Dieses Buch wird von ganz unterschiedlichen Stimmen als »großer Wurf« und »Weckruf«, als eindrucksvoll und flott geschrieben, als Buch, das »Debatten auslösen« wird, gepriesen – von Günter Wallraff über Greenpeace bis hin zur FAZ. Der Titel »Game over. Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle – und dann?« deutet schon unsanft darauf hin, um was es dem Verfasser geht.
Hans-Peter Martin, langjähriger Auslandskorrespondent des Spiegel und 15 Jahre lang unabhängiges österreichisches Mitglied des Europäischen Parlaments, ist Mitautor der früheren Bestseller »Bittere Pillen« und »Die Globalisierungsfalle«. Auch im vorliegenden Buch geht es ihm um wirklich große Fragen, Probleme und Themen – anschaulich beschrieben und schonungslos analysiert, nachvollziehbar belegt mit Daten, Tabellen und Schaubildern. Für viele sicherlich ein schockierender Blick in den Abgrund – manchen vielleicht zu pessimistisch und ausweglos. Doch gegen Resignation und Fatalismus versucht Martin im letzten Teil seines Buches anzuschreiben und seine Leserinnen und Leser zu motivieren, sich politisch zu engagieren und die Utopie einer »großen, glaubwürdigen Teilhabe« mit zu entwerfen.
»Game over« behandelt zahlreiche internationale und nationale Entwicklungsstränge und Konfliktfelder und macht dabei brisante Zusammenhänge deutlich. Nur einige Stichworte: Handels- und Rohstoffkriege, Aufrüstung und Militarisierung der Gesellschaft, drohender neuer Finanzcrash, Klimawandel und -katastrophen, Fluchtursachen und Migrationsdruck, Zerfall der EU angesichts eines europäischen Trends zu Neonationalismus, Ausgrenzung und autoritären »Lösungen«, Digitalisierung und Cyberattacken, staatliche und kommerzielle Überwachung zulasten persönlicher Freiheiten, extreme soziale und ökonomische Ungleichheit, unbezahlbares Wohnen in Großstädten und Ballungszentren – die Liste der Zumutungen und Grausamkeiten bis hin zum Verlust von Demokratie und Bürgerrechten ließe sich noch länger fortsetzen. Etliche dieser Entwicklungen und Probleme befördern in den Bevölkerungen Europas starke (Abstiegs-)Ängste und Unsicherheit, Neonationalismus, Rassismus und Abschottungsreflexe. Martin hinterfragt in seiner Analyse so manche gängigen politischen, auch linken Gewissheiten, Einordnungen und Vorurteile – und bürstet sie gegen den Strich.
Die von Martin angesprochenen Zukunftsfragen sind, so sagt er selbst, längst brisante Gegenwartsfragen, denn die Zukunft hat bereits begonnen, und Probleme harren ihrer Lösungen, die keinen Aufschub mehr vertragen. Der Autor liefert auch Alternativvorschläge für die Zukunft, die er in einer »ökosozialen Marktwirtschaft« sieht: »Wer die westlichen Gesellschaften in ihrer betörenden Vielfalt retten will, muss jetzt an die Wurzeln gehen. Was wäre in der derzeitigen Gemengelage vernünftiger, als utopisch zu denken?«. Der Ausweg könne nur in einem »glaubwürdigen Teilen« bestehen – »sozial, digital, ökonomisch und politisch«. Hans-Peter Martin hofft nach »Game Over« für das westliche Zivilisationsmodell, das schon so lange auf Kosten anderer lebt, auf ein »Next Game« – in Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. Hoffen wird da wohl nicht reichen.
Hans-Peter Martin: »Game over. Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle – und dann?« Penguin. Random House, 384 Seiten, 24 €