Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Lyrik als kulturelles Gedächtnis

Der Buch­händ­ler in der klei­nen Stadt kann­te mei­ne Vor­lie­be für lite­ra­ri­sche Ent­deckun­gen. Und so mach­te er mich, den 17-jäh­ri­gen Gym­na­sia­sten, 1959 auf ein gera­de erschie­ne­nes Taschen­buch aus der Rei­he rororo Klas­sik aufmerksam.

Sein roman­tisch-melan­cho­li­scher Titel brach­te eine Sai­te zum Klin­gen: »mensch­heits­däm­me­rung – ein doku­ment des expres­sio­nis­mus, neu her­aus­ge­ge­ben von kurt pin­thus«. Grö­ßer ging es ja nicht mehr. Die »Göt­ter­däm­me­rung« der Nibe­lun­gen war bekannt. Jetzt aber ein Abge­sang auf die Menschheit?

Was ich beim Kauf nicht wuss­te: dass ich ein wahr­haft epo­cha­les Werk in Wie­der­auf­la­ge in den Hän­den hielt. Was ich nicht kann­te: sei­ne 40-jäh­ri­ge Geschich­te. Erst nach und nach erschloss sich mir der zwi­schen den Buch­deckeln ver­bor­ge­ne lyri­sche Schatz.

Zur 100. Wie­der­kehr der Erst­ver­öf­fent­li­chung hat der Ernst Rowohlt Ver­lag im Okto­ber die Lyrik-Samm­lung als hoch­wer­ti­ge Aus­ga­be mit bedruck­tem Vor­satz und trans­pa­ren­tem Schutz­um­schlag erneut vor­ge­legt. Eine »der erfolg­reich­sten Lyri­kan­tho­lo­gien der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur­ge­schich­te – viel­leicht die fol­gen­reich­ste über­haupt« erhielt damit wie­der das For­mat, das ihr gebührt, und hat vom Äuße­ren her nichts mehr gemein mit dem »schnö­den« Taschen­buch des Jah­res 1959.

Mit der aktu­el­len Erin­ne­rungs­ar­beit begann im Febru­ar 2019 die von Nor­bert Wehr her­aus­ge­ge­be­ne Lite­ra­tur-Zeit­schrift Schreib­heft mit ihrem 60-sei­ti­gen Son­der­teil »100 Jah­re Mensch­heits­däm­me­rung«, zusam­men­ge­stellt von dem in Ber­lin leben­den Schrift­stel­ler und Über­set­zer Kon­stan­tin Ames. Eröff­net wird der Schwer­punkt mit dem­sel­ben Gedicht, das 1919 auch am Anfang der Samm­lung stand:

Jakob van Hod­dis Weltende

Dem Bür­ger fliegt vom spit­zen Kopf der Hut,

In allen Lüf­ten hallt es wie Geschrei.

Dach­decker stür­zen ab und gehen entzwei,

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wil­den Mee­re hupfen

An Land, um dicke Däm­me zu erdrücken.

Die mei­sten Men­schen haben einen Schnupfen.

Die Eisen­bah­nen fal­len von den Brücken.

Es war nie­mand ande­res als Johan­nes R. Becher, seit 1954 Mini­ster für Kul­tur in der DDR, der 1957, ein Jahr vor sei­nem Tod, in einem Bänd­chen mit dem Titel »Das poe­ti­sche Prin­zip« einen Lob­ge­sang auf die­se Zei­len ver­öf­fent­lich­te: »Mei­ne poe­ti­sche Kraft reicht nicht aus, um die Wir­kung jenes Gedich­tes wie­der­her­zu­stel­len, von dem ich jetzt spre­chen will. Auch die kühn­ste Phan­ta­sie mei­ner Leser wür­de ich über­an­stren­gen bei dem Ver­such, ihnen die Zau­ber­haf­tig­keit zu schil­dern, wie sie die­ses Gedicht […] für uns in sich barg.«

Das Schreib­heft druckt Bechers »hef­ti­ge Elo­ge« (Ames) ab, unge­wöhn­lich viel­leicht für alle, die Becher nur als Kul­tur­funk­tio­när ken­nen, der, wie es in einem DDR-Lexi­kon heißt, »sein gesam­tes Schaf­fen bewußt in den Dienst der pro­le­ta­ri­schen Revo­lu­ti­on und des sozia­li­sti­schen Auf­baus stell­te«. Aber: Becher begann mit expres­sio­ni­sti­scher Lyrik, und die Antho­lo­gie ver­öf­fent­licht 14 Tex­te von ihm, inklu­si­ve der »Hym­ne auf Rosa Luxemburg«.

Zwei­und­zwan­zig Dich­ter und eine Dich­te­rin, die Prot­ago­ni­sten des Expres­sio­nis­mus, sind in die­ser Samm­lung der Avant­gar­de-Lyrik ver­tre­ten: Becher, Benn, Däub­ler, Ehren­stein, Goll, Hasen­cle­ver, Heym, Heynicke, van Hod­dis, Klemm, Las­ker-Schü­ler, Leon­hard, Lich­ten­stein, Lotz, Otten, Rubi­ner, Schicke­le, Stad­ler, Stramm, Tra­kl, Wer­fel, Wol­fen­stein, Zech.

Kurt Pin­thus, der Her­aus­ge­ber, erläu­ter­te 1919 in sei­nem Vor­wort die Inten­ti­on: »Dies Buch nennt sich nicht nur ›eine Samm­lung‹. Es ist Samm­lung!: Samm­lung der Erschüt­te­run­gen und Lei­den­schaf­ten, Samm­lung von Sehn­sucht, Glück und Qual einer Epo­che – unse­rer Epo­che. Es ist gesam­mel­te Pro­jek­ti­on mensch­li­cher Bewe­gung aus der Zeit in die Zeit. Es soll nicht Ske­let­te von Dich­tern zei­gen, son­dern die schäu­men­de, chao­ti­sche, ber­sten­de Tota­li­tät unse­rer Zeit.«

Pin­thus, 1886 gebo­ren, floh 1937 in die USA. Sei­ne Wer­ke waren seit 1933 vom NS-Regime ver­bo­ten. Erst 1967 kehr­te er nach Deutsch­land zurück. Bis zu sei­nem Tod im Jahr 1975 arbei­te­te er im Deut­schen Lite­ra­tur­ar­chiv des Schil­ler-Natio­nal­mu­se­ums in Mar­bach am Neckar. Er war der bedeu­tend­ste Ver­mitt­ler des lite­ra­ri­schen Expres­sio­nis­mus in Deutsch­land. In der Heil­bron­ner Stra­ße 2 in Ber­lin-Schö­ne­berg, wo Pin­thus von 1926 bis 1932 leb­te, befin­det sich eine Hin­weis­ta­fel auf den Schrift­stel­ler und Literaturkritiker.

Für uns Nach­ge­bo­re­ne wur­de sei­ne »Mensch­heits­däm­me­rung« zum kul­tu­rel­len Gedächtnis.

»Mensch­heits­däm­me­rung – Sym­pho­nie jüng­ster Dich­tung«, her­aus­ge­ge­ben von Kurt Pin­thus, mit einem Nach­wort von Flo­ri­an Illies, Rowohlt Ver­lag, 423 Sei­ten, 34 € – Schreib­heft – Zeit­schrift für Lite­ra­tur, her­aus­ge­ge­ben von Nor­bert Wehr, Nr. 92, Febru­ar 2019, 15 €