten. Im Kon­text des mili­tä­ri­schen Rück­zugs der rus­si­schen Armee in den öst­li­chen Bereich der Ukrai­ne und der pro­pa­gier­ten Siegs­tra­te­gie erscheint die For­mu­lie­rung plau­si­bel, »Washing­ton und sei­ne Ver­bün­de­ten waren zutiefst skep­tisch, was die Aus­sich­ten für den diplo­ma­ti­schen Weg« anging. Ein Bün­del von Über­le­gun­gen habe den Opti­mis­mus, zu einem Sieg zu kom­men, ver­stärkt. Die Autoren been­den ihren pro­duk­ti­ven Bei­trag mit der Fest­stel­lung, dass ein end­gül­ti­ger Kom­pro­miss­text nicht zustan­de gekom­men war, aber ein über­grei­fen­der Rah­men für eine Eini­gung geschaf­fen wor­den sei. Die nun bewil­lig­te US-Mili­tär­hil­fe dürf­te dar­auf abzie­len, das Vor­drin­gen Russ­lands in der Ukrai­ne zum Ste­hen zu brin­gen. Töten und Zer­stö­ren, um bes­se­re Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen zu errei­chen? Die abneh­men­de Akzep­tanz der Bevöl­ke­run­gen in den USA und Deutsch­land für die­sen Krieg lässt eine wei­te­re Nie­der­la­ge des libe­ral-demo­kra­ti­schen Westens auf dem Schlacht­feld (Chas Fried­mann, außen­po­li­ti­scher US-Diplo­mat a. D.) mög­lich erscheinen.