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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Brexit – Chaos mit oder ohne Plan?

Mit 432 zu 202 Stim­men lehn­te am 15. Janu­ar das bri­ti­sche Unter­haus das von der Regie­rung May aus­ge­han­del­te Aus­tritts­ab­kom­men zwi­schen dem Ver­ei­nig­ten König­reich und der Euro­päi­schen Uni­on ab. Das sofort nach die­ser Nie­der­la­ge vom Labour-Oppo­si­ti­ons­füh­rer Jere­my Cor­byn ein­ge­reich­te Miss­trau­ens­vo­tum aber hat The­re­sa May über­stan­den und will nun (nach Ossietzky-Redak­ti­ons­schluss) einen Plan vor­le­gen, wie das wei­te­re Aus­tritts­ver­fah­ren gestal­tet wer­den soll.

In den deut­schen Medi­en wer­den die erregt sowohl im bri­ti­schen Par­la­ment als auch auf den Stra­ßen des Ver­ei­nig­ten König­reichs geführ­ten Debat­ten über­wie­gend als Cha­os wahr­ge­nom­men – oft mit dem Unter­ton: Die spin­nen, die Bri­ten. Die vom dama­li­gen Pre­mier David Came­ron ange­ord­ne­te Abstim­mung des bri­ti­schen Staats­volks wird weit­hin als gei­sti­ger Aus­ra­ster, als Pan­ne ange­se­hen, durch wel­che die Indu­strie- und Finanz­welt der bri­ti­schen Inseln gegen ihren Wil­len von einem dumpf­backi­gen Volk gezwun­gen wor­den sei, wider alle öko­no­mi­sche Ver­nunft den gemein­sa­men euro­päi­schen Markt zu ver­las­sen. Die seit­dem statt­fin­den­den Manö­ver wer­den als ein wir­rer Zick­zack-Kurs dar­ge­stellt, dem kei­ne inne­re Logik und schon gar kein ver­nünf­ti­ger Plan zugrun­de liegt.

Was, wenn wir nur einen klei­nen Moment zwei Grund­an­nah­men täti­gen, um das ver­meint­li­che Durch­ein­an­der auf der bri­ti­schen Insel zu erklären?

Die Grund­an­nah­me eins lau­tet: Die – weit vor der US-ame­ri­ka­ni­schen und noch wei­ter vor der deut­schen Bour­geoi­sie – erfah­ren­ste herr­schen­de Klas­se die­ser Welt, die zwei Welt­krie­ge gewon­nen hat, han­delt nicht irra­tio­nal, son­dern rational.

Die Grund­an­nah­me zwei lau­tet: Das Refe­ren­dum war kei­ne Pan­ne, son­dern ein wich­ti­ges Ele­ment eines Pla­nes, des­sen Kern­punkt die inzwi­schen ver­stor­be­ne Mar­ga­ret That­cher als ihre zen­tra­le poli­ti­sche Leit­li­nie und Lebens­weis­heit ein­mal sinn­ge­mäß so zusam­men­ge­fasst hat: Alle poli­ti­schen Pro­ble­me kamen wäh­rend mei­nes Lebens immer vom Kon­ti­nent und alle Lösun­gen von der eng­lisch­spra­chi­gen Welt. Im Klar­text: Wenn es kri­tisch wird, lös‘ dich von den Schwan­ken­den zwi­schen Paris, Brüs­sel und Ber­lin, und rück‘ fest an die Sei­te der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Amerika.

Die Geschich­te der Euro­päi­schen Uni­on ist vol­ler Zurück­wei­sun­gen von Plä­nen der jewei­li­gen natio­na­len Bour­geoi­si­en durch die Völ­ker – ob beim Bei­tritt zur EU oder zum Euro. Die Regel war nicht, dass das dann von den Herr­schen­den die­ser Völ­ker so akzep­tiert wur­de. Die Regel war, die Völ­ker so lan­ge zu kne­ten und abstim­men zu las­sen, bis das Ergeb­nis stimm­te. War­um machen sich die herr­schen­den Krei­se der Insel, für die May spricht, die­se Regel nicht zu eigen? Könn­te es sein, dass sie die­ses Ergeb­nis gewollt haben – auch, weil es poli­tisch die Mög­lich­keit eröff­net, das Volk den Preis für den Aus­stieg durch sin­ken­den Lebens­stan­dard zah­len zu lassen?

Natür­lich sind die Inter­es­sen der herr­schen­den Klas­se in Groß­bri­tan­ni­en wider­sprüch­lich – wie die jeder natio­nal herr­schen­den Klas­se. Das ist eine Bin­sen­wahr­heit. Es wird für Land­wir­te und Händ­ler bit­te­re Ver­lu­ste geben, wenn Groß­bri­tan­ni­en den gemein­sa­men Markt ver­lässt. Aber Regie­run­gen, das wis­sen wir seit Fried­rich Engels, der sei­ne bri­ti­sche Obe­ren gut kann­te, sind die geschäfts­füh­ren­den Aus­schüs­se der gesam­ten herr­schen­den Klas­se und reprä­sen­tie­ren den Wil­len nicht ihrer schwä­che­ren, son­dern ihrer stärk­sten Kräf­te. War­um soll­te das im heu­ti­gen Groß­bri­tan­ni­en anders sein?

Das alles zusam­men­ge­nom­men ergibt sich ein viel run­de­res Bild von den Ereig­nis­sen in Lon­don: Die herr­schen­de Klas­se in Groß­bri­tan­ni­en ist nach gründ­li­cher Abwä­gung unterm Strich zu der­sel­ben Ein­schät­zung der Welt­la­ge gekom­men wie die in den USA. Die lau­tet: So wie die Haupt­auf­ga­be im letz­ten Jahr­hun­dert die Besei­ti­gung der Her­aus­for­de­rung Sowjet­uni­on war – die nach lan­gen hei­ßen und kal­ten Krie­gen von 1917 bis 1989 erle­digt wur­de –, so ist die Haupt­auf­ga­be im 21. Jahr­hun­dert die Besei­ti­gung der Her­aus­for­de­rung Chi­na. An der Sei­te Chi­nas steht der Ver­lie­rer des 20. Jahr­hun­derts, also Russ­land. Es zeich­net sich ein gro­ßer Kon­flikt zwi­schen den USA auf der einen Sei­te und Chi­na auf der ande­ren Sei­te ab, der mit der Waf­fe der ideo­lo­gi­schen Kri­tik, mit Wirt­schafts­krieg und, wenn es denn sein muss, mit der Kri­tik der Waf­fen aus­ge­tra­gen wer­den wird. In der Mit­te zwi­schen den Haupt­blöcken China/​Russland (die es nach Mög­lich­keit noch zu tren­nen gilt vor dem gro­ßen Show­down) und den um die USA ver­sam­mel­ten Staa­ten steht – wie so häu­fig in den letz­ten 200 Jah­ren – ein schwan­ken­des Euro­pa mit den immer nach Rapal­lo schie­len­den Deut­schen als Haupt­macht und ihren schwä­cheln­den Fran­zo­sen als Begleit­per­so­nal. Gro­ße Kämp­fe und die mei­sten Krie­ge for­dern letzt­lich eine bibli­sche – heu­te wür­de man wohl sagen digi­ta­le – Ent­schei­dung, also kein Sowohl-als-auch, kei­ne Grau­zo­nen, son­dern ein Ja oder Nein, 0 oder 1, für oder gegen. Eine herr­schen­de Klas­se, die in sol­chen Situa­tio­nen bestehen will, darf nicht auf die Schwan­ken­den, son­dern muss auf die Festen bau­en. Also rückt die erfah­ren­ste herr­schen­de Klas­se der kapi­ta­li­sti­schen Welt fest an die Sei­te der stärk­sten – UK und USA bil­den den Kern des aggres­si­ven Haupt­blocks der kom­men­den gro­ßen Konfrontation.

Von die­sem Blick­punkt aus gibt es zwar – wie immer vor und im Krieg – Schwie­rig­kei­ten, Trä­nen und gele­gent­li­ches Cha­os, das zum Kampf­ge­tüm­mel immer dazu­ge­hört, aber über­haupt kei­ne inne­ren Wider­sprü­che hin­sicht­lich des­sen, was im Ver­ei­nig­ten König­reich zur­zeit pas­siert. »Be pre­pared for the big war – wha­te­ver the cost« – das ist der bis­lang noch ver­bor­ge­ne Kern­satz, der ein Schlüs­sel wäre, um die Bri­ten nicht als Irre, son­dern als fol­ge­rich­tig Han­deln­de zu begreifen.