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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Großer ist gegangen

Wir tra­fen uns auf Hid­den­see im Sep­tem­ber. Weni­ge Wochen vor sei­nem 91. Geburts­tag und Mona­te vor Coro­na. Alfred Kosing ver­ließ ein­mal im Jahr sein Exil in der Tür­kei, in das er sich in den neun­zi­ger Jah­ren bege­ben hat­te. Vor­nehm­lich wegen des Kli­mas, das sei­ner Frau bes­ser bekam als das hie­si­ge. Aber nicht nur des­halb. Er kehr­te gele­gent­lich nach Deutsch­land zurück, um sich wegen sei­ner fort­schrei­ten­den Augen­er­kran­kung behan­deln zu las­sen, um Freun­de zu tref­fen, um an ver­trau­ten Orten Urlaub zu machen – und um sein jüng­stes Buch vor­zu­stel­len. Zwi­schen 2008 und 2020 waren es neun Publi­ka­tio­nen bei der edi­ti­on ost. Und das bei ste­tig nach­las­sen­der Seh­fä­hig­keit. Inzwi­schen schrieb er in rie­sen­gro­ßen Let­tern, um den eige­nen Text lesen zu können.

Egon Krenz war mit der Fäh­re aus Stral­sund gekom­men, ich ließ mein Auto in Scha­pro­de ste­hen. In Vitte par­lier­ten wir meh­re­re Stun­den mit­ein­an­der. Weni­ger über Gott, mehr über die Welt. Kosing war Phi­lo­soph, aber zuneh­mend in ein Fach gewech­selt, das sich heu­te Poli­tik­wis­sen­schaft nennt. (Obgleich Poli­tik kaum etwas mit Wis­sen­schaft zu tun hat.) Er ana­ly­sier­te die Gegen­wart, sezier­te mes­ser­scharf und maß mit mar­xi­sti­scher Elle Ent­wick­lun­gen und Pro­zes­se. Das tat er auch dies­mal. Die Rus­so­pho­bie, die Chi­na-Feind­lich­keit des Westens, die Ent­wick­lung in den USA, das Welt­kli­ma, die Abwe­sen­heit von Theo­rie und histo­ri­schem Wis­sen bei den Lin­ken … Kein The­ma, das ihn nicht beschäf­tig­te. Nicht jedes Urteil teil­te der Ex-Poli­ti­ker Krenz, etwa das über Sta­lin und Trotz­ki oder die Grün­de unse­res Schei­terns. Kosing hat­te inten­siv Ori­gi­nal­quel­len in rus­si­schen Archi­ven stu­diert und Ursprung, Wesen und Wir­kung des Sta­li­nis­mus unter­sucht. Da kam er auch zu Schlüs­sen, die sich auf den Nach­hall bezo­gen, wel­cher bis in die Gegen­wart reicht. Die­se selbst­kri­ti­sche Hal­tung zog sich nahe­zu durch alle sei­ne Arbei­ten, etwa zum 100. Jah­res­tag der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on mit dem schlich­ten, wenn­gleich viel­deu­tig-pole­mi­schen Titel »Auf­stieg und Unter­gang des rea­len Sozialismus«.

Das Gespräch an jenem lau­en Spät­som­mer­tag auf Hid­den­see war, wie immer mit Kosing, anre­gend, kon­tro­vers und kon­struk­tiv. Kosing bewies mit bemer­kens­wer­ter gei­sti­ger Fri­sche ein­mal mehr – so sein soeben ver­stor­be­ner Weg­ge­fähr­te Her­bert Graf zu Kosings 90. –, dass er »zu den pro­duk­tiv­sten mar­xi­sti­schen Phi­lo­so­phen der ver­gan­ge­nen sie­ben Jahr­zehn­te« gehör­te. 1960 hat­te der ost­preu­ßi­sche Bau­ern­sohn die erste deut­sche grund­le­gen­de Arbeit über das Wesen der mar­xi­sti­schen Erkennt­nis- und Wis­sen­schafts­theo­rie ver­fasst, 1962 leg­te er eine über die Theo­rie der Natio­nen vor, es folg­ten phi­lo­so­phi­sche Wör­ter- und Lehr­bü­cher, Vor­trä­ge, über hun­dert fun­dier­te wis­sen­schaft­li­che Ver­öf­fent­li­chun­gen, die auch inter­na­tio­na­le Beach­tung und Aner­ken­nung fan­den. Seit den sieb­zi­ger Jah­ren gehör­te der DDR-Natio­nal­preis­trä­ger Kosing dem Insti­tut Inter­na­tio­nal de Phi­lo­so­phie (IIP), die Welt­aka­de­mie der Phi­lo­so­phen, in Paris an, in den acht­zi­ger Jah­ren war er Vize­prä­si­dent der Fédé­ra­ti­on Inter­na­tio­na­le des Socié­tés de Phi­lo­so­phie (FISP).

Nach dem stun­den­lan­gen Gespräch in Vitte, von dem kei­ner der Betei­lig­ten ahn­te, dass es unser letz­tes sein wür­de, brach­ten wir Krenz zur Fäh­re. Eini­ge, die den Ex-Staats­rats­vor­sit­zen­den und Ex-Gene­ral­se­kre­tär erkann­ten, baten dar­um, sich mit ihm foto­gra­fie­ren zu las­sen. Kosing erkann­te nie­mand, der Pro­phet gilt nichts im eige­nen Land. Das wis­sen wir. Alfred Kosing konn­te damit leben wie eben auch damit, dass es sei­ne Bücher nie in Best­sel­ler­li­sten schaff­ten. Es betrüb­te ihn ledig­lich, dass selbst die weni­gen Medi­en, denen er noch eine gewis­se Nähe zum Mar­xis­mus unter­stell­te, sei­ne Arbei­ten igno­rier­ten. Die intel­lek­tu­el­le Wei­te, die doch dem Mar­xis­mus inne­wohnt, hat­te man dort offen­kun­dig doch nicht begrif­fen oder eben dem Zeit­geist Tri­but gezollt.

Vor Jahr­zehn­ten schon hat­ten DDR-Ärz­te bei ihm Neu­ro­pa­thie dia­gno­sti­ziert, die sich mit den Jah­ren ver­stärk­te. Im Som­mer hat­ten Medi­zi­ner ihn in einer auf­wen­di­gen Bein-Ope­ra­ti­on, für die er sich finan­zi­ell ver­schul­den muss­te, zu hel­fen ver­sucht. Der Unter­neh­mung blieb der Erfolg ver­sagt. Am 21. Okto­ber ist Alfred Kosing in der Tür­kei gestor­ben. Er wird auch dort bestat­tet wer­den. Deutsch­land hat einen gro­ßen Den­ker ver­lo­ren. Und der Ver­le­ger einen Freund.