Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Arbeitsunrecht im EU-Imperium

Wer­ner Rüge­mer legt eine neue umfang- und detail­rei­che Stu­die zum gro­ßen – von der Poli­tik weit­ge­hend aus­ge­blen­de­ten – The­ma Arbeits­un­recht in der Euro­päi­schen Uni­on vor. Und er holt weit aus, um deut­lich zu machen, dass es sich dabei kei­nes­wegs um ein bedau­er­li­ches Defi­zit im System han­delt, son­dern um einen der Grund­pfei­ler des neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus selbst, des­sen kata­stro­pha­le Fol­gen gera­de jetzt in Coro­na-Zei­ten deut­lich werden.

Daher reka­pi­tu­liert er auf den ersten 120 von gut 300 Sei­ten (mit 579 Fuß­no­ten und Quel­len­an­ga­ben) die »geo­po­li­ti­sche Rah­men­ge­stal­tung« der Ent­ste­hung der EU und ihre Ent­wick­lung im Ein­zel­nen seit den ersten Ansät­zen vor gut hun­dert Jah­ren, damals als Ant­wort gegen die jun­ge Sowjet­uni­on kon­zi­piert, als die füh­ren­den west­li­chen Län­der schon die Gefahr einer »Bol­sche­wi­sie­rung« als exi­stenz­be­dro­hend emp­fan­den. Der erste Ver­such zur Schaf­fung eines euro­päi­schen Wirt­schafts­rau­mes unter deut­scher Füh­rung schei­ter­te zunächst an der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Ver­wü­stung desselben.

Nach dem alli­ier­ten Sieg 1945 über Deutsch­land hoff­ten die Völ­ker dann end­lich auf die Schaf­fung der Bedin­gun­gen für einen sta­bi­len Frie­den. Noch wäh­rend des Krie­ges war eine gan­ze Rei­he von Vor­schlä­gen für eine poli­ti­sche Ver­ei­ni­gung Euro­pas ent­stan­den, zum Bei­spiel das Mani­fest von Ven­to­te­ne. Nam­haf­te ita­lie­ni­sche Anti­fa­schi­sten hat­ten 1941 in der Ver­ban­nung auf der gleich­na­mi­gen Insel im Mit­tel­meer eine föde­ra­li­sti­sche und sozia­li­sti­sche Nach­kriegs­ord­nung ent­wor­fen. Einer von ihnen, Altie­ro Spi­nel­li, wur­de zwar spä­ter ein renom­mier­ter EG-Poli­ti­ker, doch aus der sozia­li­sti­schen Föde­ra­ti­on Euro­pas wur­de bekannt­lich nichts, denn auch nach 1945 wur­de die soge­nann­te System­aus­ein­an­der­set­zung im Kal­ten – wie im hei­ßen – Krieg fort­ge­setzt, und die poli­ti­sche Stoß­rich­tung des nun expli­zit atlan­tisch ori­en­tier­ten Euro­pas blieb im Wesent­li­chen unver­än­dert: gegen die Sowjet­uni­on und seit 1991 bis heu­te wei­ter gegen Russland.

Rüge­mer unter­streicht die ent­schei­den­de Rol­le der USA als euro­päi­sche Ord­nungs­macht bei der Schaf­fung des anti­kom­mu­ni­sti­schen Eli­ten­pro­jek­tes Euro­pa – vom Mar­shall­plan bis zur Aus­ge­stal­tung der euro­päi­schen Orga­ni­sa­tio­nen. Er geht ein auf die Ent­wick­lung von Mon­tan- und Atom­u­ni­on zur Wirt­schafts­ge­mein­schaft (EWG) und auf deren West-, Süd- und Ost­erwei­te­rung – immer in enger Anleh­nung an die NATO. Grund­la­ge blie­ben die kapi­ta­li­sti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se und die tra­dier­te Gesell­schafts­struk­tur mit all ihren ant­ago­ni­sti­schen Wider­sprü­chen, Ein­schrän­kun­gen demo­kra­ti­scher Frei­hei­ten (mit Aus­nah­me der Kon­sum-Frei­heit – sofern das nöti­ge Geld vor­han­den) und der pro­pa­gan­di­sti­schen Ver­drän­gung der Klas­sen­ge­gen­sät­ze bei fort­schrei­ten­der rea­ler Spal­tung in Rei­che und immer mehr Arme.

Der Autor beschreibt auch die direk­ten recht­li­chen Instru­men­te, die die heu­ti­ge Kapi­tal-Büro­kra­tie und ihre domi­nie­ren­den Akteu­re in der EU nach und nach kodi­fi­ziert haben, über die Pri­va­ti­sie­run­gen, die Frei­han­dels­ver­trä­ge, die Bei­hil­fen an Unter­neh­men und die vie­len Sub­ven­tio­nen ohne Auf­la­gen für Arbeits­rech­te. Denn letz­te­re haben eben kei­ne kol­lek­ti­ve Gel­tung in der EU und wider­spre­chen sogar expli­zit den von der UNO defi­nier­ten Men­schen­rech­ten: eine lan­ge Geschich­te mit vie­len Leidensstationen.

Als Bei­spiel sei nur die jüng­ste Euro­päi­sche Säu­le Sozia­ler Rech­te (ESSR) zitiert, die 2017 in Göte­borg ver­ab­schie­det wur­de, um der »mit hoher Arbeits­lo­sig­keit, gras­sie­ren­der Armut und schwa­cher Wirt­schaft größ­ten Kri­se seit Gene­ra­tio­nen« beson­ders in Süd­eu­ro­pa gegen­zu­steu­ern, wie Kom­mis­si­ons­prä­si­dent Jun­cker es aus­drück­te. (S. 170) Die 20 vage for­mu­lier­ten und unver­bind­li­chen – da nicht ein­klag­ba­ren – Rech­te wur­den durch die Richt­li­nie 2019/​1152 umge­setzt, die »einen brei­ten per­sön­li­chen Anwen­dungs­be­reich« vor­sieht: »Er soll sicher­stel­len, dass alle Arbeitnehmer/​innen in allen Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen – selbst in den fle­xi­bel­sten aty­pi­schen und neu­en For­men wie Null-Stun­den-Ver­trä­ge, Gele­gen­heits­ar­beit, Haus­ar­beit, Arbeit auf der Grund­la­ge von Gut­schei­nen oder Arbeit über Platt­for­men – in den Genuss die­ser Rech­te kom­men.« Hier fehlt die Erwäh­nung kol­lek­ti­ver Arbeits-, Tarif- und Gewerk­schafts­rech­te, wie Mit­be­stim­mung und Beleg­schafts­ver­tre­tung, eben­so wie das Recht auf kosten­lo­se Bil­dung, bezahl­ba­res Woh­nen und eine men­schen­wür­di­ge Rente.

Die Ren­ten­fra­ge soll in der EU eher von Black­Rock und ande­ren Fonds­ge­sell­scha­fen gelöst wer­den, die bereits in den USA über einen erheb­li­chen Markt­an­teil an der pri­va­ten Alters­vor­sor­ge ver­fü­gen, unter ande­rem durch den Ver­kauf der BlackRock-»Volksaktie« ETF. Auf Vor­schlag der EU-Kom­mis­si­on beschlos­sen Rat und Par­la­ment schon 2016 eine ent­spre­chen­de Ver­ord­nung zum Pan­eu­ro­pean Pri­va­te Pen­si­on Pro­duct (PEPP), die deren Kauf in den Mit­glieds­län­dern steu­er­lich sub­ven­tio­nie­ren soll.

Auch die diver­sen EU-Orga­ni­sa­tio­nen zur »ope­ra­ti­ven Umset­zung des Arbeits­Un­rechts« wer­den von Rüge­mer kri­tisch durch­leuch­tet: von dem von ihm als Soft­Power defi­nier­ten Euro­päi­schen Sozi­al­fonds (ESF) aus dem Jah­re 1957 bis zur Euro­pean Labour Aut­ho­ri­ty (2018) mit Sitz in Bra­tis­la­va, die den »Markt der auf 17,5 Mil­lio­nen geschätz­ten Arbeits­mi­gran­tIn­nen zwi­schen den EU-Staa­ten« regeln soll, die aus Nicht-EU-Staa­ten blei­ben sowie­so außen vor.

Das, was kürz­lich beim lan­ge durch die EU sub­ven­tio­nier­ten Schlacht­kon­zern Tön­nies anläss­lich der Coro­na-Infek­tio­nen zuta­ge getre­ten ist – die berüch­tig­ten »Werk­ver­trä­ge« mit »Tages­schich­ten von über 16 Stun­den, nicht ein­ge­hal­te­nen Pau­sen- und Ruhe­zei­ten, ent­fern­ten Schutz­ein­rich­tun­gen« und so wei­ter (S. 175) – macht den Raub­bau an Arbeits­kräf­ten sicht­bar, den die rei­che­ren EU-Staa­ten an den ärme­ren von jeher betrei­ben. Die­se suchen dann ihrer­seits »in noch ärme­ren Regio­nen der Erde neue Nied­rig­löh­ner mit noch nied­ri­ge­ren Nied­rig­löh­nen«, die Spi­ra­le lässt sich fort­set­zen. »Das von der EU gedul­de­te Arbeits­re­gime ist hart. Die ein­hei­mi­schen Unter­neh­mer wer­den gegen­ein­an­der aus­ge­spielt, dür­fen sich selbst mäßig berei­chern, die Arbeits­auf­sicht funk­tio­niert nicht …« (S. 180) Die Min­dest­löh­ne, die durch die geplan­te Ein­füh­rung eines euro­päi­schen Stan­dards zumin­dest das Image der EU auf­bes­sern sol­len, lie­gen der­zeit bei 1,72 Euro in Bul­ga­ri­en und 11,97 Euro in Luxem­burg – an sol­chen Unter­schie­den soll im Prin­zip nichts geän­dert werden.

Das bri­san­te The­ma der Lohn­hö­he, die heu­te immer wei­ter von der Pro­duk­ti­vi­tät der Arbeit abge­kop­pelt wird, wirft das Pro­blem einer drin­gend nöti­gen Über­win­dung der macht­ge­stütz­ten, lei­stungs­lo­sen Aneig­nung des wach­sen­den Mehr­werts aus der aus­ge­beu­te­ten Arbeit auf!

Das syste­mi­sche Arbeits­un­recht für die arbei­ten­de Klas­se und die per­spek­ti­vi­schen Ein­schrän­kun­gen der Mit­tel­klas­se haben inzwi­schen auch den Abstieg jener »Volks«-Parteien beför­dert, die ihre popu­li­sti­schen Ver­spre­chen – auf Arbeit und Wohl­stand für alle in der EU, auf Demo­kra­tie und Frie­den – nicht erfüllt haben. EU-Kapi­ta­li­sten und ihre Leit­me­di­en »rümp­fen zwar die Nase über Rüpel wie Donald Trump oder Boris John­son, aber die­se sind ihnen ungleich lie­ber als die demo­kra­ti­schen Alter­na­ti­ven wie Cor­byns Labour Par­ty in Groß­bri­tan­ni­en, Ber­nie San­ders in den USA, La France Inso­u­mi­se in Frank­reich oder Pode­mos in Spa­ni­en«. Und hier sieht Rüge­mer das eigent­li­che Pro­blem der EU: »Die demo­kra­ti­schen Kräf­te sind (noch) nicht stark genug für den Wech­sel« (S. 47), aber er stellt fest, sie berei­ten sich vor, wenn auch noch unko­or­di­niert. Zwar ver­su­chen die Ver­tre­ter der alten Ord­nung, schon die klei­nen Auf­brü­che zu ersticken, sofern sich die­se nicht neu­tra­li­sie­ren oder inte­grie­ren las­sen, doch erkennt Rüge­mer in den Pro­test­ak­tio­nen zukünf­ti­ge Möglichkeiten.

Sol­che viel­fäl­ti­gen defen­si­ven »Auf­brü­che gegen Aus­beu­tung und Ent­rech­tung« in Euro­pa beschreibt er im zwei­ten Teil sei­ner Stu­die: Die »Lage der arbei­ten­den Klas­se in der EU« wird mit einer lan­gen Rei­he von Fall­bei­spie­len aus etli­chen Staa­ten beleuch­tet. Dabei kom­men auch Akti­vi­stIn­nen, Gewerk­schaf­te­rIn­nen und AutorIn­nen zu Wort, die schon seit lan­gem für die Durch­set­zung von Men­schen­rech­ten in der Arbeits­welt kämp­fen. Und dass Coro­na alle am Pro­duk­ti­ons­pro­zess Betei­lig­ten in die­ser Per­spek­ti­ve zu einem radi­ka­len Umden­ken zwin­gen muss, ver­deut­licht nicht zuletzt die Lek­tü­re die­ses Buches.

Ein Glos­sar und ein rei­ches Lite­ra­tur­ver­zeich­nis machen es zu einem wich­ti­gen Arbeitsinstrument.

 

Wer­ner Rüge­mer: »Impe­ri­um EU. Arbeits­Un­recht, Kri­se, neue Gegen­wehr«, Papy­Ros­sa, 329 Sei­ten, 19,90 €