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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Arbeiterklasse macht blau: Brexit

Vor gut 175 Jah­ren erschien der zwei­te Band der »Eng­li­schen Skiz­zen« des damals weit­hin bekann­ten Rei­se­schrift­stel­lers Johann Georg Kohl (1808–1878). Dar­in fin­det sich in dem Kapi­tel über die »unab­hän­gi­ge Stel­lung« Groß­bri­tan­ni­ens der merk­wür­dig aktu­ell schei­nen­de Pas­sus: »Zur Zeit der Gip­fel­macht Napo­le­ons stan­den die Eng­län­der, auf ihrer Insel fußend, allein frei und herr­schend dem gan­zen Con­ti­nen­te gegen­über, und obgleich nicht mehr auf krie­ge­ri­schem Fuße, befin­den sie sich doch in vie­ler Bezie­hung noch jetzt in die­ser Oppo­si­ti­on mit dem­sel­ben. […] Denn wäh­rend das Land in den letz­ten euro­päi­schen Ver­wicke­lun­gen mit sei­nen Armeen, mit sei­nem Gel­de, mit sei­nen Unter­hand­lun­gen über­all half und wirk­te, und wäh­rend es die Län­der und Län­der­stücke, wel­che an die ver­schie­de­nen Con­ti­nen­tal-Mäch­te vert­heilt wer­den soll­ten, durch sei­nen Ein­fluß zurecht schnei­den und arran­gi­ren half, ließ es davon doch nichts direct in sei­ne eige­ne Tasche fal­len, indem es sich auf sein Insel­ge­biet beschränk­te. […] Mehr als irgend­ein ande­rer Staat bil­det Eng­land jetzt eine eige­ne Welt für sich, folgt mehr als irgend­ein ande­res Volk sei­nen eige­nen Impul­sen und fühlt in sich selbst sei­nen Halt und Schwerpunkt.«

Seit der Nacht auf Frei­tag, den 13. Dezem­ber 2019, als in den 650 Wahl­krei­sen des – noch – Ver­ei­nig­ten König­reichs suk­zes­si­ve die sieg­rei­chen Abge­ord­ne­ten für das Unter­haus ver­kün­det wur­den, bil­det das Insel­reich aus uni­ons­eu­ro­päi­scher Sicht wahr­lich eine eige­ne Welt für sich, scheint der Brexit nicht mehr abwend­bar. Denn als die Bri­ten mor­gens auf die poli­ti­sche Land­kar­te schau­ten, hat­te sie sich über gro­ße Flä­chen in Tory-Blau gefärbt. Die Remai­ner jeden­falls beka­men bei der Wahl zwar in Schott­land, aber nicht in Eng­land, Wales und Nord­ir­land ihre Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten wie erhofft durch. Wäh­rend Nico­la Stur­ge­on mit ihrer pro-uni­ons­eu­ro­päi­schen Scot­tish Natio­nal Par­ty (SNP) von den 59 schot­ti­schen Man­da­ten sagen­haf­te 48 gewin­nen konn­te, erhiel­ten Jo Swin­son und ihre Mit­strei­te­rin­nen und Mit­strei­ter von den Libe­ral Demo­crats, die im gan­zen König­reich mit der unmiss­ver­ständ­li­chen Paro­le »Stop Brexit« den Wahl­kampf geführt hat­ten, ledig­lich elf Sit­ze (die Grü­nen sogar nur einen einzigen).

Die Libe­ral­de­mo­kra­ten, im Mai 2019 noch strah­len­de Gewin­ner der EU-Par­la­ments­wah­len, sind – trotz vie­ler Über­läu­fer aus der kon­ser­va­ti­ven Par­tei – kra­chend geschei­tert. Da Par­tei­che­fin Jo Swin­son sogar ihren Unter­haus­sitz ver­lor, blieb ihr nur der Rück­tritt, müs­sen die Par­tei­mit­glie­der nun eine neue Füh­rungs­fi­gur suchen. Einen kräf­ti­gen Schub hat zwei­fel­los das Stre­ben schot­ti­scher Natio­na­li­sten nach Unab­hän­gig­keit bezie­hungs­wei­se Bei­be­halt der EU-Mit­glied­schaft erhal­ten. Die SNP for­dert bereits ein erneu­tes Unab­hän­gig­keits­re­fe­ren­dum – und das dürf­te im kom­men­den Jahr ein hef­ti­ges poli­ti­sches Geran­gel mit dem Par­la­ment in Lon­don nach sich ziehen.

Und nun geht’s ans Ein­ge­mach­te. Boris John­son errang mit dem end­los wie­der­hol­ten Slo­gan »Get Brexit Done« einen zuvor nicht erwar­te­ten deut­li­chen Wahl­sieg für die Tories. Mit 365 gewon­ne­nen Unter­haus­sit­zen hat der Pre­mier in den kom­men­den fünf Jah­ren eine grö­ße­re Mehr­heit hin­ter sich als Mar­ga­ret That­cher ab 1987. Und damit enden nun erst ein­mal die Zei­ten einer in sich gespal­te­nen kon­ser­va­ti­ven Par­tei, deren prouni­ons­eu­ro­päi­sche Abge­ord­ne­te bis­lang einen dicken Stol­per­stein bei den mehr­fa­chen Unter­haus­ab­stim­mun­gen zur Imple­men­tie­rung des Brexits bil­de­ten. Da alle der nun frisch ins Unter­haus gewähl­ten Tories Boris John­son bereits zuge­si­chert haben, dem Aus­tritts­ge­setz zuzu­stim­men, dürf­te der jüngst zum Ende Janu­ar 2020 ver­ein­bar­te Voll­zug des Brexits ein­ge­hal­ten wer­den. Die dann anste­hen­den und über alles Inhalt­li­che ent­schei­den­den Ver­hand­lun­gen über das künf­ti­ge Ver­hält­nis des Ver­ei­nig­ten König­reichs zur EU, für die bis­lang nur der äußerst knap­pe Zeit­raum bis zum Ende des Jah­res 2020 vor­ge­se­hen ist, ver­spre­chen jede Men­ge Auf­re­gun­gen, Ärger und Span­nun­gen. Zwar ist John­son bis­lang hin­sicht­lich der Regie­rungs­plä­ne für die Aus­ge­stal­tung des künf­ti­gen Ver­hält­nis­ses zur EU vage geblie­ben; auch wird er wahr­schein­lich einen etwas gemä­ßig­te­ren Kurs, als von den har­ten Brexi­te­ers erwar­tet, fah­ren. Aber wer weiß – die hin­ter dem nun vom Volk und nicht nur von Par­tei­mit­glie­dern gewähl­ten Pre­mier ste­hen­de par­la­men­ta­ri­sche Mehr­heit ver­leiht unge­ahnt gro­ße Spiel­räu­me in den kom­men­den, zwei­fel­los strit­tig ver­lau­fen­den Aus­tritts­ver­hand­lun­gen. Ein No-deal wei­ter­hin inbegriffen.

Zurück zur Unter­haus­wahl. Die unter Jere­my Cor­byn weder ein­deu­tig für noch gegen den Brexit in den Wahl­kampf gezo­ge­ne Labour Par­ty ver­lor vie­le ihrer tra­di­tio­nell roten Wahl­krei­se und fuhr – in der inzwi­schen vier­ten Wahl­nie­der­la­ge in Fol­ge – mit nur 203 Sit­zen ihr schlech­te­stes Ergeb­nis seit 1935 ein. Seit­dem ist die alte Arbei­ter­par­tei tief gespal­ten und sind die Tage Cor­byns an der Par­tei­spit­ze gezählt – er will sein Amt bezie­hungs­wei­se die Hebel der Macht in der Par­tei aller­dings erst dann abge­ben, wenn sei­ne Nach­fol­ge geklärt ist. Es waren die Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler aus der Arbei­ter­klas­se im Nor­den und in der Mit­te Eng­lands, die der Labour Par­ty bei der Wahl den Rücken kehr­ten und in ihrem jewei­li­gen Wahl­kreis den Brexit, also einen Tory, wähl­ten. In Schott­land hält Labour übri­gens nur mehr einen Sitz … John­son und sei­ne cle­ve­ren Bera­ter Domi­nic Cum­mings und Isaac Levi­do hat­ten die Tory-Wahl­kam­pa­gne nicht zufäl­lig gezielt auf Nord- und Mit­tel­eng­land aus­ge­rich­tet, wo einst die Berg­bau­re­gio­nen und das indu­stri­el­le Herz­land für Wohl­stand gesorgt hat­ten und heu­te eine öko­no­mi­sche und sozia­le Bra­che herrscht, die die Men­schen in die Resi­gna­ti­on treibt und Wut aus­löst. Dass sich ihr Res­sen­ti­ment leicht gegen »Brüs­sel« rich­ten lässt, ist seit 2016 offensichtlich.

Wäh­rend die Tories es mit vie­len neu­en Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten schaff­ten, die Brexit-Befür­wor­ter aus den tra­di­tio­nel­len Labour-Wahl­krei­sen mas­sen­wei­se auf ihre Sei­te zu zie­hen, gelang es Cor­byn dage­gen kein biss­chen, die min­de­stens eben­so gro­ße, wenn nicht grö­ße­re Grup­pe der Remai­ner ins rote Boot zu holen. Bezeich­nen­der­wei­se konn­te Labour fast alle Lon­do­ner Wahl­krei­se hal­ten und teils sogar Zuge­win­ne erzie­len, weil die Par­tei bei den gut aus­ge­bil­de­ten und gut ver­die­nen­den – zumal jün­ge­ren – Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern ver­gleichs­wei­se gut ankommt, wäh­rend sie bei der fern der boo­men­den Haupt­stadt leben­den klas­si­schen Arbei­ter­klas­se – die in Groß­bri­tan­ni­en als sol­che all­tags­welt­lich durch­aus noch wahr­ge­nom­men wird – und den ärme­ren Men­schen zuneh­mend auf Ableh­nung und Des­in­ter­es­se stößt.

Die die Wahl – ganz im Sin­ne Boris John­sons – domi­nie­ren­de Brexit-Pro­ble­ma­tik soll­te frei­lich nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass gegen Labour laut den Umfra­gen noch zwei wei­te­re Akzep­tanz­schwie­rig­kei­ten zum Tra­gen kamen. Zum einen woll­ten vie­le Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler den nüch­tern wir­ken­den und durch Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fe geschwäch­ten Kan­di­da­ten Jere­my Cor­byn schlicht nicht zum Pre­mier erhe­ben, und zum ande­ren miss­trau­ten nicht weni­ge den vie­len Ver­spre­chun­gen im Wahl­pro­gramm – sie umfass­ten kosten­lo­ses Breit­band für alle, die Abschaf­fung der Stu­di­en­ge­büh­ren, die deut­li­che Erhö­hung der Aus­ga­ben für sozia­le und gesund­heit­li­che Zwecke und nicht zuletzt die Rena­tio­na­li­sie­rung von Ener­gie, Was­ser und Eisen­bahn. Wie es wohl mit der dem Socia­list Green New Deal ver­schrie­be­nen alten Arbei­ter­par­tei wei­ter­geht? Bis über eine Urwahl und die damit ver­bun­de­nen Rich­tungs­kämp­fe die neue Füh­rungs­spit­ze von Labour ins Amt geho­ben wor­den ist, wird Boris John­son wohl schon eine Wei­le regiert und womög­lich unge­wollt ver­ra­ten haben, wie schwer die vom Brexit erhoff­te Erlö­sung von allen Übeln wird.