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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Schandgeld

Wie schä­big Deutsch­land mit NS-Opfern umgeht, ist in Ossietzky schon mehr­fach beschrie­ben wor­den: Hun­dert­tau­sen­den von ihnen wur­de nach der Befrei­ung vom Faschis­mus jeg­li­che Ent­schä­di­gung ver­wehrt. Umso groß­zü­gi­ger dage­gen behan­delt die Bun­des­re­pu­blik jene, die sich auf die Sei­te Nazi-Deutsch­lands geschla­gen hat­ten: Zu Tau­sen­den wur­den selbst jenen unter ihnen monat­li­che Lei­stun­gen bewil­ligt, denen sie wegen ihrer Ver­strickung in Kriegs­ver­bre­chen eigent­lich gestri­chen wer­den müss­ten. Dazu gehö­ren auch aus­län­di­sche Kol­la­bo­ra­teu­re. Das hat nun das bel­gi­sche Par­la­ment auf den Plan geru­fen, das den Stopp die­ser Zah­lun­gen verlangt.

Das Pro­blem ist nicht neu. In den 1990er Jah­ren wur­de bekannt, dass in den bal­ti­schen Staa­ten Per­so­nen, die wäh­rend der deut­schen Besat­zung frei­wil­lig den let­ti­schen bezie­hungs­wei­se est­ni­schen Waf­fen-SS-Ver­bän­den bei­getre­ten waren, »Ren­ten« aus Deutsch­land bezie­hen. NS-Opfer­ver­bän­de waren zu Recht empört. An der Pra­xis hat sich seit­her aber – abge­se­hen von einem bio­lo­gisch beding­ten Rück­gang der Lei­stun­gen – kaum etwas geän­dert. Der Begriff »Ren­ten« ist dabei nicht ganz kor­rekt: Meist han­delt es sich um »Kriegs­op­fer­lei­stun­gen« nach dem Bun­des­ver­sor­gungs­ge­setz (BVG). Das Gesetz regelt finan­zi­el­le Kom­pen­sa­tio­nen für bestimm­te Per­so­nen­grup­pen, die kriegs­be­dingt blei­ben­de Gesund­heits­schä­den erlit­ten haben. Das kön­nen sowohl Zivi­li­sten sein, die zum Bei­spiel bei alli­ier­ten Bom­bar­de­ments zu Scha­den kamen, aber auch Sol­da­ten, die im Gefecht oder in Kriegs­ge­fan­gen­schaft ver­letzt wur­den. Die Höhe hängt vom Grad der Ver­sehrt­heit ab. Poli­tisch hei­kel wird es dadurch, dass auch Aus­län­der die Lei­stun­gen bezie­hen kön­nen, wenn sie mili­tä­risch kol­la­bo­riert hat­ten. Wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges hat­ten sich zwi­schen 800.000 und 950.000 aus­län­di­sche Staats­bür­ger der Wehr­macht oder der Waf­fen-SS angeschlossen.

Vor 20 Jah­ren wur­de in das BVG ein Pas­sus auf­ge­nom­men, mit dem Kriegs­ver­bre­cher von den Lei­stun­gen aus­ge­schlos­sen wer­den soll­ten. Das Ergeb­nis ist weni­ger als küm­mer­lich: Von rund einer Mil­li­on dama­li­gen Lei­stungs­be­zie­hern wur­den gera­de ein­mal 99 die Bezü­ge gestri­chen. Die Ver­sor­gungs­äm­ter recher­chier­ten nicht umfang­reich, wesent­li­che Quel­le waren Listen des Simon Wie­sen­thal Cen­ter (SWC). Dar­auf zieht sich die Bun­des­re­gie­rung bis heu­te zurück: Bes­ser als auf die­se aner­kann­te Insti­tu­ti­on von »Nazi-Jägern« zurück­zu­grei­fen, habe man es doch gar nicht machen können.

Hät­te man schon. Es war näm­lich nicht so, dass das SWC die Namen der Emp­fän­ger erhal­ten hat. Da war der Daten­schutz vor. Die Ver­sor­gungs­äm­ter beka­men die SWC-Listen und ver­gli­chen sie mit ihren eige­nen – und das offen­bar eher weni­ger akku­rat. Denn knapp 17 Jah­re spä­ter ging aus einer Stu­die her­vor, dass Tau­sen­de von Lei­stungs­emp­fän­gern ihr Geld wei­ter erhiel­ten, obwohl sie auf den SWC-Listen stan­den. Der Histo­ri­ker Ste­fan Klemp rech­ne­te hoch, dass noch im Jahr 2015 unter den 150.000 Lei­stungs­emp­fän­gern 7500 Per­so­nen waren, denen man die Lei­stun­gen hät­te ent­zie­hen können.

Es ist eher ver­wun­der­lich, dass man im Aus­land die Rege­lung bis­lang prak­tisch wider­spruchs­los hin­ge­nom­men hat: Immer­hin wer­den ja Per­so­nen finan­zi­ell belohnt, die sich im Krieg auf die Sei­te der Besat­zer, des Fein­des, geschla­gen haben. Im Bal­ti­kum mag das dar­an lie­gen, dass die SS-Frei­wil­li­gen als »Kämp­fer gegen den Bol­sche­wis­mus« alle­mal mehr Sym­pa­thie genie­ßen als ehe­ma­li­ge Rotarmisten.

Zumin­dest in West­eu­ro­pa regt sich seit eini­gen Mona­ten ein gewis­ser Unmut. Vor­an presch­te das bel­gi­sche Par­la­ment: Im März 2019 ver­ab­schie­de­te es mit einer Drei­vier­tel­mehr­heit eine Reso­lu­ti­on, die fest­hält, dass die Gewäh­rung von Lei­stun­gen »für die Kol­la­bo­ra­ti­on mit einem der mör­de­risch­sten Regime der Geschich­te« in Wider­spruch zur Erin­ne­rungs- und Frie­dens­ar­beit ste­he. Das Par­la­ment for­dert den Stopp der Lei­stun­gen und die Ein­rich­tung einer wis­sen­schaft­li­chen Kom­mis­si­on, um Umfang und kon­kre­te Per­so­nen auf­zu­klä­ren, die heu­te oder in der Ver­gan­gen­heit die­se Lei­stun­gen in Bel­gi­en erhal­ten haben. Auch in der Schweiz und in Frank­reich gab es poli­ti­sche Initia­ti­ven in die­se Rich­tung, wenn auch längst nicht so ent­schlos­se­ne. Von einem »Schand­geld« sprach die fran­zö­si­sche Tages­zei­tung Le Mon­de, das Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um in Paris zeig­te sich ver­är­gert über das »undurch­sich­ti­ge« Geba­ren Deutsch­lands. Selbst die Bild-Zei­tung wit­ter­te einen Skan­dal und titel­te auf­ge­regt: »Welt­weit bekom­men noch 2033 Senio­ren Hit­ler-Ren­te«. Die Zahl ging auf Infor­ma­tio­nen des Bun­des­so­zi­al­mi­ni­ste­ri­ums zurück. Im Mai 2019 teil­te die Bun­des­re­gie­rung auf Anfra­ge der Links­frak­ti­on aktua­li­sier­te Zah­len mit, wonach damals 998 »Beschä­dig­te« (also Kriegs­ver­sehr­te) im Aus­land Lei­stun­gen erhiel­ten, außer­dem 936 Hin­ter­blie­be­ne. Die durch­schnitt­li­che Lei­stungs­hö­he wur­de mit 472 Euro ange­ge­ben. Das ist, neben­bei bemerkt, weit mehr, als Deutsch­land für Über­le­ben­de des Holo­caust ausgibt.

Der eigent­lich span­nen­den Fra­ge aber, wie vie­le die­ser Emp­fän­ger im Zwei­ten Welt­krieg nun als Zivi­li­sten oder als Sol­da­ten bezie­hungs­wei­se gar frei­wil­li­ge Waf­fen-SS-Mit­glie­der ver­letzt wor­den sind, wei­chen deut­sche Behör­den seit Jahr­zehn­ten aus. Die Umset­zung des BVG sei Län­der­sa­che, da habe der Bund kei­nen Ein­blick. Die Links­frak­ti­on im Bun­des­tag reg­te des­we­gen die Links­frak­tio­nen in den Län­dern an, nach­zu­ha­ken. Auch dort größ­ten­teils Schwei­gen. Exem­pla­risch die Ant­wort des Ham­bur­ger Senats: Man über­wei­se (Stand Juni 2019) monat­lich an 67 Beschä­dig­te im Aus­land Lei­stun­gen. 26 von ihnen waren 1945 noch Kin­der. Auf die Fra­ge, wie vie­le der übri­gen 41 Per­so­nen bei der Waf­fen-SS gedient hat­ten, gab der Senat allen Ern­stes zur Ant­wort, das kön­ne man nicht sagen, weil dazu »sämt­li­che mehr­bän­di­gen Ein­zel­ak­ten von allen zustän­di­gen Stel­len gesich­tet und aus­ge­wer­tet wer­den müss­ten, zuzüg­lich der Anfor­de­rung der Akten und dem Trans­port aus dem Akten­la­ger«. Akten zu 41 Per­so­nen aus dem Lager zu holen und zu sich­ten – für eine deut­sche Behör­de ist das also eine nicht zu bewäl­ti­gen­de Auf­ga­be. Jeden­falls, wenn es dar­um geht, SS-Ver­bre­cher zu iden­ti­fi­zie­ren und ihnen ihr monat­li­ches Salär zu streichen.

Inter­es­sant, dass die glei­che Fra­ge von der Regie­rung des Saar­lan­des, das für Lei­stungs­emp­fän­ger in Frank­reich zustän­dig ist, sehr wohl beant­wor­tet wer­den konn­te: Dem­zu­fol­ge gehö­ren zu den dor­ti­gen Emp­fän­gern vier ehe­ma­li­ge Waf­fen-SS-Ange­hö­ri­ge. Dazu zäh­len drei Fran­zo­sen, von denen einer in der Divi­si­on Char­le­ma­gne war; außer­dem ein Deut­scher, der in einer SS-Kaval­le­rie­ein­heit diente.

In Bezug auf Bel­gi­en ist bekannt, dass dort 18 Per­so­nen mit Lei­stun­gen aus Deutsch­land ver­sorgt wer­den, unter ihnen ein ehe­ma­li­ges Waf­fen-SS-Mit­glied. Als das im Früh­jahr 2019 her­aus­kam, beeil­te sich der deut­sche Bot­schaf­ter zu ver­si­chern, alle Per­so­nen sei­en von den deut­schen Behör­den »wie­der­holt« kon­trol­liert wor­den. Auf Nach­fra­ge der Lin­ken im Bun­des­tag, wie oft und wie inten­siv genau, ruder­te die Bun­des­re­gie­rung prompt zurück: Das sei Län­der­sa­che, da lägen der Bun­des­re­gie­rung »kei­ne Kennt­nis­se« vor – die Behaup­tung war also nur ein Manö­ver der Bot­schaft, um die bel­gi­sche Öffent­lich­keit zu beschwichtigen.

In eini­gen Fäl­len geht es tat­säch­lich auch im juri­sti­schen Sin­ne um eine Ren­te: »Der Dienst von soge­nann­ten Hilfs­wil­li­gen inner­halb der Wehr­macht oder der Waf­fen-SS sowie der Dienst in der soge­nann­ten Wlas­sow-Armee bezie­hungs­wei­se der Ukrai­ni­schen Befrei­ungs­ar­mee [einer Aus­glie­de­rung der Waf­fen-SS, U. J.] kann als Ersatz­zeit berück­sich­tigt wer­den«, so die Bun­des­re­gie­rung. Es gibt also für die­se Kol­la­bo­ra­teu­re nicht direkt Ren­te, aber der Dienst wird im Ren­ten­ver­lauf berück­sich­tigt, eben­so die Dau­er etwa­iger Kriegs­ge­fan­gen­schaft (Straf­haft im Aus­land wegen NS-Ver­bre­chen hin­ge­gen, offi­zi­ell, nicht). Eine rich­ti­ge Ren­te kann nur bean­spru­chen, wer »haupt­be­ruf­lich« für Wehr­macht oder Waf­fen-SS tätig war; dar­un­ter dürf­ten nur sehr weni­ge Aus­län­der gewe­sen sein.

Als die Links­frak­ti­on anfrag­te, ob unter den in Bel­gi­en leben­den Emp­fän­gern von Ren­ten­be­zü­gen Per­so­nen sei­en, denen Bei­trags­zei­ten oder Zei­ten fik­ti­ver Nach­ver­si­che­rung für den frei­wil­li­gen Dienst in Wehr­macht oder Waf­fen-SS ange­rech­net wer­den, gab die Bun­des­re­gie­rung zur Ant­wort: Auch das wis­se man nicht. »Die Kennt­nis dar­über, ob Per­so­nen einen frei­wil­li­gen Dienst in der Waf­fen-SS gelei­stet haben, ist für die Anwen­dung der ren­ten­recht­li­chen Rege­lun­gen nicht erfor­der­lich.« Und aus Daten­schutz­grün­den dür­fe man das auch gar nicht erforschen.

Die Lin­ke hat, inspi­riert von der Reso­lu­ti­on des bel­gi­schen Par­la­ments, einen Antrag in den Bun­des­tag ein­ge­bracht, der unter ande­rem for­dert, Lei­stun­gen an ehe­ma­li­ge frei­wil­li­ge Waf­fen-SS-Ange­hö­ri­ge ein­zu­stel­len. Es war über­legt wor­den, die­se For­de­rung auch auf ehe­ma­li­ge frei­wil­li­ge Wehr­machts­an­ge­hö­ri­ge aus­zu­deh­nen, die schließ­lich auch unzäh­li­ge Ver­bre­chen began­gen hat­ten. Das wür­de aber eine Abwä­gung erfor­dern mit dem Umstand, dass sich man­che »frei­wil­lig« zu einem Dienst in der Wehr­macht ver­pflich­tet hat­ten, um einer schlim­me­ren Alter­na­ti­ve zu ent­ge­hen. Die Waf­fen-SS hin­ge­gen war defi­ni­tiv kein Refu­gi­um, son­dern, wie vom Nürn­ber­ger Tri­bu­nal fest­ge­stellt, eine ver­bre­che­ri­sche Orga­ni­sa­ti­on. Die Lin­ke ver­zich­tet in ihrem Antrag dar­auf, den Lei­stungs­ent­zug nur auf aus­län­di­sche SS-Mit­glie­der zu bezie­hen, denn war­um soll­ten deut­sche Täter bes­ser gestellt werden?

Außer­dem for­dert der Antrag, dem bel­gi­schen Wunsch nach einer wis­sen­schaft­li­chen Unter­su­chung zuzu­stim­men und Mög­lich­kei­ten zu prü­fen, aus­län­di­schen Behör­den Daten zu über­mit­teln, die sie in die Lage ver­set­zen, die deut­schen Lei­stun­gen an bei ihnen leben­de SS-Vete­ra­nen zu besteu­ern oder gar ein­zu­zie­hen. In Bel­gi­en hat der Antrag bei Grü­nen, Sozi­al­de­mo­kra­ten und Links­li­be­ra­len ein posi­ti­ves Echo her­vor­ge­ru­fen, die Par­tei DéFi (Démo­cra­te Fédé­ra­li­ste Indé­pen­dant), die die Reso­lu­ti­on des bel­gi­schen Par­la­ments initi­iert hat­te, for­der­te die ande­ren bel­gi­schen Par­tei­en auf, bei ihren jewei­li­gen Kol­le­gen in Deutsch­land sich dafür ein­zu­set­zen, den Antrag der Lin­ken zu unterstützen.

Ent­schie­den ist noch nichts. Aber klar ist schon jetzt: Das Miss­ver­hält­nis zwi­schen der Knaus­rig­keit gegen­über NS-Opfern und der Groß­zü­gig­keit gegen­über dem Kreis der Täter ist offen­sicht­lich, eben­so der seit Jahr­zehn­ten vor­herr­schen­de Unwil­le, den Täter­kreis genau­er zu sich­ten. Bei­des ist ein Armuts­zeug­nis für die angeb­lich ach so umsich­ti­ge Auf­ar­bei­tung der Geschich­te in Deutsch­land. Und es ist eine Schan­de, dass es für solch einen Antrag erst einen Anstoß auf dem Aus­land braucht.

Die erwähn­te Stu­die zur (Nicht-)Umsetzung von § 1a BVG fin­det sich hier: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb472-schlussbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=3