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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Macht und Machtmaschine

Rabin­dra­nath Tago­re. In wie vie­len Bücher­schrän­ken mögen sei­ne Wer­ke hier­zu­lan­de noch ste­hen? Dabei war Tago­re mit Werk und Wort im ersten Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts zu einer inter­na­tio­na­len Berühmt­heit gewor­den. 1913 wur­de er mit dem Lite­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net, als erster Nicht-Euro­pä­er. Ich zitie­re aus der Begrün­dung: »Für die ein­fühl­sa­men, leben­di­gen und schö­nen Ver­se, mit denen er in voll­ende­ter Wei­se sei­ne dich­te­ri­schen Gedan­ken – in eng­li­scher Spra­che – zu einer Kom­po­nen­te der abend­län­di­schen Lite­ra­tur gemacht hat« (aus: »Ruhm und Ehre – Die Nobel­preis­trä­ger für Lite­ra­tur«, Ber­tels­mann, 1970).

Die »schö­nen Ver­se« ver­öf­fent­lich­te Tago­re in meh­re­ren Lyrik­bän­den, die auf Deutsch im Kurt Wolff Ver­lag, Mün­chen, erschie­nen. Sie tru­gen in der Über­set­zung Titel wie »San­ges­op­fer« – vor allem für die­sen Gedicht­band, im Ori­gi­nal »Gitan­ja­li«, erhielt er den Nobel­preis –, »Der Gärt­ner« oder »Der zuneh­men­de Mond«. Dane­ben schrieb Tago­re Dra­men, Roma­ne und Erzäh­lun­gen. Und Essays.

Einer davon, 1917 erst­mals ver­öf­fent­licht, 1919 auf Deutsch, trägt den Titel »Natio­na­lis­mus«. Die­ses Bänd­chen liegt seit Novem­ber ver­gan­ge­nen Jah­res und damit gut 100 Jah­re nach sei­nem Erst­druck in neu­er Über­set­zung wie­der auf Deutsch vor. Es basiert auf drei Vor­trä­gen, die Tago­re 1916 in den USA und in Japan gehal­ten hat: zum Natio­na­lis­mus in Japan, zum Natio­na­lis­mus im Westen und zum Natio­na­lis­mus in Indi­en. Die Hell­sich­tig­keit des Dich­ters für die Abgrün­de und Irr­we­ge des Natio­na­lis­mus, auf des­sen Grun­de sich »unsäg­li­cher Schmutz ange­sam­melt« hat (»Natio­na­lis­mus«, S. 49), ver­blüfft noch heute.

Tago­re wur­de 1861 in Kal­kut­ta gebo­ren, wo er auch 1941 starb. Er stamm­te aus einer rei­chen Brah­ma­nen-Fami­lie, stu­dier­te bis 1883 in Eng­land eng­li­sche Lite­ra­tur. 1912 rei­ste er aus gesund­heit­li­chen Grün­den noch ein­mal nach Eng­land, über­setz­te wäh­rend sei­nes dor­ti­gen Auf­ent­hal­tes die eige­ne Dich­tung »ins Eng­li­sche in so voll­ende­tem Stil, daß die­se Wer­ke einen Höhe­punkt in der eng­li­schen und damit euro­päi­schen Lite­ra­tur jener Jah­re bil­den« (»Ruhm und Ehre«, S. 224).

Tago­re wur­de zu einem auf dem gan­zen Glo­bus gefei­er­ten Dich­ter. Sei­ne impo­san­te Erschei­nung – Fotos zei­gen ihn mit wal­len­dem Haar, lan­gem Bart, for­schen­den Augen –, sei­ne lan­gen wei­ßen Gewän­der und der klang­vol­le Name mach­ten ihn »zu einer Iko­ne des mysti­schen Ostens«, wie es im Vor­wort des neu erschie­ne­nen Buches heißt (S. 7). Zu einem Guru, wür­de man viel­leicht heu­te sagen. Als jun­ger Mann hat­te Tago­re in Indi­en Deutsch gelernt und Hei­ne-Gedich­te ins Ben­ga­li übersetzt.

Und den­noch, trotz aller Welt­läu­fig­keit, trotz aller Anglo­phi­lie, wur­de er zu einem der schärf­sten Kri­ti­ker der bri­ti­schen Kolo­ni­al-Besat­zer sei­nes Lan­des, der west­li­chen Poli­tik über­haupt. Bei der Ver­wal­tung des Fami­li­en­gu­tes hat­te er Not, Drang­sal und Elend des unge­bil­de­ten, ein­fa­chen Vol­kes ken­nen­ge­lernt. In der Fol­ge ent­wickel­te er eine Päd­ago­gik, die den Kin­dern näher war als das eng­lisch aus­ge­rich­te­te Erzie­hungs­we­sen. Er grün­de­te eine Schu­le, die spä­ter zur Uni­ver­si­tät erwei­tert wur­de. Und er nutz­te sei­ne Berühmt­heit zu schar­fen Ver­dik­ten gegen Kolo­nia­lis­mus und Natio­na­lis­mus, mahn­te aller­dings im indi­schen Frei­heits­kampf auch zum Aus­gleich mit Eng­land, mit Europa.

Sei­ne drei Vor­trä­ge durch­zieht eine gro­ße Fra­ge: Was ist eine Nati­on? Tago­re (S. 58): »Eine Nati­on, im Sin­ne der poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Ver­ei­ni­gung eines Vol­kes, ist das Aus­se­hen, das eine gan­ze Bevöl­ke­rung annimmt, wenn sie für einen mecha­ni­schen Zweck orga­ni­siert wird.« Die Gesell­schaft als sol­che habe dage­gen »kei­nen wei­te­ren Zweck: sie ist ihr eige­ner«. Sie rege­le die mensch­li­chen Bezie­hun­gen in Koope­ra­ti­on miteinander.

»Macht«, beschränkt auf Men­schen, die sie berufs­mä­ßig aus­üben, soll der Selbst­er­hal­tung die­nen. Doch wenn die­se Orga­ni­sa­ti­ons­form »zu wach­sen anfängt und Reich­tü­mer erzeugt, dann über­schrei­tet sie ihre Gren­zen mit erstaun­li­cher Schnel­lig­keit. Denn dann sta­chelt sie alle benach­bar­ten Län­der mit der Gier nach mate­ri­el­lem Wohl­stand auf.«

»Es kommt die Zeit, da die­se Macht nicht mehr inne­hal­ten kann, denn die Kon­kur­renz wird schär­fer, die Orga­ni­sa­ti­on wuchert immer wei­ter und die Selbst­sucht gelangt zur Allein­herr­schaft. Sie spielt mit der Gier und Angst der Men­schen und nimmt immer grö­ße­ren Raum in der Gesell­schaft ein; am Ende ist sie deren beherr­schen­de Kraft.«

Tago­re: »Die­ser Zustand führt unver­meid­lich zu stän­di­gen Kämp­fen zwi­schen den ein­zel­nen Ele­men­ten, die nicht mehr durch die Ganz­heit der mensch­li­chen Idea­le zusam­men­ge­hal­ten wer­den, und zwi­schen Kapi­tal und Arbeit herrscht immer­wäh­ren­der Krieg. Denn die Gier nach Reich­tum und Macht kann nie­mals ein Ende fin­den.« (S. 60)

Die­se Orga­ni­sa­ti­on von Poli­tik und Wirt­schaft, das ist die Nati­on, der Natio­nal­staat, »in inten­si­ver wirt­schaft­li­cher und mili­tä­ri­scher Kon­kur­renz mit ande­ren Natio­nal­staa­ten gefan­gen« (Vor­wort, S. 9). Als sol­cher reprä­sen­tiert der Natio­nal­staat den »organisierte[n] Eigen­nutz eines gan­zen Vol­kes…, jene[n] Zug an ihm, der am wenig­sten mensch­lich und gei­stig ist«.

Tago­re: »Noch nie gab es so fürch­ter­li­che Eifer­sucht, einen sol­chen Ver­rat an Ver­trau­en; all dies nennt man Patrio­tis­mus, und des­sen Glau­bens­be­kennt­nis heißt Politik.«

Der Dich­ter sieht auch beun­ru­higt die Gefahr eines aggres­si­ven nicht­west­li­chen Natio­na­lis­mus, warnt das erstar­ken­de Japan vor der »Akzep­tanz der Antriebs­en­er­gie des west­li­chen Natio­na­lis­mus«, ganz so, als hät­te er schon 1916 Japans kom­men­den Mili­ta­ris­mus und sei­ne impe­ria­li­sti­sche Rol­le im Zwei­ten Welt­krieg vor­aus­ge­ahnt: »Ich sehe das … Mot­to ›Der Stär­ke­re über­lebt‹ über dem Ein­gang zu Japans Gegen­warts­ge­schich­te geschrie­ben.« (S. 38)

Was hät­te Tago­re wohl zu der Situa­ti­on im heu­ti­gen Indi­en gesagt, wo Pre­mier­mi­ni­ster Naren­dra Modi seit 2014 zusam­men mit sei­ner Par­tei (BJP) den Hin­du­staat pro­pa­giert, bei der natio­na­len Par­la­ments­wahl mit deut­li­cher Mehr­heit gewählt? Eine mög­li­che Ant­wort des Dich­ters fin­det sich im Vor­wort (S. 12): »Das Volk akzep­tiert die­se all­ge­gen­wär­ti­ge Bewusst­seins­skla­ve­rei fröh­lich und stolz, weil es das ner­vö­se Bedürf­nis hat, sich in eine Maschi­ne der Macht zu ver­wan­deln, eine soge­nann­te Nati­on, und ande­ren Maschi­nen in ihrer kol­lek­ti­ven Welt­lich­keit nachzueifern.«

Sechs Jah­re vor Tago­re hat­te übri­gens schon ein­mal ein Dich­ter den Lite­ra­tur­no­bel­preis erhal­ten, der eben­falls in Indi­en, und zwar in Bom­bay, gebo­ren wor­den war: Rudy­ard Kipli­ng, heu­te vor allem als Ver­fas­ser der bei­den zeit­lo­sen Dschun­gel­bü­cher und des Romans »Kim« noch bekannt. Er war sozu­sa­gen ein Anti­po­de zu Tago­re: ein über­zeug­ter Impe­ria­list. Nach Kipli­ngs Auf­fas­sung »war es Auf­ga­be des ›wei­ßen Man­nes‹, für Recht und Ord­nung in der Welt zu sor­gen« (»Ruhm und Ehre«, S. 92).

Schon Tago­re mach­te weni­ge Jah­re spä­ter in sei­nen Vor­trä­gen deut­lich, wie­viel Unrecht und Unord­nung in der Welt dar­auf zurück­ge­hen, dass eben die­ser wei­ße Mann sei­ne »Auf­ga­be« äußerst kom­pro­miss­los erfüllt. Und das ist bis heu­te so geblieben.

Rabin­dra­nath Tago­re: »Natio­na­lis­mus«, aus dem Eng­li­schen von Joa­chim Kal­ka, mit einem Vor­wort von Pan­kaj Mishra, Beren­berg Ver­lag, 120 Sei­ten, 22 €