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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Transjektive Matrixialität am Tor zur Welt

Ach: »Zum ersten Mal …«, kaum eine Aus­stel­lung, die sich nicht mit die­ser Anga­be schmückt. Hier in den Ham­bur­ger Deich­tor­hal­len wird der Satz so fort­ge­setzt: »seit der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung …«, oh, »wird der Ver­such unter­nom­men, einen mög­lichst umfas­sen­den Über­blick über die gegen­wär­ti­ge Male­rei in Deutsch­land zu geben.« Drei­und­fünf­zig Künstler/​innen wur­den aus­ge­wählt (aus zwei­hun­dert), alle um die Vier­zig. An der Aus­stel­lung: »Jetzt! Jun­ge Male­rei in Deutsch­land« waren ver­schie­de­ne Ver­an­stal­ter betei­ligt: das Kunst­mu­se­um Bonn, das Muse­um Wies­ba­den, die Kunst­samm­lung Chem­nitz – Muse­um Gun­zen­hau­ser. Als letz­te Sta­ti­on der Prä­sen­ta­tio­nen nun die Ham­bur­ger Deich­tor­hal­len. Ins­ge­samt wirk­ten sie­ben Kurator/​innen mit. Die Aus­stel­lun­gen fal­len unter­schied­lich aus, in Ham­burg wer­den nur je drei Wer­ke gezeigt. Coro­nabe­dingt nun bis zum 9. August ver­län­gert. Die weit­räu­mi­gen Hal­len geben den meist groß­for­ma­ti­gen Gemäl­den den pas­sen­den Rah­men – auch prak­tisch für den nöti­gen Abstand der Besucher.

»Welt­weit ange­se­hen« sei die deut­sche Male­rei, so die Pres­se­infor­ma­ti­on. Die­se Bil­der, in den bei­den letz­ten Jah­ren ent­stan­den, kön­nen sie einen »gül­ti­gen Quer­schnitt« zei­gen? Alle Sti­le der Moder­ne sind ver­tre­ten, viel Abstrak­tes, auf­re­gend Neu­es fehlt – vor allem gesell­schafts­kri­ti­sche und sozia­le The­men. Las­sen sich die auf einem Tafel­bild heu­te nicht mehr ver­tre­ten? Heißt das Titel-»Jetzt« der Aus­stel­lung Auf­bruch oder – auf die Künst­ler bezo­gen – jetzt muss er gelin­gen, der Auf­stieg? Der Besu­cher kann selbst ent­schei­den, wie er ein Bild ein­ord­net. Das Begleit­heft ist wenig hilf­reich mit For­mu­lie­run­gen wie: »Leib­lich­keit, Ant­litz und trans­jek­ti­ve Matri­xia­li­tät« zu den Bil­dern von Vivi­an Gre­ven. Was ist zu sehen? Digi­ta­le Küh­le, alles hell, kli­nisch. Ein Frau­en­kör­per, sche­men­haft, die Brust, eine Hand, die sie berührt. Die Far­ben, unwirk­lich pastel­lig. Das ein­zig Auf­fal­len­de: ein blut­ro­ter Strich, wie ein Schnitt an der Brust. Das alles spricht für sich, für eine Rea­li­tät, die der Inter­pret Georg Herz­berg – ein Mann – wohl nicht wahr­neh­men will. In der Aus­stel­lung Wer­ke von etwa gleich viel männ­li­chen und weib­li­chen Künstlern.

Lydia Bal­ke gibt Rät­sel auf. Im Begleit­heft Dia­lo­ge, die Bal­ke zitiert. Wer sagt was war­um? Ihr Tri­pty­chon, auf jedem Bild drei jun­ge Men­schen, ein Mäd­chen mit Pisto­le und ein Wolf. Alles strahlt Gewalt aus und Käl­te. Die klei­nen Schnee­män­ner brauch­te es dazu nicht. Die Besu­cher neben mir sagen: »Da sind wohl vie­le Anspie­lun­gen drauf. Und eine hat geschos­sen.« Rat­lo­sig­keit. Gegen­über ein Still­le­ben mit ange­ket­te­ter Vase von Vera Palme.

Das Bild »Halb­zeit« von David Leh­mann, der in Cott­bus lebt, ist viel­leicht auch ein Tri­pty­chon, schwar­ze Stri­che unter­tei­len die lan­ge Lein­wand­bahn. Die Geschich­te zum Bild, das von wei­tem lockt, wer will, kann sich dar­in ver­lie­ren. Rea­li­stisch, fan­ta­stisch, dra­stisch, bru­tal. Die Täto­wie­rung am Arm eines Man­nes – in einem Herz AfD – kann leicht über­se­hen wer­den. So vie­le selbst­über­heb­li­che Män­ner. Auch etwas Selbst­iro­nie ist dabei.

Seba­sti­an Gögel zeigt Robo­ter­men­schen mit Röh­ren­ar­men, die wohl kei­ne Hän­de brau­chen: »Hyber­chon«. Die bei­den Gano­ven­ty­pen in »Leu­mund« umar­men sich, aber eine Hand drückt schon am Hals des ande­ren. Die ande­re, rote Hand, umklam­mert ein Wein­glas. Anklän­ge an Geor­ge Grosz. Auf Simon Moder­sohns Gemäl­den fehlt etwas: der Mensch. Doch er war da, ist gera­de mal weg – neu­es Mate­ri­al vom Bau­markt holen? Der Gar­ten, voll­ge­stopft mit die­sen Din­gen. »Hecken­schüt­zen« – sind es die Klein­gärt­ner? Eckig geschnit­te­ne Büsche, Lei­ter, Elek­tro­rol­le, eine star­ke Lam­pe, ein hohes Sta­tiv – alles nötig, um die Natur zu fri­sie­ren. In »Round-up« ragt ein run­des Schwimm­becken mit Lei­ter weit aus dem Boden. Ein ton­nen­för­mi­ger Schup­pen mit oran­ge­far­be­nem Licht. Kei­ne Men­schen. War­um die­ser Titel? Gly­pho­sat gegen Unkraut im Gar­ten. Im Begleit­heft­chen ist von »oft­mals humor­vol­ler Ebe­ne« die Rede. Danke.

Die Aus­stel­lung »Jetzt« in Ham­burg wird durch eine zwei­te ergänzt: »Qua­dro«. Das sind vier Künst­le­rin­nen. Kura­tor ist Dirk Luc­kow, der Inten­dant der Deich­tor­hal­len. Gedacht als eine »Ant­wort« auf die vor­her­ge­hen­de Schau: »Die jun­gen Jah­re der Alten Mei­ster« (sie­he Ossietzky 19/​2019). Die »Alten Mei­ster«, alles Män­ner. Die deut­sche Ver­gan­gen­heit, von der die­se Gene­ra­ti­on geprägt wur­de – die vier Frau­en haben sie nicht erlebt. Wich­tig aber, der »Sie­ges­zug« durch die US-ame­ri­ka­ni­schen Muse­en – noch immer? Haupt­sa­che: »im Aus­land viel Beach­tung«. Ker­stin Brätsch, 1979 gebo­ren, lebt jetzt in New York. Ihr Bild, wie ein Fries eine gan­ze Wand sich ent­lang­zie­hend, mit pla­sti­schen Ele­men­ten ange­rei­chert, auch Glas und Blei, zeigt eine Urwelt, Dino­sau­ri­er – die Gegen­wart? Im Begleit­heft geht es vor allem dar­um, »wel­chen Vor­rat an For­mu­lie­run­gen, For­meln und Sym­bo­len sich die Male­rei aktu­ell geschaf­fen hat«. Nur die Form?

Ste­fa­nie Hein­ze, 1987 gebo­ren, inter­es­sie­ren die Nicht-Aus­füh­rung (anti-achie­ve) und das Unmög­li­che (impos­si­bi­li­ty). Imma­nent sei das »Per­sön­li­che« eben­so wie das »Poli­ti­sche« für sie. Ich erkann­te wenig davon, eine Pri­se Walt Dis­ney viel­leicht. Was ich nicht sah: »schlaf­fe Penis­se« und flie­gen­de »Karot­ten«. In den Infos ist von einer »Art pseu­do-opti­mi­sti­scher Eigen­krea­ti­on ent­ge­gen dem Non­sens« die Rede, ein »news­en­se« – ach so.

Lau­ra Link, eben­falls 1987 gebo­ren, will dage­gen das zei­gen, was ver­steckt wer­den soll, das Unschö­ne, Mor­bi­de. So ein rie­si­ges dunk­les Mut­ter­mal, das den Rücken beherrscht wie ein wil­des Tier. In »Bad­ass Nails« beherrscht ein rie­si­ger Fuß das Bild mit Nägeln, die braun und bröck­lig-zer­fal­len sind – all­zu rea­li­stisch auf dem über­gro­ßen Gemäl­de. Nicht deko­ra­tiv fürs Wohn­zim­mer. Ergänzt wird der Schrecken von extrem lan­gen Fin­ger­spit­zen, die metal­lisch wie Dol­che hervorstechen.

Die vier­te Künst­le­rin, Kati Heck, 1979 gebo­ren, malt alt­mei­ster­lich real, doch mit viel Iro­nie. Sie lebt in Bel­gi­en. Ihr »Mei­steren­gel­chen Puff« ist ein weib­li­cher Engel mit weit aus­grei­fen­den Flü­geln. Die Figur stützt sich auf einen Baum­ast, der in einen zar­ten Enten­kopf über­geht, trägt Arbeits­ho­sen, wozu? Das Gesicht ist zum Wei­nen ver­zerrt, war­um? Fra­gen, die auch das Bild »Vor­be­spre­chung« auf­wirft. Drei klei­ne Kin­der, ein Mäd­chen in etwas Rotes gehüllt und in einen rosa Ses­sel gefläzt. Es sieht den Betrach­ter direkt an mit einem Blick wie Oskar­chen aus der »Blech­trom­mel« – auch etwas ero­tisch. Auf einem klei­nen Roll­tisch steht ein nack­ter Jun­ge. Sei­ne Hand­hal­tung mani­riert. Ein rosa-häu­ti­ges Mäd­chen, hell­blond mit blau­en Augen, aus denen eine Trä­ne rollt.

Was soll der Bild­ti­tel? Die Kin­der ste­hen auf schwan­ken­dem Boden, die Holz­die­len bre­chen auf – ihre Zukunft?