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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Homeoffice-Tagebuch (V)

8.5.: Cпасибо (spa­si­bo) heißt danke

Erst- und ein­ma­lig in der jün­ge­ren Geschich­te ist der 8. Mai in Ber­lin ein Fei­er­tag (in der DDR bis 1967 und 1985). An den sowje­ti­schen Ehren­mä­lern im Tier­gar­ten und im Trep­tower Park und auf den sowje­ti­schen Ehren­fried­hö­fen in vie­len ande­ren Städ­ten geden­ken Tau­sen­de, dar­un­ter vie­le rus­si­sche Fami­li­en, der Befrei­er vom deut­schen Faschis­mus vor 75 Jah­ren. Wegen der Coro­na-Ein­schrän­kun­gen wird auf zen­tra­le Ver­an­stal­tun­gen ver­zich­tet. Wir selbst fah­ren am lan­gen Wochen­en­de in den Gar­ten zum Fei­ern, ich war tags zuvor bei der Kranz­nie­der­le­gung der Links­frak­ti­on im Tier­gar­ten dabei. Sevim Dağ­de­len und Gre­gor Gysi leg­ten namens der Frak­ti­on einen Kranz mit »Cпасибо«, »Mer­ci«, »Thank you« und »Dan­ke« nieder.

Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er lässt bei der zen­tra­len, coro­nabe­dingt klei­nen Gedenk­ver­an­stal­tung vor der Neu­en Wache Lorenz Jan­sky, Trom­pe­ter der Kara­jan-Aka­de­mie der Ber­li­ner Phil­har­mo­ni­ker, »Der gute Kame­rad« spie­len. Die Rote Armee und die Völ­ker der Sowjet­uni­on, die den Haupt­teil an der Befrei­ung hat­ten, wer­den von dem SPD-Poli­ti­ker mit kei­nem Wort erwähnt. Auch die Vor­sit­zen­den der Par­tei Die Lin­ke, Kat­ja Kip­ping und Bernd Riex­in­ger, las­sen sie in einer gemein­sa­men Erklä­rung uner­wähnt. Das passt zu ihren Bemü­hun­gen um ein »poli­tisch lin­kes Gegen­pro­jekt«, um eine Koali­ti­on mit SPD und rus­so­pho­ben Grü­nen nach der näch­sten Bun­des­tags­wahl und einen »sozi­al-öko­lo­gi­schen Kurs­wech­sel« bezie­hungs­wei­se einen »lin­ken Green New Deal«. Die Lin­ke soll dafür »Öko­par­tei mit sozia­lem Gewis­sen« wer­den, wie es die Süd­deut­sche Zei­tung, der das 14-sei­ti­ge Papier vor­ab zur Bericht­erstat­tung zuge­spielt wur­de, treff­lich formuliert.

Geg­ner von Papst Fran­zis­kus mel­den sich mit einer Stel­lung­nah­me zur Coro­na-Kri­se zu Wort, die Was­ser auf die Müh­len der soge­nann­ten Hygie­ne-Demon­stra­tio­nen mit Eso­te­ri­kern, Impf­geg­nern und rech­ten Tritt­brett­fah­rern ist. Das unter ande­rem von Erz­bi­schof Car­lo Maria Viganò, Hong­kongs Kar­di­nal Zen und dem deut­schen Kar­di­nal Mül­ler ver­fass­te Papier unter­stellt, die glo­bal ergrif­fe­nen Schutz­maß­nah­men dien­ten der »Kri­mi­na­li­sie­rung per­sön­li­cher und sozia­ler Bezie­hun­gen«. So ernst der Kampf gegen Covid-19 sein möge, dür­fe er nicht »als Vor­wand zur Unter­stüt­zung unkla­rer Absich­ten supra­na­tio­na­ler Ein­hei­ten die­nen, die sehr star­ke poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Inter­es­sen ver­fol­gen«. Auch die Fran­zis­kus-Fein­de negie­ren die Fra­ge: War­um wohl sit­zen die Volks­re­pu­blik Chi­na und Trumps USA, das sozia­li­sti­sche Kuba und die NATO-Staa­ten im Kampf gegen Coro­na im sel­ben Boot?

 

13.5.: Schutz­imp­fung für das EU-Militär

Den Län­dern der EU und der Welt droht die größ­te Wirt­schafts­kri­se seit der Gro­ßen Depres­si­on in den drei­ßi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. Die Fol­ge­ko­sten der Coro­na-Pan­de­mie sind lan­ge nicht abseh­bar. Der EU-Außen­be­auf­trag­te Josep Bor­rell warnt die Mit­glieds­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on davor, ange­sichts des wirt­schaft­li­chen Drucks die Mili­tär­aus­ga­ben zu »ver­nach­läs­si­gen«. Dem EU-Chef­di­plo­ma­ten zufol­ge hat Covid-19 »eine neue Bedro­hung mit sich gebracht«. Erfor­dert sei »ein stär­ke­res Euro­pa in der Welt«.

Wie RT deutsch berich­tet, rich­te­ten soge­nann­te Ver­tei­di­gungs­exper­ten aus Spa­ni­en, Ita­li­en, Groß­bri­tan­ni­en, Frank­reich und Litau­en bereits im April einen Appell an die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ger der EU und for­der­ten die­se dazu auf, »die Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben zu erhö­hen, anstatt die Mit­tel zu kür­zen, um Geld für die wirt­schaft­li­che Reak­ti­on auf die Coro­na­vi­rus-Kri­se frei­zu­set­zen«. Ange­sichts der Tat­sa­che, dass die EU-Regie­run­gen mil­li­ar­den­schwe­re Kon­junk­tur­pro­gram­me auf­leg­ten und not­wen­di­ge Kür­zun­gen in ihre Aus­ga­ben­plä­ne ein­kal­ku­lier­ten, »soll­ten die Ver­tei­di­gungs­haus­hal­te sofort gegen star­ke Ein­schnit­te ›geimpft‹ wer­den, bevor die ersten Anzei­chen von Spar­maß­nah­men zu erken­nen sind«.

 

14.5.: AKW ade

Bewe­gen­de Bil­der aus Süd­deutsch­land: Gut 35 Jah­re nach den ersten von mir mit­er­leb­ten Demon­stra­tio­nen in Phil­ipps­burg wer­den dort mor­gens um 6 Uhr die bei­den Kühl­tür­me der abge­schal­te­ten Atom­kraft­wer­ke gesprengt. Mein Latein­nach­hil­fe­leh­rer Kurt Wolff hat­te mich sei­ner­zeit als Jugend­li­chen zu den Frie­dens- und Umwelt­pro­te­sten in der Nach­bar­ge­mein­de mit­ge­nom­men und poli­tisch sozia­li­siert. Wegen der Coro­na-Kri­se war der genaue Abriss­ter­min geheim gehal­ten wor­den, um nicht zu vie­le Schau­lu­sti­ge anzu­zie­hen. Im SWR wer­den Anwoh­ner mit Trä­nen in den Augen gezeigt, die ob der jahr­zehn­te­lang kilo­me­ter­weit zu sehen­den Mei­ler nun die Ori­en­tie­rung zu ver­lie­ren fürch­ten. Ich dage­gen im fer­nen Ber­lin freue mich und wünsch­te nur, mein poli­ti­scher Zieh­va­ter hät­te das noch erle­ben können.

 

20.5.: »Bel­la Ciao« mit Folgen

Im tür­ki­schen Izmir ertönt aus meh­re­ren Moscheelaut­spre­chern statt Gebets­auf­ru­fen das anti­fa­schi­sti­sche Wider­stands­lied »Bel­la Ciao«. Die isla­mi­sti­sche Regie­rungs­par­tei AKP spricht von einer »abscheu­li­chen Tat«, Erdoğan-treue Medi­en von einer »wider­li­chen Attacke«. Wegen der Hacker­ak­ti­on wird der staat­li­chen Nach­rich­ten­agen­tur Ana­do­lu zufol­ge eine Frau ver­haf­tet. Ihr soll, wie auch allen, die die Akti­on in den sozia­len Medi­en im Inter­net geteilt haben, der Pro­zess gemacht wer­den wegen »Ver­un­glimp­fung reli­giö­ser Werte«.

 

21.5.: Kru­de Appel­le gegen Dialog

US-Prä­si­dent Donald Trump bekommt bei sei­nem täg­li­chen Chi­na-Bas­hing Applaus von uner­war­te­ter Sei­te. Im Vor­feld des vom 13. bis 15. Sep­tem­ber in Leip­zig geplan­ten EU-Chi­na-Gip­fels appel­liert die auto­no­me Sze­ne unter keingipfel.noblogs.org, »mit uns zusam­men den Gip­fel anzu­grei­fen!« »Den Herr­schen­den kei­ne Ruhe – nicht hier in Leip­zig und nicht anders­wo! Nein zum EU-Chi­na-Gip­fel!« In das­sel­be Horn bläst die Links­ju­gend Solid: »Es ist per­vers. Wäh­rend in Chi­na Mil­lio­nen von Men­schen den Knüp­pel der chi­ne­si­schen Staats­macht erlei­den müs­sen, im Mit­tel­meer tag­täg­lich Men­schen unter den Augen der EU ersau­fen und in Deutsch­land im Namen des Pro­fi­tes Men­schen in die Obdach­lo­sig­keit zwangs­ge­räumt wer­den, sol­len in Leip­zig die Regie­ren­den der EU und Chi­nas auf unse­re Kosten wie Köni­g/-innen hau­sen und ver­han­deln.« – Ja, was sol­len Chi­na und die EU sonst tun als ver­han­deln, wenn Trump mit den Säbeln ras­selt, Krieg füh­ren? Dia­log, Dia­log, Dia­log muss das lin­ke Gebot der Stun­de hei­ßen. Alles ande­re ist Was­ser auf die Müh­len des Trump’schen Bellizismus.

Ein Trost: In der Bevöl­ke­rung ver­fängt die anti­chi­ne­si­sche Stim­mungs­ma­che nicht, wie eine Umfra­ge der Kör­ber-Stif­tung zeigt. Mehr als ein Drit­tel der Deut­schen sieht heu­te in Chi­na den Part­ner Num­mer eins außer­halb Euro­pas. Im Sep­tem­ber 2019 waren erst 24 Pro­zent der Befrag­ten der Mei­nung, die Bezie­hun­gen zu Chi­na sei­en wich­ti­ger als die zu den USA. Jetzt sind 36 Pro­zent die­ser Mei­nung. Die Gegen­po­si­ti­on, dass Ame­ri­ka für Deutsch­land wich­ti­ger ist als Chi­na, wird jetzt ledig­lich von 37 Pro­zent ver­tre­ten, im Sep­tem­ber waren es noch 50 Pro­zent. Der unter­schied­li­che Umgang mit der Coro­na-Pan­de­mie zeigt Wirkung.