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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Punk im Sterbehospiz

Ist das nun ein absur­des Stück im Sin­ne von Beckett oder rei­ner Punk? Oder nur ein Event? Ich ver­su­che, den Text ernst zu neh­men, wer­de immer wie­der vor den Kopf gesto­ßen. Eine Urauf­füh­rung im Maler­saal des Schau­spiel­hau­ses Ham­burg: »Rai­ner Gratz­ke oder Das rote Auto« von Jens Rach­ut, der selbst mit­spielt und Regie führt. Büh­nen­bild: Raoul Doré – von ihm auch die grim­mi­gen Zeich­nun­gen im Pro­gramm­heft wie das sia­me­si­sche Dop­pel­tier, das gegen sich selbst wütet. Den Rai­ner Gratz­ke spielt Josef Osten­dorf, der sich schon mal über­zeu­gend in Donald Trump ver­wan­delt hat. Jetzt ist er ein armes Schwein, das jah­re­lang Pil­len schluck­te und Wäs­ser­chen als Test­per­son für eine Phar­ma­fir­ma. Sei­ne bul­li­ge Gestalt täuscht. Die Neben­wir­kun­gen haben ihn krank gemacht, Meta­sta­sen wuchern in ihm, Medi­ka­men­te dage­gen nütz­ten nichts. Er hat sich – frei­wil­lig? – in ein Ster­be­hos­piz ein­ge­lie­fert, um kon­trol­liert die letz­te Stun­de zu erle­ben, genau­so lan­ge wie die Auf­füh­rungs­dau­er des Stücks. Er wird der letz­te Kun­de sein – oder Pati­ent? Die­ses Hos­piz muss auch ster­ben, der ehe­ma­li­ge Bun­ker soll danach abge­ris­sen wer­den. Er steht neben einem Ver­la­de­bahn­hof – der Blick aus dem Fen­ster für Gratz­ke auf die Abge­scho­be­nen: Autos. Die­ses rote Auto (vom Titel), es ist die Aus­nah­me, auf­fal­lend, ein »Außen­sei­ter, der wird gemobbt«, bekennt Gratz­ke am Schluss.

Was hat er erlebt? Viel erfah­ren wir nicht. Ein­mal spricht er lako­nisch über sein trau­ri­ges Früh­stück: »Wenig­stens einen Kaf­fee. Bekom­me nichts rein, dadurch auch nichts run­ter. Du musst aber was essen, sag­te mei­ne Frau – die ich nicht hat­te.« Die­ser Mär­chen­ton ist Rea­li­tät. »Wenig­stens einen Apfel, bat mei­ne Toch­ter – die es nicht gab.« Der Vater ruft aus dem Him­mel Absur­des. »Mut­ter war nicht da, weil ich sie nicht kann­te …« Sei­ne Gefähr­ten, ein Stoff­ha­se oder die Vögel drau­ßen. Er beob­ach­tet sie, einer hat nur ein Auge. Die Vogel­kacke beschäf­tigt ihn, »wer macht das weg?« Dann ein Satz, der zum Punk nicht so recht pas­sen will: »Das Unter­le­ge­ne, das will beach­tet wer­den.« In sei­ner schmud­de­li­gen Schlaf­an­zug­ho­se – nicht gera­de ein Siegertyp.

Sei­ne Ver­trau­ten? »Da seid ihr ja wie­der, ihr Meta­sta­sen«, sagt er so leicht­hin. Im Video hin­ten reg­nen bun­te Pil­len in sei­nen offe­nen Mund. Im Hos­piz ist er nicht allein, eine Schwe­ster (Gala Othe­ro Win­ter), die alles managt, zupackend, wenn es nötig ist, auf­rei­zend umtrie­big, mit Pagen­pe­rücke, und der Pfle­ger Bob­by (Jens Rach­ut) lei­sten Gratz­ke Gesell­schaft. Was soll die­ser »Pfle­ger«, der nicht pflegt, ein Wil­der mit Keu­le, in Mili­tär­ho­sen, oder ist es gar ein Affe? Ein haa­ri­ger Goril­la oder ein Ver­rück­ter, der nie spricht. Denkt er über­haupt? Der Autor, der ihn spielt, nann­te ihn »Nean­der­ta­ler«. Nun, es gibt ja Pfle­ger, die nicht hel­fen, die nur in den Tod beför­dern. Aber unauf­fäl­lig. Im Video tritt ein Wun­der­hei­ler auf, der inmit­ten der Natur lebt. Gratz­ke kann er nicht helfen.

Irgend­wann erscheint ein Typ mit Son­nen­bril­le, Blin­den­bin­de und blon­der Tol­le im Gecken-Out­fit: James (Jonas Land­er­schier). Es könn­te die­ser unsterb­ba­re Hei­no sein. Er singt und betä­tigt ein klei­nes grü­nes E-Pia­no, sucht sich ein Refu­gi­um im Wand­schrank. Wie eine Krip­pen­fi­gur anzu­se­hen. Punk eben. Auch die Schwe­ster singt, Ver­mer­ke aus den Kran­ken­ak­ten trägt sie vor, immer den glei­chen Text: »gestor­ben am«, dann ergän­zend: »gestor­ben an«, mit hoher Stim­me. Wor­an erin­nert das? An die ver­schlei­ern­den Todes­be­schei­ni­gun­gen der Eutha­na­sie­ärz­te – wor­an sonst? Und alle lächeln. Es wer­den immer mal wie­der Tote durch den Raum gefah­ren und in einem beson­de­ren Zim­mer abge­stellt, wo sie in der Feu­er­glut hell auf­lo­dern, viel Rauch und Ruß erzeu­gend. Ein Pfaf­fe im Roll­stuhl, ohne Kopf, aber mit Rosen­kranz um die Hand gewickelt, wird her­ein­ge­scho­ben. Gratz­ke flü­stert dem Kopf­lo­sen mit wei­ßem Tuch über der Sou­ta­ne ins nicht vor­han­de­ne Ohr: »Wenn Gott den Mumm hat, soll er rein­kom­men und gegen mich antre­ten …« Auch der Pfaf­fe ver­glüht im Feu­er. »Berufs­ver­sa­ger«, ruft ihm Gratz­ke nach. Der Cock­tail ist getrun­ken, war­ten, rau­chen. Die genau abge­mes­se­ne Stun­de, die dem letz­ten Heim­be­woh­ner noch bleibt, sie zieht sich hin. Und er erzählt – wem? – er habe sich sogar mal »künst­le­risch betä­tigt«. Gedich­te geschrie­ben, die dann »ana­ly­siert« wur­den. »Das Gür­tel­tier: Pan­zer, Pan­zer, immer wie­der Pan­zer«. Eine Zeich­nung dazu von Doré im Programmheft.

Einen Arzt braucht die­ses Hos­piz nicht mehr. Aber da gibt es eine Figur, die »Wand­strom-Kampf­geist« genannt wird (Ema­nu­el Bet­ten­court), der taucht immer mal über­ra­schend auf. Ganz zart und flüch­tig wie ein Wir­bel­wind weht er her­ein, sich ver­ren­kend, schnell wie­der ver­schwin­dend, ist nicht zu fas­sen. Trägt einen Kapu­zen­man­tel, der das Gesicht ver­deckt – ein Sen­sen­mann? Eigent­lich das Gegen­teil vom Tod in die­sem Ster­be­hos­piz. Hier ist doch alles geplant, vor­her­seh­bar. Es dröhnt von wei­tem. Die Schwe­ster flü­stert: »Gei­ster«. Gratz­ke will noch Musik und: »Viel­leicht mag er mich ja nicht und haut wie­der ab, der Sen­sen­mann«, sagt er ganz uncool. Durchs offe­ne Fen­ster Rufe von unten: »Prost Neu­jahr, Prost auf den Krieg.« Sind die Stim­men von drau­ßen Wirk­lich­keit oder Erin­ne­run­gen Gratz­kes? »Oberst­leut­nant, erge­ben Sie sich« – wer sagt das? Das Wort »Viet­nam« lässt den wil­den Pfle­ger zur Keu­le grei­fen, er ver­wan­delt sie in einen Mor­gen­stern oder eine Pan­zer­faust? Kam der Schuss durchs Fen­ster? Pfle­ger Bob­by liegt im Blut. Die Schwe­ster mur­melt etwas von »Affen­him­mel« und öff­net die Tür zum Ver­bren­nungs­raum, sie beglei­tet ihn hinein.

Gratz­ke kürzt sei­ne Rest-Lebens­zeit ab zum Schluss, stürzt sich rück­lings aus dem Fen­ster. Ein »selbst­be­stimm­ter« Tod?