Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die Nazis und der Schäferhund

In dem klei­nen Städt­chen Kamen, in dem ich woh­ne, gab es in den sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren des vori­gen Jahr­hun­derts eine beach­tens­wer­te Lite­ra­tur­rei­he: »Die lite­ra­ri­sche Tee­stun­de«. Dort stell­ten bedeu­ten­de Autoren ihre neu­en Roma­ne vor. Es war trotz des kosten­los ser­vier­ten Tees ein müh­sa­mes Unter­fan­gen, denn der Zuspruch in der Berg­ar­bei­ter­stadt blieb dürf­tig, wovon sich der dama­li­ge Volks­hoch­schul­lei­ter als Ver­ant­wort­li­cher der Rei­he aber nicht ent­mu­ti­gen ließ. Uwe John­son las hier aus dem zwei­ten Band sei­ner »Jah­res­ta­ge« vor einem Dut­zend Zuhö­rer. Noch heu­te spü­re ich mei­ne dama­li­ge Beschä­mung. Gele­gent­lich ver­su­che ich, mich mit die­ser Erfah­rung zu trö­sten, wenn ich es bei einer eige­nen Lesung im Ruhr­ge­biet auch nur auf ein Dut­zend Zuhö­rer gebracht habe. Dem Uwe John­son ist es nicht bes­ser ergan­gen, den­ke ich, aber damit endet dann auch jeg­li­cher Ver­gleich. Anma­ßung liegt mir fern.

Anfang der acht­zi­ger Jah­re las der kürz­lich ver­stor­be­ne Edgar Hil­sen­rath in Kamen aus sei­nem umstrit­te­nen Roman »Der Nazi & der Fri­sör«. Es war eine muti­ge Ent­schei­dung, ihn ein­zu­la­den, denn die­ser Schel­men­ro­man wur­de damals hef­tig kri­ti­siert. Er war sowie­so erst sechs Jah­re nach sei­nem Erschei­nen in den USA in Deutsch­land gedruckt wor­den, und das auch nur in dem klei­nen Köl­ner Braun-Ver­lag. Hil­sen­rath, aus einer jüdi­schen Fami­lie stam­mend, kri­ti­sier­te dar­in Juden, was in Zei­ten des Phi­lo­se­mi­tis­mus als gro­ber Ver­stoß gegen die poli­ti­sche Sprach­re­ge­lung galt, und mach­te außer­dem noch einen Mas­sen­mör­der der Nazi­zeit zur Haupt­fi­gur. Dass er ihn zum Hel­den mach­te, wäre eine unpas­sen­de Bezeich­nung, aber Max Schulz, die­ser Mör­der, erzählt mit Witz sei­ne Geschich­te, so dass er nicht durch­gän­gig absto­ßend wirkt.

Die Kame­ner Lesung begann nor­mal, das heißt, es tauch­ten die übli­chen zehn Ver­däch­ti­gen als Zuhö­rer auf. Hil­sen­rath ließ sich dadurch nicht beir­ren und begann, die erste Pas­sa­ge aus sei­nem Roman vor­zu­le­sen. Dann aber pas­sier­te etwas, das alle über­rasch­te. Die Tür ging auf, und ein Dut­zend Leu­te, mehr Män­ner als Frau­en, alle zwi­schen fünf­zig und sech­zig Jah­re alt, erschien und nahm auf den frei­en Stüh­len Platz. Einer von ihnen hat­te tat­säch­lich einen Schä­fer­hund an der Lei­ne. Eine bizar­re Sze­ne, die irgend­wie, wenn ich im Rück­blick dar­über nach­den­ke, zu den def­tig­sten Pas­sa­gen in Hil­sen­raths Roman pass­te. Sati­re im Buch, Real­sa­ti­re, aller­dings gefähr­li­che, im Saal, denn von Anfang an war klar, dass hier kei­ne lite­ra­risch inter­es­sier­ten Bür­ger den Raum betre­ten hat­ten, son­dern Neonazis.

In Kamen gab es damals auf einem Bau­ern­hof ein Schu­lungs­zen­trum der Neo­na­zis. Hin­ter­grund war der frü­he Tod des Bau­ern, sei­ne Frau hei­ra­te­te noch ein­mal, und die­ser zwei­te Ehe­mann war ein Neo­na­zi. Er nutz­te die Chan­ce und bau­te den Bau­ern­hof, der ihm gar nicht gehör­te, zu einem Schu­lungs­zen­trum aus. Regel­mä­ßig zum Wochen­en­de kamen Neo­na­zis aus ganz Deutsch­land ange­reist, teil­wei­se in Bus­sen, und beka­men ihre Dröh­nung in Sachen Ras­sis­mus, die sie Bil­dung nann­ten, beglei­tet von Erklä­run­gen, dass Hit­ler und die Nazi­zeit doch gar nicht so schlimm gewe­sen wären. Regel­mä­ßig war der Bau­ern­hof Ziel­ort unse­rer Demon­stra­tio­nen, regel­mä­ßig muss­te die Poli­zei anrücken, um Zusam­men­stö­ße zu verhindern.

Die Kame­ner Stadt­ver­wal­tung tat sich schwer. Die NPD sei kei­ne ver­bo­te­ne Par­tei, wur­de uns erklärt, und was ihre Mit­glie­der auf Pri­vat­ge­län­de ver­an­stal­te­ten, ent­zie­he sich ihrer Ent­schei­dungs­ge­walt. Wer aber in sei­nem Gebäu­de Schu­lun­gen durch­führt, muss Hygie­ne­be­stim­mun­gen ein­hal­ten, muss genü­gend Duschen und Toi­let­ten vor­wei­sen, argu­men­tier­ten wird. Aber da rede­te sich der Neo­na­zi mit der Begrün­dung raus, er bekä­me immer nur pri­va­ten Besuch, von Schu­lun­gen kön­ne kei­ne Rede sein.

Sein Bau­ern­hof errang mit der Zeit trau­ri­ge Berühmt­heit, und Max von der Grün, der ganz in der Nähe wohn­te, hat ihn ein­ge­baut in sei­nen Roman »Flä­chen­brand«. In sei­ner besorg­ten Schil­de­rung vom Auf­stieg der Neo­na­zis gibt es deut­li­che Par­al­le­len zu der Ein­rich­tung in Kamen.

Besei­tigt wur­de die­ser Schand­fleck erst, als die Frau des Bau­ern starb und ihre Söh­ne und Erben den offen­bar ver­hass­ten Stief­va­ter sofort an die fri­sche Luft setz­ten, so dass ich heu­te bei mei­nen Erzäh­lun­gen den Namen des Hofes ver­schwei­ge. Die Söh­ne kön­nen ja nichts dafür, dass er so übel miss­braucht wur­de. Als sie sel­ber ent­schei­den konn­ten, haben sie sofort das Rich­ti­ge getan.

Zur­zeit von Hil­sen­raths Lesung war es aber noch nicht so weit. Nach einem Moment der Irri­ta­ti­on und nach­dem der Schä­fer­hund brav neben einem Stuhl Platz genom­men hat­te, setz­te Hil­sen­rath sei­ne Lesung fort. Der Erzäh­ler Max Schulz schil­der­te dar­in, wie er sich vom Mas­sen­mör­der im KZ zum »Juden« wan­del­te und damit vor­gab, nicht Täter, son­dern Opfer gewe­sen zu sein. Die Roman­fi­gur hat ein rea­les Vor­bild gehabt, erfuhr ich spä­ter bei einer Recherche.

Trotz­dem, die Kon­zen­tra­ti­on unter uns Zuhö­rern war gestört. Immer wie­der schiel­ten wir hin­über zu den Neo­na­zis. Wür­den sie dazwi­schen­ru­fen, wür­den sie womög­lich eine Schlä­ge­rei pro­vo­zie­ren? Aber nein, sie hiel­ten sich anfangs zurück. Hef­ti­ge Zwi­schen­ru­fe, vor allem von den Frau­en, gab es erst, als Hil­sen­rath vor­las, dass Hit­ler impo­tent gewe­sen sein müs­se. In Sachen Männ­lich­keit hät­te er nicht viel zustan­de gekriegt. Die empör­ten Rufe vor allem der Frau­en sind mir bis heu­te im Gedächt­nis: »Also, das ist doch … uner­hört ist das.« Eine lächer­li­che Sze­ne, die da vor uns ablief, die rea­le Situa­ti­on näher­te sich immer mehr der fik­ti­ven im Schel­men­ro­man an. Ich konn­te, wie ande­re auch, ein Lachen nicht unterdrücken.

Zwi­schen­fra­gen wur­den gestellt. Woher Hil­sen­rath wis­se, dass in den KZs gemor­det wur­de. Hil­sen­rath ant­wor­te­te, er habe selbst in einem geses­sen und nur knapp über­lebt. Dann wür­de ihn eben sein Gedächt­nis täu­schen, wur­de geru­fen. Der Ton wur­de rau­er, schließ­lich aggres­siv, und der VHS-Lei­ter ver­ließ für einen Moment den Raum. Ich ahn­te den Grund, er rief die Polizei.

Dass Hit­ler als Vege­ta­ri­er per­sön­lich ein schwäch­li­cher Typ (oder so ähn­lich) gewe­sen sei, wie Hil­sen­raths Erzäh­ler wei­ter behaup­te­te, empör­te die Neo­na­zis erneut. Nein, der Füh­rer und schwäch­lich, das ging nun gar nicht. Wäh­rend all der Unru­he war es übri­gens der Schä­fer­hund, der am ruhig­sten blieb. Roma­ne und was dar­in behaup­tet wur­de, inter­es­sier­ten ihn nicht, er döste, den Kopf auf sei­nen Vor­der­läu­fen, see­len­ru­hig weiter.

Nach der Lesung, und das wur­de spä­ter wich­tig, wur­de Hil­sen­rath bedrängt. Die Neo­na­zis woll­ten ihm die Mei­nung sagen, und zwar hef­tig. Sie woll­ten ihre Abscheu über das angeb­li­che Mach­werk aus­drücken und rede­ten laut­stark auf ihn ein. Hil­sen­rath wich immer wei­ter in eine Ecke des Rau­mes zurück, bis es ihm schließ­lich gelang, die Meu­te los­zu­wer­den und das VHS-Haus zu ver­las­sen. Wie weit die ange­rück­te Poli­zei dabei eine Rol­le spiel­te, habe ich nicht sehen können.

Ich schrieb einen Bericht für die Lokal­pres­se über die­se unglaub­li­che Lesung, viel län­ger als ver­ab­re­det, ande­re Medi­en reagier­ten, ich glau­be, die Nach­richt lief sogar im Fern­se­hen. Kurz dar­auf bekam ich Post von der Staats­an­walt­schaft Dort­mund. Man woll­te mich zu der Anzei­ge befra­gen, ob Hil­sen­rath genö­tigt wor­den war. Ich schil­der­te die Situa­ti­on so genau wie mög­lich, aber Nöti­gung, nein, das war es im enge­ren Sin­ne nicht gewe­sen. Bedrän­gen, Beschimp­fen, das ja, aber Nöti­gung eher nicht. Am Ende erklär­te mir der Staats­an­walt, dass sich mei­ne Aus­sa­ge mit jenen der ande­ren Befrag­ten decke. Die Anzei­ge wur­de also fal­len­ge­las­sen. Ob die Situa­ti­on heu­te auch noch so beur­teilt wür­de? Ich weiß es nicht.

Was blieb von dem Auf­tritt in der »Lite­ra­ri­schen Tee­stun­de«? Man hat­te Hil­sen­rath von der Lite­ra­tur­kri­tik in die Nähe des Anti­se­mi­tis­mus gerückt, einen Nazi­ver­bre­cher als Erzäh­ler ein­zu­set­zen, emp­fand man als Ver­harm­lo­sung der Ver­bre­chen in der Hit­ler­zeit. Ich glau­be, der Groß­kri­ti­ker Fritz J. Rad­datz, des­sen Urtei­le mir sel­ten gefal­len haben, hat in einer Rezen­si­on auch in die­se Rich­tung argu­men­tiert. Die Neo­na­zis in Kamen wuss­ten es bes­ser. Den Roman haben sie als einen Angriff auf ihr faschi­sti­sches und ras­si­sti­sches Welt­bild begrif­fen. Alle sati­ri­schen Pas­sa­gen, beson­ders jene mit der Impo­tenz, haben sie wört­lich genom­men. Iro­nie konn­ten sie nicht erken­nen. Mit Aus­nah­me des Schä­fer­hun­des viel­leicht. Aber den konn­te ich nicht mehr befragen.

Und noch ein Ein­druck blieb zurück. Lite­ra­tur hat Wir­kung, wenn auch nicht immer jene, die man erwar­ten konnte.