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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nach der Wahl ist vor der Wahl

In Ita­li­en haben bei den Regio­nal- und Gemein­de­wah­len am 20./21. Sep­tem­ber und bei den fol­gen­den kom­mu­na­len Nach­wah­len wie­der alle gewon­nen und alle ver­lo­ren – je nach der Per­spek­ti­ve und je nach­dem, auf wel­chen der vor­he­ri­gen Wahl­ter­mi­ne man die Ergeb­nis­se der Regio­nal­wah­len pro­ji­ziert. Stärk­ste (un-)politische Kraft blei­ben in jedem Fall die Nicht­wäh­ler mit über 40 Pro­zent – landesweit.

Wah­len fan­den in den 20 Regio­nen bis in die 90er Jah­re alle fünf Jah­re fast gleich­zei­tig statt und wur­den meist auch als natio­na­ler Test gese­hen. Doch nach dem Zusam­men­bruch des Par­tei­en­sy­stems ab 1992 wur­de auf allen Regie­rungs­ebe­nen das bis­he­ri­ge Ver­hält­nis­wahl­recht zugun­sten von Mehr­heits­wahl­me­cha­nis­men ver­än­dert. Ber­lus­co­nis Regie­run­gen waren feder­füh­rend bei den Ver­fas­sungs­än­de­run­gen zugun­sten prä­si­dia­ler Regie­rungs­sy­ste­me auf allen Ebe­nen. Die seit 1995 durch ein­fa­che Direkt­wahl erko­re­nen regio­na­len Prä­si­den­ten agie­ren denn auch mehr und mehr als soge­nann­te governatori/​governors im pro­pa­gier­ten US-Jar­gon und wer­den heu­te gro­ßen­teils schon über­wie­gend von eige­nen Bür­ger­li­sten gewählt. Dass die­se auch nach mehr regio­na­ler Auto­no­mie stre­ben­de Ent­wick­lung die immer schwä­che­ren natio­na­len Regie­run­gen zu unter­mi­nie­ren droht, liegt auf der Hand. War das Land 2015 noch in 16 von 20 Regio­nen von Mit­te-links-Koali­tio­nen regiert, so ist es heu­te genau umge­kehrt. Seit 2016 hat sich die Lega unter Matteo Sal­vi­ni lan­des­weit aus­ge­brei­tet und regiert heu­te – neben ande­ren Rechts­ko­ali­tio­nen – in 16 von 20 Regionen.

Beim jüng­sten Wahl­gang ging es also vor allem um die Fra­ge, ob der Trend gestoppt und in den bei­den wich­ti­gen Hoch­bur­gen der ein­sti­gen Lin­ken – Tos­ka­na und Apu­li­en – die Stel­lung der Demo­kra­ten (PD) gehal­ten wer­den kann.

Andern­falls woll­te das Rechts­bünd­nis, in dem sowohl Sal­vi­nis Lega als auch Ber­lus­co­nis For­za Ita­lia Stim­men an Gior­gia Melo­nis rechts­extre­me Fra­tel­li d’Italia ver­lo­ren, anschlie­ßend natio­na­le Neu­wah­len erzwin­gen, da die Zusam­men­set­zung des natio­na­len Par­la­ments (mit noch 32 Pro­zent 5-Ster­ne-Bewe­gun­g/M5S seit 2018) längst nicht mehr dem heu­ti­gen Wäh­ler­wil­len ent­spricht. M5S kann regio­nal und kom­mu­nal nur noch auf Zustim­mung im ein­stel­li­gen Bereich ver­wei­sen. Dort war M5S aller­dings auch vor­her wäh­rend ihres nun­mehr zehn­jäh­ri­gen Bestehens fast nir­gends verankert.

Da jetzt nur­mehr die Regi­on Mar­ken in Mit­tel­ita­li­en an die Rech­te ver­lo­ren ging, füh­len sich die Demo­kra­ten (PD) indi­rekt bestärkt in der amtie­ren­den natio­na­len Regie­rungs­ko­ali­ti­on mit der wei­ter geschwäch­ten 5-Ster­ne-Bewe­gung unter Regie­rungs­chef Con­te. M5S muss eine Nie­der­la­ge ein­ge­ste­hen und droht sich wie­der ein­mal zu spal­ten, denn die ursprüng­lich rabia­te Anti-Estab­lish­ment-Bewe­gung soll sich nun defi­ni­tiv zu einer Regie­rungs­par­tei in Umar­mung mit den Demo­kra­ten mau­sern – wenn sie mit Lui­gi Di Maio denn wei­ter regie­ren will. Dar­in sehen die Anhän­ger der »Bewe­gung« eine töd­li­che Gefahr, erhe­ben alte For­de­run­gen gegen ein Regie­rungs­bünd­nis und neue für einen poli­ti­schen Neu­an­fang. Anfang Novem­ber soll es eine Klä­rung mit der Basis über die Inter­net-Platt­form Rous­se­au geben. Auch die Demo­kra­ten wol­len sich auf ihrem Par­tei­tag Anfang Dezem­ber neu sor­tie­ren. Die noch mit­re­gie­ren­den klei­nen Links­par­tei­en wur­den von den Wäh­lern eben­falls nicht gestärkt und zit­tern nun vor einer ange­kün­dig­ten 5-Pro­zent-Sperr­klau­sel im zu refor­mie­ren­den Wahlrecht.

Im Wider­spruch zum jüng­sten Wäh­ler­wil­len füh­len sich M5S und vor allem Di Maio durch das gleich­zei­ti­ge lan­des­wei­te Refe­ren­dum bestä­tigt, bei dem 70 Pro­zent der Stim­men auf die Ver­rin­ge­rung der Abge­ord­ne­ten­zahl von ins­ge­samt 945 in bei­den Kam­mern auf künf­tig nur noch 600 ent­fie­len. Die popu­li­sti­sche For­de­rung aus dem frü­hen Kampf von M5S gegen »die da oben« fand heu­te gro­ße Zustim­mung vor allem in rech­ten Krei­sen, die das Par­la­ment zugun­sten der Exe­ku­ti­ve noch wei­ter zurück­drän­gen möch­ten, letzt­lich immer im Hin­blick auf eine lang­er­streb­te Präsidialrepublik.

Nun steht die vor­erst geret­te­te, aber nach wie vor hete­ro­ge­ne Regie­rung Con­te II also vor kom­ple­xen Auf­ga­ben, die kei­nen Auf­schub erlau­ben: die über­fäl­li­ge Wahl­rechts­re­form ein­lei­ten – mit nun auch nöti­ger Neu­de­fi­nie­rung aller Wahl­krei­se – und den Coro­na-Haus­halt 2021 mit wei­te­rer Schul­den­auf­nah­me in Erwar­tung der Gel­der des EU-Wie­der­auf­bau­fonds ver­ab­schie­den. Dafür wur­den schon Hun­der­te Pro­jek­te für drin­gend nöti­ge Inve­sti­tio­nen im gan­zen Land zusam­men­ge­tra­gen, die stark redu­ziert und in Grund­zü­gen Mit­te Okto­ber in Brüs­sel ein­ge­reicht wer­den muss­ten, um von dort irgend­wann 2021 die Mil­lio­nen bezie­hungs­wei­se Mil­li­ar­den zu erhal­ten, auf die alle hof­fen und bau­en. Ange­sichts des­sen erhob Car­lo Bonel­li, Prä­si­dent des ita­lie­ni­schen Arbeit­ge­ber­ver­bands, gera­de laut­hals sei­ne Stim­me gegen den Aus­bau drin­gend nöti­ger sozia­ler Hilfs­maß­nah­men. Er for­dert statt­des­sen wei­te­re Staats­hil­fen für die Indu­strie, die dann Arbeits­plät­ze schaf­fen soll. Seit März 2019 gibt es ein Bür­ger­geld (Red­di­to di cit­ta­di­nan­za) für Arme (Zuschüs­se von durch­schnitt­lich rund 500 Euro monat­lich), das von M5S durch­ge­setzt wur­de und eine mage­re Kopie von Hartz IV ist. Es soll auch Arbeits­lo­se in die Arbeit zurück­füh­ren, nur feh­len dafür nicht nur funk­tio­nie­ren­de Ver­mitt­lungs­struk­tu­ren, son­dern vor allem die Arbeits­plät­ze selbst. Immer­hin erreicht es etwa 2,8 Mil­lio­nen Bedürf­ti­ge und hat deren Über­le­ben bis­her auch in der Coro­na­kri­se gesi­chert. Um die Sozi­al­hil­fen zu ver­bes­sern, wäre die inhalt­li­che Über­ein­kunft einer Regie­rungs­ko­ali­ti­on nötig, doch damit tun sich die Poli­ti­ker schwer, eben­so bei einer anste­hen­den Steu­er­re­form. Es ist bis­her noch kei­ner der 66 Regie­run­gen des Lan­des seit dem Krieg gelun­gen, die ende­mi­sche Steu­er­flucht zu begren­zen, die der All­ge­mein­heit jedes Jahr mehr als 110 Mil­li­ar­den Euro ent­zieht. Wenn die Gel­der dem Staats­haus­halt zur Ver­fü­gung stün­den bezie­hungs­wei­se seit Jahr­zehn­ten gestan­den hät­ten, gäbe es kei­ne Staats­ver­schul­dung heu­ti­gen Aus­ma­ßes und kein skan­da­lö­ses Ver­kom­men der Infra­struk­tu­ren. Allein jüng­ste Unwet­ter haben in Nord­ita­li­en wie­der hal­be Land­stri­che weggespült!

Für die Zukunft sind vor allem weni­ger pre­kä­re Arbeits­be­din­gun­gen wich­tig – aber in die­ser Fra­ge möch­ten alle Unter­neh­mer wei­ter­hin mög­lichst freie Hand haben. Die Gewerk­schaf­ten hal­ten dage­gen, und die Metal­ler kün­dig­ten eine Streik­se­rie ab Novem­ber an, um end­lich ihre seit lan­gem ein­ge­fro­re­nen Löh­ne zu über­win­den. Über­haupt ste­hen neue Tarif­ver­trä­ge seit lan­gem an, zum Bei­spiel die der Ange­stell­ten im pri­va­ten Gesund­heits­we­sen seit 14 Jahren!

Die Schwie­rig­keit eines nöti­gen Per­spek­tiv­wech­sels lässt sich am Bei­spiel Vene­digs illu­strie­ren. Dort stand die Stadt­re­gie­rung mit ihrem 2015 nur knapp gewähl­ten Bür­ger­mei­ster Lui­gi Brug­n­a­ro (s. Ossietzky 11/​15 und 14/​15) jetzt erneut zur Wahl – ein Klein-Ber­lus­co­ni vom vene­zia­ni­schen Fest­land. Er will die zer­stö­re­ri­sche tou­ri­sti­sche Mono­kul­tur der Stadt kei­nes­wegs rück­bau­en, etwa durch Schaf­fung alter­na­ti­ver Arbeits­plät­ze. Dies wäre zum Bei­spiel durch eine Neu­struk­tu­rie­rung des größ­ten euro­päi­schen, weit­ge­hend brach­lie­gen­den und kon­ta­mi­nier­ten Indu­strie­ge­bie­tes von Mar­ghe­ra am Fest­land mög­lich. Der Bür­ger­mei­ster will hin­ge­gen das aus­ge­dehn­te vene­zia­ni­sche Fest­land am bis­he­ri­gen – zum Teil durch Coro­na ein­ge­bro­che­nen – Vene­dig-Boom teil­ha­ben las­sen und lässt also wei­te­re tou­ri­sti­sche Kapa­zi­tä­ten pla­nen und bau­en. Die Boden­prei­se sol­len dann wie­der stei­gen, und auch die gro­ßen Kreuz­fahrt­schif­fe sol­len wei­ter nach Vene­dig fah­ren dür­fen, zwar nicht mehr am Mar­kus­platz vor­bei, aber doch durch die Lagu­ne bis zum Anle­ge­platz in Por­to Mar­ghe­ra. Die Fest­land-Vene­zia­ner haben Brug­n­a­ro mehr­heit­lich wie­der­ge­wählt, nur in der Was­ser­stadt über­wog knapp ein eher blas­ser Kan­di­dat der Demo­kra­ten, aber die­se Par­tei hat hier auf lan­ge Zeit ver­spielt, denn sie wird haupt­säch­lich mit­ver­ant­wort­lich gemacht für den fort­wäh­ren­den Skan­dal um das noch unvoll­ende­te Hoch­was­ser­schutz­pro­jekt MoSE (Modu­lo Spe­ri­men­ta­le Elett­ro­mec­ca­ni­co). Das Sturm­flut­sperr­werk hat die Stadt zwar kürz­lich pro­be­wei­se erst­ma­lig vor einer klei­nen Flut geschützt, aber die Funk­ti­on ist noch immer nicht gesi­chert, die offi­zi­el­le Abnah­me fehlt noch. Das bedeu­tet einen wei­te­ren Auf­schub der Inbe­trieb­nah­me bis Ende 2021. Eine nen­nens­wer­te alter­na­ti­ve Lin­ke kon­sti­tu­ier­te sich in der Stadt nicht, sie­ben bun­te Listen ver­schie­den­ster Bür­ger­initia­ti­ven war­ben für unter­schied­li­che Kandidaten.

Über­haupt zeig­te der jüng­ste Wahl­gang wie­der deut­lich, dass die mei­sten Kan­di­da­ten für die Lan­des­chef- und Bür­ger­mei­ster­po­sten mit gro­ßem Ego auf per­sön­li­chen Listen reüs­sie­ren – eine kla­re Fol­ge des Nie­der­gangs eines reprä­sen­ta­ti­ven Par­tei­en­sy­stems. In den gro­ßen Städ­ten (beson­ders Rom, Mai­land, Turin, Nea­pel, Bolo­gna), die im Früh­jahr 2021 ihre Bür­ger­mei­ster neu wäh­len, brin­gen sich die näch­sten Kan­di­da­ten schon in Stellung.

Auch die­se Ent­wick­lung hat­te Ros­s­a­na Ros­s­an­da, eine der ori­gi­nell­sten poli­ti­schen Den­ke­rin­nen und gleich­zei­tig eine unge­bro­che­ne kom­mu­ni­sti­sche Akti­vi­stin, seit Jahr­zehn­ten vor­her­ge­se­hen. Sie starb – luzi­de bis zum Ende – mit 96 Jah­ren in der Nacht zum 20. Sep­tem­ber, dem Wahl­tag, in Rom. Am 24. Sep­tem­ber gedach­ten ihrer stun­den­lang Hun­der­te Mit­strei­ter, Anhän­ger und Leser des von ihr vor 50 Jah­ren gegrün­de­ten mani­festo auf einem gro­ßen Platz in Rom.