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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Seuche, Macht und Kapitalismus (II)

Lin­ke im Dilemma

Die Welt steckt in einer tie­fen Kri­se. Sie betrifft Regie­run­gen und Gesell­schaf­ten, jeden Ein­zel­nen. Der Kampf gegen ein Virus scheint alle gleich zu machen, lässt ver­meint­lich sozia­le Spal­tun­gen, öko­no­mi­sche Kri­sen­pro­zes­se und mili­tä­ri­sche Kon­flik­te in den Hin­ter­grund tre­ten. In der Pra­xis gibt es die­se Gleich­heit vor dem Virus nicht, es kann alle krank machen oder töten, aber die mit den gol­de­nen Löf­feln, dem sta­bi­len Inter­net-Anschluss und dem zur Not erkauf­ten Platz bei der Kran­ken­ver­sor­gung sind bes­ser dran als jene, die auch schon vor der Kri­se dar­ben muss­ten. Selbst im rei­chen Deutsch­land stellt sich die Fra­ge, was Bezie­her von Kurz­ar­bei­ter­geld oder gera­de noch geför­der­te »Selb­stän­di­ge« gestal­ten kön­nen. Die Dis­kre­panz zwi­schen den eil­fer­tig erstell­ten Fern­seh­re­por­ta­gen über geglück­tes Home­of­fice und Home­schoo­ling und der Rea­li­tät der ein­fa­chen Ange­stell­ten oder Zeit­ar­bei­te­rin­nen, die kein Home­of­fice und Bezü­ge haben oder deren Mög­lich­kei­ten zum Beschu­len der Kin­der begrenzt sind, lässt neue Kon­flik­te erwarten.

Es gibt vie­le Stel­lung­nah­men, die von einer Kri­se der Gesell­schaft spre­chen, die die Chan­ce für einen Neu­an­fang eröff­nen könn­te. Dem schlie­ßen sich nicht weni­ge Lin­ke an, die mit dem Ver­sa­gen eines kaputt­ge­spar­ten Gesund­heits­sy­stems in vie­len Län­dern, mit den Fol­gen einer abhän­gig machen­den Glo­ba­li­sie­rung nun end­gül­tig den Neo­li­be­ra­lis­mus schei­tern sehen. In der Kri­se wird das Markt­ver­sa­gen eines gewinn­ori­en­tier­ten Gesund­heits­sy­stems sicht­bar, zei­gen sich die Fol­gen der Glo­ba­li­sie­rung in einer eng ver­zahn­ten, abhän­gi­gen Welt.

Sicher wird es nach der Kri­se rea­le und kos­me­ti­sche Ver­än­de­run­gen geben. Vom Pro­fit­prin­zip aber mögen sich weder Staat noch staats­tra­gen­de Intel­lek­tu­el­le und erst recht nicht die Eig­ner von Indu­strie und Gesund­heits­we­sen tren­nen. Auch wenn jetzt der Staat ein­greift, man­che schon sozia­li­sti­sche Mor­gen­luft wit­tern, ohne eine Gegen­macht, ohne Mas­sen auf den Stra­ßen und einen gei­sti­gen Neu­an­fang wird sich nichts bewe­gen. Und dafür sind die Chan­cen gering.

Aber auch Lin­ke wer­den grund­sätz­li­che­re Fra­gen zu beant­wor­ten haben, die nach dem Schei­tern des Real­so­zia­lis­mus für vie­le immer noch oder wie­der auf der Tages­ord­nung ste­hen. Poli­tisch haben lin­ke Poli­ti­ker jen­seits Chi­nas, Kubas gegen­wär­tig kei­ne tra­gen­de Rol­le. In eini­gen Län­dern tra­gen sozi­al­de­mo­kra­tisch gepräg­te Regie­run­gen die (Mit-)Verantwortung sowohl an der neo­li­be­ra­len Mise­re wie an den aktu­el­len Not­maß­nah­men – in Ita­li­en, Spa­ni­en, in der Bundesrepublik.

Theo­re­ti­sche Grundfragestellung

Wel­che Rol­le soll der Staat spie­len, wo darf und muss er Gren­zen auch für Frei­heits­rech­te set­zen kön­nen, um in kom­ple­xen Lagen agie­ren zu kön­nen? Das haben wir in unse­rer mehr oder min­der vehe­men­ten Kri­tik am Staats­so­zia­lis­mus ver­lernt. Darf der Staat ins Wirt­schaf­ten, ins Pri­vat­le­ben ein­grei­fen, muss er es? Das mögen demo­kra­ti­sche Sozia­li­sten und erst recht Indi­vi­dua­li­sten mit anar­chi­sti­schem Grund­ver­ständ­nis nicht unbe­dingt. Die Erfah­run­gen mit Sozi­al­de­mo­kra­tie und Par­tei­kom­mu­nis­mus wür­den dage­gen spre­chen. Das Pro­blem besteht aber dar­in, ob basis­de­mo­kra­ti­sche oder über­haupt demo­kra­ti­sche Struk­tu­ren auch auto­ri­tä­re »Aus­rut­scher« des Staa­tes kon­trol­lie­ren und nach erle­dig­ter Auf­ga­be wie­der ein­fan­gen kön­nen. Das hie­ße aber basis­de­mo­kra­ti­sche Struk­tu­ren, sozia­le Bewe­gun­gen, Selbst­ver­wal­tungs­ele­men­te so zu ent­wickeln, dass sie mit den par­la­men­ta­risch-demo­kra­ti­schen Struk­tu­ren ver­zahnt sind und selbst in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen len­kend ein­grei­fen kön­nen. Zwi­schen Staats­fe­ti­schis­mus und Staats­ab­leh­nung müss­te eine Balan­ce gefun­den werden.

Staat heißt Macht, zwingt drän­gend zu der Fra­ge, in wes­sen Inter­es­se der Staat agiert, selbst wenn er wie der­zeit aus Sor­ge um sozia­len Unfrie­den und sozia­le Unru­hen sich mas­siv sozi­al enga­giert. In den letz­ten Jah­ren haben Ver­schie­bun­gen in den poli­ti­schen Spek­tren, das Erstar­ken bür­ger­lich-kri­ti­scher Kräf­te in Gestalt öko­lo­gi­scher Par­tei­en, gele­gent­lich auch links­so­zia­li­sti­scher Bewe­gun­gen, aber vor allem das Anwach­sen rech­ter, natio­na­li­sti­scher, teil­wei­se offen ras­si­sti­scher und faschi­sto­ider Kräf­te nahe­ge­legt, von einer »Kri­se der Demo­kra­tie« und einer zuneh­men­den Len­kungs­un­fä­hig­keit, einem »Kon­troll­ver­lust« des Staa­tes und der Herr­schen­den zu spre­chen. Sehen wir ein­mal davon ab, dass eine sol­che Her­an­ge­hens­wei­se, ein Schwä­chen der Staats­len­kung, poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung und -umset­zung auf demo­kra­ti­scher Basis mög­li­cher­wei­se ein macht­po­li­ti­sches Kal­kül sein kann, um die Hilf­lo­sig­keit des Staa­tes oder der Wirt­schaft gegen­über zwin­gen­den öko­no­mi­schen, öko­lo­gi­schen oder sozia­len Her­aus­for­de­run­gen zu sug­ge­rie­ren. In der aktu­el­len Exi­stenz­kri­se erwei­sen sich genau die­ser Staat, die Wirt­schafts­eli­ten, Intel­lek­tu­el­le über Nacht als ent­schei­dungs­fä­hig (was nicht bedeu­tet, dass jede der Ent­schei­dun­gen stim­mig sein muss), sind in der Lage, staat­lich zu len­ken und zu gestal­ten – von Geset­zen bis zu Finanz­sprit­zen – und die Repres­si­ons­or­ga­ne in Akti­on zu brin­gen, vor allem aber die media­le Ideo­lo­gie­pro­duk­ti­on über Nacht auf die­se neue Situa­ti­on ein­zu­schwö­ren. Streit schim­mert dann auf, wenn es dar­um geht, wie schnell wie­der nach Pro­fit gehe­chelt wer­den kann.

Der Staat ist also auch heu­te noch ein wich­ti­ges Macht- und Gestal­tungs­mit­tel, wenn man die Macht hat, was offen­kun­dig aber nicht die demo­kra­ti­sche Wahl­ent­schei­dung allein bedingt, son­dern die Ver­an­ke­rung der Macht – in der Wirt­schaft, in den Medi­en oder als Anspruch für Lin­ke – in einer akti­ven Gesell­schaft und brei­ten sozia­len Bewegungen.

 

Grund­prin­zi­pi­en der Pro­fit­ma­xi­mie­rung aufdecken

Das Ver­ge­ben von Eti­ket­ten macht sich in Theo­rie und prak­ti­scher Poli­tik immer gut. Seit eini­gen Jahr­zehn­ten reden wir gern vom Neo­li­be­ra­lis­mus, sehen in ihm eine Ver­kör­pe­rung von Fried­mans oder That­chers ego­isti­schem, pro­fit­fi­xier­tem und staats­feind­li­chem Kapi­ta­lis­mus. Nun erwei­sen sich die­ser Kapi­ta­lis­mus und sein Staat erneut – nach der Wirt­schafts­kri­se 2007/​08 – als potent, mit­tels mas­si­ver Ein­grif­fe wesent­li­che Wirt­schafts­ak­teu­re zu stüt­zen, sich gar zeit­wei­lig und erfor­der­li­chen­falls an ihnen zu betei­li­gen, also sie zu ver­staat­li­chen. Der Staat ist bereit, mit­tels mas­si­ver Geld­aus­schüt­tun­gen sozia­le Risi­ken für einen gro­ßen Teil der Gesell­schafts­mit­glie­der abzu­fe­dern. Offen­kun­dig haben wir über­se­hen, dass Kapi­ta­lis­mus stets gewinn­ori­en­tiert han­delt, er aber in Gestalt sei­ner Kapi­ta­li­sten, Mana­ger, Intel­lek­tu­el­len, der poli­ti­schen Klas­se hoch­fle­xi­bel sein kann, dass er ideo­lo­gi­sche Kon­zep­te über Nacht über Bord zu wer­fen ver­mag. Für ihn gilt Macht und Pro­fit zuerst, egal wie. Aber das könn­te für alter­na­ti­ve Poli­tik eine Chan­ce sein, bedeu­tet aber auch eine Her­aus­for­de­rung, hin­ter den jewei­li­gen ideo­lo­gi­schen Flos­keln die Grund­prin­zi­pi­en kapi­ta­li­sti­scher Pro­fit­ma­xi­mie­rung zu erken­nen und die Kon­se­quen­zen für das indi­vi­du­el­le, oft indi­vi­dua­li­sti­sche Ver­hal­ten, den Ego­is­mus zu benen­nen und zu bekämpfen.

 

Inter­na­tio­na­le und natio­na­le Ebe­ne beachten

Der unge­lieb­te Natio­nal­staat hat in Zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung, des ent­grenz­ten Kapi­ta­lis­mus nicht aus­ge­dient. Der natio­na­le Rah­men (unge­ach­tet mög­li­cher mul­ti­eth­ni­scher inne­rer Struk­tu­ren) ist der Ort der sozia­len Kämp­fe, der Ver­tei­di­gung sozia­ler und demo­kra­ti­scher Rech­te, aber eben auch des Ein­igelns in Zei­ten der Bedro­hung. Die inter­na­tio­na­li­sti­sche Alter­na­ti­ve bleibt not­wen­dig und zwin­gend, schließt heu­te etwa das gemein­sa­me Rin­gen um Aus­we­ge aus der anste­hen­den Wirt­schafts­kri­se ein. Aber des­sen unge­ach­tet han­deln Regie­run­gen und Eli­ten trotz aller EU-Schwü­re natio­nal, nicht nur die faschi­sto­iden, natio­na­li­sti­schen Kräf­te. Und Lin­ke wer­den wie­der ler­nen müs­sen, die inter­na­tio­na­li­sti­sche Ebe­ne nicht gegen eine natio­na­le aus­spie­len zu las­sen, egal, ob ihnen dies gefällt oder nicht.

 

Gegen­macht formieren

Das größ­te Pro­blem bleibt die theo­re­ti­sche, poli­ti­sche und orga­ni­sa­to­ri­sche For­mie­rung von Gegen­macht unter den aktu­el­len wie auch allen ande­ren Bedin­gun­gen. Iro­nisch könn­te man mei­nen, dass die demo­kra­ti­sche Lin­ke es nicht für nötig erach­ten muss­te, sich auf die Ille­ga­li­tät vor­zu­be­rei­ten. Aber eben­so wenig, wie der Staat sich auf den nicht ganz unwahr­schein­li­chen, aber nun doch ein­ge­tre­te­nen Fall einer tief­grei­fen­den Kri­se ein­ge­stellt hat, sind auch die Par­tei­en und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Struk­tu­ren jetzt und auf abseh­ba­re Zeit nicht nur im par­la­men­ta­ri­schen Bereich weit­ge­hend still­ge­legt. Wie schon im letz­ten Jahr­zehnt (Muster­bei­spiel die Revo­lu­tio­nen des »Ara­bi­schen Früh­lings« und man­che Farb­re­vo­lu­ti­on) wird auf moder­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­nik gesetzt. Chat­ten, Video­kon­fe­ren­zen und das Pro­du­zie­ren von span­nen­den, in der Regel auch kom­ple­xen (und nicht unbe­dingt ver­ständ­li­chen) Tex­ten ersetzt nicht die poli­ti­sche oder gewerk­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on, das Zusam­men­wir­ken, das gemein­sa­me Ent­wickeln und Aneig­nen von theo­re­ti­schen oder histo­ri­schen Posi­tio­nen und Wis­sen, vor allem nicht das gemein­sa­me Erle­ben und die gemein­sa­me Erfah­rung des Kämp­fens – mit Nie­der­la­gen und Sie­gen, Festen und Trau­er­mo­men­ten. Den klas­si­schen Kampf­par­tei­en der Arbei­ter­be­we­gung ist kein gleich­wer­ti­ger Ersatz gefolgt. Für die sozia­len und poli­ti­schen Kämp­fe in der anste­hen­den Wirt­schafts­kri­se fehlt das gei­sti­ge und orga­ni­sa­to­ri­sche Rüst­zeug. Das Simu­lie­ren von Poli­tik in den heu­ti­gen Par­tei­en, in vie­len zivil­ge­sell­schaft­li­chen Struk­tu­ren kann es nicht erset­zen, ist in der Regel auf den Augen­blick aus­ge­rich­tet oder führt zur Sym­bio­se mit dem bestehen­den poli­ti­schen und par­la­men­ta­ri­schen System.

Wir wis­sen heu­te noch nicht, wie die aktu­el­le Kri­se als medi­zi­ni­sche und sozia­le Her­aus­for­de­rung gemei­stert wer­den kann, geschwei­ge denn, wie lan­ge sie dau­ern wird. Sicher aber ist eine tie­fe, eben­falls welt­wei­te öko­no­mi­sche Kri­se mit poli­ti­schen Kon­se­quen­zen. Mög­li­cher­wei­se kann Deutsch­land auf Grund sei­ner star­ken rea­len Wirt­schafts­kraft sich auf Kosten der Schwä­che­ren sanie­ren. Die Bereit­schaft zu soli­da­ri­schem Ver­hal­ten zwi­schen den Staa­ten, selbst in der EU, ist schwach aus­ge­prägt und von Ego­is­men geprägt, in denen sich der Stär­ke­re eher durch­zu­set­zen vermag.

Die inter­nen Kosten der Coro­na-Bekämp­fung und der öko­no­mi­schen wie sozia­len Sta­bi­li­sie­rung wer­den aber auch die Bun­des­bür­ger zu bezah­len haben. Und es gehört wenig Pro­phe­tie dazu, dass die Zeche eher die zah­len wer­den, die nicht die gro­ßen Kapi­tal­ver­mö­gen ihr Eigen nen­nen. Ver­tei­lungs­kämp­fe, das Rin­gen um siche­re Arbeits­plät­ze wer­den kom­men, auch wenn die Bereit­schaft ange­sichts exi­sten­ti­el­ler Bedro­hun­gen und einer gebets­müh­len­ar­ti­gen Wie­der­ho­lung des natio­na­len Zusam­men­halts und der Bes­ser­stel­lung gegen­über den ande­ren Län­dern eine Rol­le spie­len und die Kampf­be­reit­schaft ver­rin­gern wer­den. Die tra­di­tio­nel­len Hoch­bur­gen der Noch-Arbei­ter­be­we­gung, also die Auto­mo­bil-Indu­strie, wer­den ange­sichts der dort haus­ge­mach­ten Pro­ble­me nicht die Vor­rei­ter der Kämp­fe sein. Der Druck jen­seits der Gren­zen auf Deutsch­land wird zuneh­men, wohl auch der Migra­ti­ons­druck. Natio­na­li­sti­sche Aus­we­ge wer­den wie­der Kon­junk­tur haben.

Die Lin­ke muss sich warm anzie­hen, sich orga­ni­sie­ren und den Ernst der Lage erfas­sen, sonst wird sie ihren Unter­gang wei­ter beglei­ten dür­fen, wenn sie nicht Schlim­me­res erlebt.