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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Fall von Übertötung

Mit gro­ßen Schrit­ten nähern wir uns dem 9. Novem­ber. Das Datum hat in der deut­schen Geschich­te bereits mehr­fach eine beson­de­re Rol­le gespielt. In die­sem Jahr wer­den sich die Gei­ster ver­mut­lich schei­den: Wäh­rend die einen sich nach­denk­lich an die Reichs­po­grom­nacht 1938 erin­nern wer­den, bege­hen ande­re wahr­schein­lich mit über­gro­ßem Jubel den 30. Jah­res­tag der Öff­nung der Staats­gren­ze der DDR zur Bun­des­re­pu­blik. Wie­der ande­re zie­hen ver­mut­lich Bilanz, was ihnen die zurück­lie­gen­den Jahr­zehn­te seit 1989 per­sön­lich gebracht haben. Unter ihnen wird auch der eine oder ande­re sein, der spä­te­stens dann die Din­ge nüch­ter­ner betrach­tet und nicht nur Anlass zu über­schäu­men­der Freu­de hat.

Mit der Öff­nung der Staats­gren­ze ver­ban­den sich zunächst in kei­ner Wei­se Über­le­gun­gen, dass die DDR ein knap­pes Jahr spä­ter dem Gel­tungs­be­reich des Grund­ge­set­zes bei­tre­ten wür­de. Erst ein­mal waren die Wün­sche und Erwar­tun­gen doch ganz ande­re, auch in Bezug auf die wei­te­re Gestal­tung der Gesell­schaft inner­halb der DDR und die Ver­bes­se­rung der Situa­ti­on in den ver­schie­den­sten Berei­chen. Und auch als der Anschluss am 3. Okto­ber 1990 voll­zo­gen war, gab es genü­gend Mit­men­schen, die damit zunächst aus­schließ­lich posi­ti­ve Erwar­tun­gen ver­ban­den, auch weil es ihnen durch die maß­geb­li­chen Poli­ti­ker jener Tage, allen vor­an Hel­mut Kohl von der CDU, so ver­mit­telt wur­de. Die Ent­täu­schung kam erst spä­ter. Für nicht weni­ge war sie vor allem mit dem Ver­lust des Arbeits­plat­zes und der damit ein­her­ge­hen­den sozia­len Unsi­cher­heit ver­bun­den. Mas­sen­ent­las­sun­gen waren 1991/​92 im Osten Deutsch­lands an der Tages­ord­nung. Die noch durch Rechts­vor­schrift der Volks­kam­mer im März 1990 gebil­de­te Treu­hand­an­stalt lei­ste­te ihren Bei­trag dazu. Die neu­ge­won­ne­nen Mög­lich­kei­ten des öffent­li­chen Pro­te­stes gegen die­se Ent­wick­lun­gen erwie­sen sich in den mei­sten Fäl­len als fol­gen­los. Man konn­te für oder gegen alles Mög­li­che demon­strie­ren, nur die Wir­kung war in der Regel ver­hal­ten. Auch die gegen vie­le Kün­di­gun­gen geführ­ten Arbeits­rechts­pro­zes­se erwie­sen sich oft­mals nicht als zufrie­den­stel­len­de Lösung, da letzt­lich der ver­lo­ren­ge­gan­ge­ne Arbeits­platz nicht wie­der erklagt wer­den konn­te. Der eine oder ande­re Abfin­dungs­be­trag wur­de statt­des­sen gezahlt, konn­te aber immer nur für eine kur­ze Zeit eine Über­brückung dar­stel­len. In man­chen Tarif­ver­trä­gen oder ande­ren Ver­ein­ba­run­gen waren sol­che Abfin­dun­gen vor­ge­se­hen und wur­den oft auch ohne gericht­li­che Aus­ein­an­der­set­zung gezahlt. Aber dies führt zu kei­ner ande­ren Bewer­tung. Hin­zu kam, dass die Ost­deut­schen, die man noch bei der Öff­nung der Staats­gren­ze am 9. Novem­ber 1989 als »Brü­der und Schwe­stern« titu­liert hat­te, nicht sel­ten im Westen Deutsch­lands als unbe­quem emp­fun­den wur­den, weil sie sich über ihr mit­un­ter nicht gera­de ange­neh­mes Schick­sal beklag­ten. So ent­stand der Begriff von den »Jam­mer-Ossis«.

Inter­es­se am öst­li­chen Teil des neu gebil­de­ten »Vater­lan­des« bestand im geo­gra­phisch ent­ge­gen­ge­setz­ten Teil oft nur, wenn es um die Erschlie­ßung von Absatz­märk­ten oder das Ein­rich­ten einer »ver­län­ger­ten Werk­bank« ging. Dabei mach­te man sich gezielt zu Nut­ze, dass die Löh­ne und Gehäl­ter im Osten deut­lich gerin­ger waren, was gern damit begrün­det wur­de, dass die Lebens­hal­tungs­ko­sten dort auch deut­lich nied­ri­ger sei­en. In Bezug auf den Kauf von Lebens­mit­teln und ande­ren Waren des täg­li­chen Bedarfs traf dies über­haupt nicht zu. Auch bei den Mie­ten wur­de suk­zes­si­ve eine Anpas­sung nach oben vor­ge­nom­men. Bis heu­te haben wir die­se Form der Dis­kri­mi­nie­rung, die letzt­lich auch Aus­wir­kun­gen auf das Ren­ten­sy­stem hat, nicht voll­stän­dig überwunden.

Die Jah­re ver­gin­gen, und der ehe­mals in der DDR leben­de Teil der Bevöl­ke­rung ver­such­te, sich nach besten Kräf­ten den neu­en Gege­ben­hei­ten anzu­pas­sen und auch Fuß zu fas­sen. Eine ande­re Alter­na­ti­ve war auch nicht in Sicht. Das bedeu­te­te aller­dings kei­nes­wegs, dass nicht doch ein klei­ne­rer Teil davon sich wei­ter­hin für eine Ver­bes­se­rung der in Ost­deutsch­land herr­schen­den Ver­hält­nis­se ein­setz­te. Die Ergeb­nis­se waren lei­der eher mäßig.

Auch heu­te erge­ben Umfra­gen, dass noch immer etwa ein Fünf­tel der in West­deutsch­land leben­den Bevöl­ke­rung noch nie den Osten besucht hat und auch kei­nen Hehl dar­aus macht, sich nicht dafür zu inter­es­sie­ren. Selbst Ade­nau­er wur­de einst nach­ge­sagt, dass für ihn dort irgend­wo schon Sibi­ri­en begon­nen habe. So wur­de es schwer mit der wech­sel­sei­ti­gen Annä­he­rung, und Unter­schie­de blei­ben bis heu­te. Man­cher hat­te ange­nom­men, inner­halb von 30 Jah­ren »ver­wächst« sich das. Heu­te stel­len wir fest, dass dem nicht so ist, und Histo­ri­ker, Sozio­lo­gen und manch ande­re Wis­sen­schaft­ler suchen nach den Ursa­chen. Das von Wil­ly Brandt einst beschwo­re­ne Zusam­men­wach­sen des­sen, was zusam­men gehö­re, war eben doch leich­ter gesagt als dann voll­zo­gen. So müs­sen wir heu­te fest­stel­len, dass Ost­deut­sche sel­ten in Füh­rungs­po­si­tio­nen bei Mini­ste­ri­en, höhe­ren Bun­des­be­hör­den, aber auch gro­ßen Wirt­schafts­un­ter­neh­men gelan­gen. Aus einer aktu­el­len Ant­wort des Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­ri­ums an den Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Höhn ergibt sich, dass von 1750 Refe­rats­lei­tern in Bun­des­mi­ni­ste­ri­en und im Kanz­ler­amt nur 217 aus Ost­deutsch­land stam­men. Bei den Abtei­lungs­lei­tern in den Mini­ste­ri­en sind es nur drei von 121. Nach einer Stu­die der Uni­ver­si­tät Leip­zig für die Jah­re 2015/​16, die die Berei­che Poli­tik, Unter­neh­mens­vor­stän­de, Wis­sen­schaft, Medi­en (Chef­re­dak­teu­re), Justiz (Rich­ter) und Bun­des­wehr (Gene­rä­le) erfasst, beträgt der Anteil der Ost­deut­schen nur 23 Pro­zent. Ber­lin blieb dabei unbe­rück­sich­tigt. Die Unter­su­chung von 100 der größ­ten ost­deut­schen Unter­neh­men ergab, dass nur etwa ein Drit­tel aller Stel­len von Ost­deut­schen besetzt ist, bei den 19 Rek­to­ren ost­deut­scher Hoch­schu­len sind es ledig­lich drei, von 60 Staats­se­kre­tä­ren stam­men eben­falls nur drei aus Ost­deutsch­land. Dies, obgleich inzwi­schen eine Gene­ra­ti­on her­an­wuchs, die die DDR aus eige­nem Erle­ben kaum noch kennt und inso­fern auch nicht von den dor­ti­gen Lebens­um­stän­den »indok­tri­niert« sein kann, was wohl einer der stärk­sten Vor­be­hal­te nach 1990 in Bezug auf die Beschäf­ti­gung Ost­deut­scher in sol­chen Posi­tio­nen war. Man fragt sich besorgt, was ist es dann, wenn man es nicht mehr auf eine sozia­li­stisch aus­ge­rich­te­te Aus­bil­dung schie­ben kann? Eine schlüs­si­ge Ant­wort dar­auf hat mir bis­her noch nie­mand geben kön­nen. Den­noch müs­sen wir die Rea­li­tä­ten zur Kennt­nis nehmen.

Lei­der haben auch eta­blier­te Intel­lek­tu­el­le aus dem Westen dazu bei­getra­gen, den Men­schen im öst­li­chen Teil der neu­en BRD das Gefühl zu ver­mit­teln, sie sei­en wenig wert und Men­schen zwei­ter Klas­se. Noch immer steht für mich gera­de­zu sym­pto­ma­tisch die Äuße­rung des Anfang März ver­stor­be­nen Histo­ri­kers und Juri­sten Arnulf Baring (1932–2019), der 1991 in einem Gespräch mit dem Ver­le­ger Wolf Jobst Sied­ler bezo­gen auf die DDR sag­te: »Das Regime hat fast ein hal­bes Jahr­hun­dert die Men­schen ver­zwergt, ihre Bil­dung ver­hunzt. Jeder soll­te nur noch ein hirn­lo­ses Räd­chen im Getrie­be sein, ein wil­len­lo­ser Gehil­fe. Ob sich dort heu­te einer Jurist nennt oder Öko­nom, Päd­ago­ge, Psy­cho­lo­ge, Sozio­lo­ge, selbst Arzt oder Inge­nieur, das ist völ­lig egal. Sein Wis­sen ist auf wei­ten Strecken völ­lig unbrauch­bar. […] vie­le Men­schen sind wegen ihrer feh­len­den Fach­kennt­nis­se nicht wei­ter ver­wend­bar. Sie haben ein­fach nichts gelernt, was sie in eine freie Markt­ge­sell­schaft ein­brin­gen könn­ten.« Die Unge­heu­er­lich­keit, die in die­ser arro­gan­ten Bemer­kung steckt, macht deut­lich, mit wel­chem Blick der eine oder ande­re aus der gei­sti­gen Eli­te der BRD auf die Intel­lek­tu­el­len der frü­he­ren DDR blick­te. Bis heu­te bleibt mir uner­klär­lich, woher sol­che Men­schen die Berech­ti­gung nah­men, der­ar­ti­ge Wert­ur­tei­le zu fäl­len. Deut­li­cher konn­te man eigent­lich nicht zum Aus­druck brin­gen, dass man die Bür­ger aus der DDR nicht braucht bezie­hungs­wei­se nicht für ver­wen­dungs­fä­hig hält. Auch von Sei­ten der bun­des­deut­schen Poli­tik wur­de nahe­zu nichts als erhal­tens­wert betrachtet.

Wie Gre­gor Gysi zu Recht fest­stell­te, wur­de beim Bei­tritt der DDR an der Sym­bo­lik der alten Bun­des­re­pu­blik nichts geän­dert, weder die Fah­ne, noch die Staats­be­zeich­nung, die Natio­nal­hym­ne oder das Emblem. Hät­te man auch nur eines davon ver­än­dert, wäre auch den Men­schen in der frü­he­ren DDR ein ande­res Gefühl der »Auf­nah­me« in dem neu­en Staat gege­ben wor­den. Eine gemein­sa­me Ver­fas­sung hät­te eine beson­de­re Wir­kung ent­fal­ten können.

Die BRD selbst hat nie auf­ge­hört, über die DDR zu sie­gen, auch zu Zei­ten, wo es dazu aus deren Sicht nicht die gering­ste Not­wen­dig­keit mehr gab. Der Rechts­me­di­zi­ner nennt es wohl »Over­kill«, wenn einer Lei­che wei­ter­hin tod­brin­gen­de Ver­let­zun­gen zuge­fügt wer­den, obgleich das gewünsch­te Ergeb­nis doch schon längst erzielt wur­de. Mit Blick dar­auf, wie die DDR in man­chen Spiel­fil­men und Doku­men­ta­tio­nen heu­te dar­ge­stellt wird, ist die­ser Pro­zess noch nicht been­det. Vie­le nach­tei­li­ge The­sen und Vor­ur­tei­le, die mit wis­sen­schaft­li­chen Mit­teln nicht zu bele­gen waren, wer­den nun­mehr geschickt in Kri­mi­nal­stücke oder Fern­seh­fil­me über All­tags­pro­ble­me ein­ge­baut. Dort ist man nicht an Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen gebun­den und kann der Fik­ti­on frei­en Lauf las­sen. Auf die­se Wei­se wird bei einem Teil der Zuschau­er doch noch bewirkt, dass sol­che Behaup­tun­gen sich als schein­ba­re Wahr­hei­ten ein­prä­gen. Auch so kann man Geschichts­bil­der erzeu­gen, in Anleh­nung an den Aus­spruch, der Napo­le­on III. zuge­schrie­ben wird: »Geschich­te ist die Sum­me der Lügen, auf die sich die Gesell­schaft nach 30 Jah­ren geei­nigt hat!«