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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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China: Der nächste »Feind«?

Als ich vor genau sechs Jah­ren in Ossietzky über das »Recht auf Frie­den« schrieb, war die Welt auch nicht in Ord­nung: »Schau­en wir nur auf das Schlacht­feld des Nahen und Mitt­le­ren Ostens, wo der Krieg seit über 30 Jah­ren von Syri­en über Palä­sti­na bis Afgha­ni­stan kein Land ver­schont hat, oder nach Afri­ka, wo er sich seit gerau­mer Zeit süd­lich und nörd­lich der Saha­ra von Ost nach West in fast jedem Land ein­ge­fres­sen hat. Für die­je­ni­gen, die sich aus siche­rer Distanz mit ihren Waf­fen und Mili­tärs am Krieg betei­li­gen oder ihn betrei­ben, gerät der Frie­den hin­ge­gen zur Pro­pa­gan­da ihrer Legi­ti­ma­ti­on«, schrieb ich damals. Seit­dem hat sich die Lage wei­ter ver­schärft. Aber nie­mand hat­te damals eine Vor­ah­nung davon, dass der Krieg nach Euro­pa zurück­kom­men und zu einem offe­nen Krieg der USA mit Russ­land aus­ar­ten könnte.

Was soll man in die­sen Zei­ten des Krie­ges über den Frie­den schrei­ben, wo jeder Auf­ruf zu Waf­fen­still­stand und Ver­hand­lun­gen als Ver­rat an der Soli­da­ri­tät zur Ukrai­ne in Ver­ruf gebracht wird, wo alle Prin­zi­pi­en und Nor­men des Völ­ker­rechts nicht mehr das Papier wert sind, auf dem man sie nach­le­sen kann. Hier taugt kei­ne erneu­te Abhand­lung über das Gewalt- und Inter­ven­ti­ons­ver­bot, die Sou­ve­rä­ni­tät und sou­ve­rä­ne Gleich­heit der Staa­ten, die fried­li­che Lösung von Kon­flik­ten sowie die Wah­rung des Welt­frie­dens und der inter­na­tio­na­len Sicher­heit durch die Insti­tu­tio­nen der UNO. Wer über Frie­den reden will, soll­te sich über die Wer­te – Frei­heit, Demo­kra­tie, Men­schen­rech­te – Gedan­ken machen, die die Regie­run­gen vor sich her­tra­gen, um ihre öko­no­mi­schen und stra­te­gi­schen Inter­es­sen dahin­ter zu ver­stecken. Wer über den Frie­den redet, muss über die Inter­es­sen reden.

Auch die­ser dop­pel­te Krieg Russ­lands gegen die Ukrai­ne und der Nato gegen Russ­land wird ein­mal zu Ende gehen. Gleich­gül­tig, wer sich dann zum Sie­ger erklä­ren wird, die USA sind die wah­ren Gewin­ner und haben ihr Augen­merk schon auf den näch­sten Feind gerich­tet: die VR Chi­na. Es fällt schwer, sich jetzt einen Krieg zwi­schen die­sen der­zeit mäch­tig­sten Staa­ten der Erde vor­zu­stel­len. Aber das war auch vor dem 24. Febru­ar 2022 schon so. Zuerst ist es die offe­ne Kon­kur­renz um Ein­fluss­zo­nen, Zugang zu Märk­ten und Res­sour­cen, dann kom­men das Embar­go, Boy­kott und Sank­tio­nen, die Ein­wer­bung und Samm­lung von Ver­bün­de­ten und die Aus­wahl eines Neben­kriegs­schau­plat­zes, bis es dann zur direk­ten Kon­fron­ta­ti­on kommt. Möge das Sze­na­rio falsch sein, aber schon sind die Ver­ei­nig­ten Staa­ten auf der Stu­fe des­sen, was mit Embar­go und Boy­kott als »Zuspit­zung des Han­dels­kon­flik­tes« umschrie­ben wird. Sie haben unlängst den Ver­kauf und Import von Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Über­wa­chungs­tech­nik aus chi­ne­si­scher Pro­duk­ti­on »aus Sicher­heits­grün­den« ver­bo­ten. Im Okto­ber hat­te das Wei­ße Haus Export­kon­trol­len für die Lie­fe­rung von Mikro­chips und hoch­spe­zia­li­sier­ten Werk­zeug­ma­schi­nen für die Chip­fer­ti­gung erlas­sen. Ohne Lizenz dür­fen die Pro­duk­te nicht mehr nach Chi­na ver­kauft wer­den, zudem dür­fen Ame­ri­ka­ner und Green­card-Inha­ber nicht mehr an der Ent­wick­lung und Fer­ti­gung von Mikro­chips für Chi­na mit­wir­ken. Gleich­zei­tig setz­te Biden die Sank­ti­ons­po­li­tik sei­nes Vor­gän­gers Donald Trump fort, des­sen Import­zöl­le fast alle noch in Kraft sind und ver­schärft sie sogar durch zusätz­li­che Export- und Importkontrollen.

In der Natio­na­len Sicher­heits­stra­te­gie der USA, die die Biden-Admi­ni­stra­ti­on am 12. Okto­ber die­ses Jah­res ver­öf­fent­licht hat, wird die VR Chi­na als der »ein­zi­ge Wett­be­wer­ber« bezeich­net, der die Absicht habe, »die inter­na­tio­na­le Ord­nung neu zu gestal­ten«. Da sie sowohl die öko­no­mi­schen und poli­ti­schen wie auch mili­tä­ri­schen Mit­tel habe, die­se Absicht in die Tat umzu­set­zen, gel­te es, die Volks­re­pu­blik »nie­der­zu­kon­kur­rie­ren«. Am 27. Okto­ber leg­te der US-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Lloyd Austin mit der Natio­na­len Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie nach und bezeich­ne­te die VR Chi­na als die zen­tra­le »das Tem­po vor­ge­ben­de Her­aus­for­de­rung«, auf die die Ver­ei­nig­ten Staa­ten reagie­ren müss­ten. Auf­ga­be sei es, jede »Aggres­si­on abzu­schrecken, wäh­rend wir dar­auf vor­be­rei­tet sind, im Not­fall uns in einem Kon­flikt durch­zu­set­zen; vor allem gilt dies für die Her­aus­for­de­rung durch Chi­na in der Indo-Pazi­fik Regi­on und die rus­si­sche Her­aus­for­de­rung in Euro­pa.«

Schon kurz zuvor hat­te Prä­si­dent Biden die näch­sten zehn Jah­re zum »ent­schei­den­den Jahr­zehnt« aus­ge­ru­fen, in dem der Macht­kampf mit allen Mit­teln zwi­schen den USA und der VR Chi­na aus­ge­tra­gen wer­den müs­se. Das heißt nichts ande­res, als dass der Kon­kur­renz­kampf über den Wirt­schafts­krieg bis zu einem Kon­flikt mit mili­tä­ri­schen Mit­teln aus­ge­wei­tet wird. Fol­ge­rich­tig spricht die deut­sche Außen­mi­ni­ste­rin Anna­le­na Baer­bock von einer »System­ri­va­li­tät«, »in der wir kei­ne stra­te­gi­sche Lücke las­sen« dür­fen. Die letz­te »syste­mi­sche Riva­li­tät« ende­te mit dem Unter­gang des letz­ten syste­mi­schen Riva­len Sowjet­uni­on – das dürf­te der neu­en Kriegs­ko­ali­ti­on als Vor­bild und als erfolg­ver­spre­chen­der Weg vorschweben.

Dazu sam­meln die USA der­zeit Bünd­nis­part­ner, von Japan über Austra­li­en, Süd-Korea, Viet­nam, bis zu den Phil­ip­pi­nen und Indo­ne­si­en. In der Nato sind ihnen Kana­da, Groß­bri­tan­ni­en und die Bun­des­re­pu­blik sicher. Soll­te es in Ber­lin in der Koali­ti­on zwi­schen Kanz­ler­amt und Wirt­schafts­mi­ni­ste­ri­um bei der For­mu­lie­rung der neu­en Chi­na­stra­te­gie Schwie­rig­kei­ten geben, so hat Washing­ton vor­ge­sorgt und die Bun­des­re­gie­rung bereits mas­siv unter Druck gesetzt, die deutsch-chi­ne­si­schen Wirt­schafts­be­zie­hun­gen zu redu­zie­ren. Das Wirt­schafts­mi­ni­ste­ri­um von Robert Habeck ist dem Wink schon in »die­nen­der Füh­rung« gefolgt und hat här­ter wer­den­de Restrik­tio­nen für Chi­na-lasti­ge Inve­sti­tio­nen in bei­den Rich­tun­gen angekündigt.

Die Bun­des­re­gie­rung soll­te sich kei­ne Illu­sio­nen machen über die Ent­schlos­sen­heit der US-Admi­ni­stra­ti­on, auch auf Kosten der deut­schen Wirt­schaft ihren Wirt­schafts­krieg gegen Chi­na hoch­zu­fah­ren. Denn so, wie es ihr Ziel im Kal­ten Krieg immer gewe­sen ist, die Bezie­hun­gen zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik und der Sowjet­uni­on zu tor­pe­die­ren, so wird ihr das auch mit den Bezie­hun­gen zu Chi­na gelin­gen. Die Spren­gung der Gas-Pipe­lines Nord Stream 1 und 2, die ohne Zwei­fel von den USA zu ver­ant­wor­ten ist, zeigt die Ent­schlos­sen­heit und Bru­ta­li­tät, mit der sie ihre Bünd­nis-Vasal­len zur Unter­wer­fung zwin­gen. Es ist offen­sicht­lich kei­ne Ver­schwö­rungs­theo­rie, wenn der US-Histo­ri­ker Geor­ge Fried­mann die schon oft­mals zitier­ten Sät­ze sagt: »Das pri­mä­re Inter­es­se der USA, wofür wir seit einem Jahr­hun­dert die Krie­ge füh­ren – Erster und Zwei­ter Welt­krieg und Kal­ter Krieg – waren die Bezie­hun­gen zwi­schen Deutsch­land und Russ­land. Weil ver­eint sind sie die ein­zi­ge Macht, die uns bedro­hen kann. Und unser Inter­es­se war es immer sicher­zu­stel­len, dass die­ser Fall nicht eintritt.«

Den näch­sten Schritt der Eska­la­ti­on sind die USA bereits gegan­gen. Ihr Hebel: Tai­wan. Von dem Besuch der ehe­ma­li­gen Spre­che­rin der US-Reprä­sen­tan­ten­hau­ses, Nan­cy Pelo­si, meh­re­ren Besu­chen von Kon­gress­ab­ge­ord­ne­ten, der Fahrt von US-Kriegs­schif­fen durch die Mee­res­stra­ße zwi­schen Fest­land und Insel bis zu der jüng­sten Geneh­mi­gung des Ver­kaufs von Waf­fen, vor allem Rake­ten, in Höhe von 1,1 Mrd. US-Dol­lar reicht das der­zei­ti­ge Arse­nal der Pro­vo­ka­tio­nen. Dem folg­te die Bun­des­re­pu­blik mit der Ent­sen­dung einer Fre­gat­te und meh­re­rer Bun­des­tags­de­le­ga­tio­nen. Man fragt sich, wozu das Thea­ter, wenn man gleich­zei­tig betont, die Ein-Chi­na-Poli­tik der chi­ne­si­schen Füh­rung zu akzep­tie­ren, die die­se Art poli­ti­scher Demon­stra­tio­nen als Ein­mi­schung in ihre inne­ren Ange­le­gen­hei­ten ablehnt.

Die­se Ein-Chi­na-Poli­tik steht auf soli­den völ­ker­recht­li­chen Füßen. Im Okto­ber 1945 wur­de Chi­na (Tai­wan) zwar Grün­dungs­mit­glied der UNO, 1971 über­trug die Gene­ral­ver­samm­lung aber mit der Reso­lu­ti­on 2758 die Mit­glied­schaft der Repu­blik Chi­na (Tai­wan) in der UNO auf die Volks­re­pu­blik als allei­ni­ge Ver­tre­te­rin Chi­nas. Sie wur­de damit recht­mä­ßi­ge Nach­fol­ge­rin der Repu­blik und erlang­te recht­lich die Sou­ve­rä­ni­tät über Tai­wan. Der­zeit haben nur noch 14 Staa­ten sowie der Hei­li­ge Stuhl diplo­ma­ti­sche Ver­tre­tun­gen in Tai­peh. Der Natio­na­le Volks­kon­gress ver­ab­schie­de­te am 14. März 2005 das sog. Anti-Abspal­tungs­ge­setz, das mit mili­tä­ri­schen Kon­se­quen­zen droh­te, soll­te sich Tai­wan for­mal für unab­hän­gig erklä­ren. Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass die spa­ni­sche Regie­rung in Madrid son­der­lich erfreut wäre, wenn Frau Pelo­si nach Bar­ce­lo­na käme und der US-Kon­gress im Nach­gang die Lie­fe­rung von Flug- und Schiffs­ab­wehr­ra­ke­ten geneh­mi­gen wür­de, um einen mög­li­chen Angriff Madrids auf Kata­lo­ni­en abzu­schrecken. Was ist das Bekennt­nis zur »Ein Chi­na-Poli­tik« wert, wenn in der täg­li­chen Poli­tik mit Sank­tio­nen, poli­ti­schen Sym­bo­len und Waf­fen­ge­ras­sel die Sepa­ra­ti­ons­träu­me ange­sta­chelt wer­den und die Sou­ve­rä­ni­tät Pekings in Zwei­fel gezo­gen wird?

Es ist eines der grund­le­gen­den Prin­zi­pi­en der Ver­ein­ten Natio­nen, die in der UNO-Char­ta in Art. 2. Z. 7 ver­an­kert sind, nicht in »Ange­le­gen­hei­ten, die ihrem Wesen nach zur inne­ren Zustän­dig­keit eines Staa­tes gehö­ren«, ein­zu­grei­fen. Der Westen – und das sind die alten Kolo­ni­al­mäch­te – muss end­lich ein­se­hen, dass die Zeit vor­bei ist, in der er die Welt nach sei­nen Wert- und Ord­nungs­vor­stel­lun­gen, sprich Inter­es­sen, ein­rich­ten konn­te. Er hat­te die über­le­ge­nen mili­tä­ri­schen Mit­tel, um sei­ne Inter­es­sen durch­zu­set­zen, und er nutz­te sie gna­den­los gegen die schwä­che­ren Völ­ker. Vor gut 120 Jah­ren konn­te das Kai­ser­reich noch sei­ne Kor­vet­ten nach Tsingtau ent­sen­den, um sei­ne kolo­nia­len Inter­es­sen gegen den Boxer-Auf­stand mit Gewalt zu ver­tei­di­gen – Deutsch­lands erster gro­ßer Kolo­ni­al­krieg. Heu­te wer­den die Men­schen­rech­te vor­ge­scho­ben, um sich ein Ein­mi­schungs­recht zu neh­men, das unter dem Deck­man­tel der »huma­ni­tä­ren Inter­ven­ti­on« 1999 zum ersten Krieg in Euro­pa nach 1945 mit über 200 000 Toten und meh­re­ren Mil­lio­nen von Flücht­lin­gen und Ver­trie­be­nen führte.

Jeder Krieg hat sei­ne Vor­ge­schich­te, über die nicht gern gespro­chen wird. Doch eines haben sie alle gemein­sam, ob 1990 vor dem Krieg der Nato gegen Jugo­sla­wi­en, 2003 vor dem Angriff der USA auf den Irak oder 2022 vor dem Angriff Russ­lands auf die Ukrai­ne, alle Kon­zep­te, Insti­tu­tio­nen oder Orga­ni­sa­tio­nen, die in der Welt zur Wah­rung des Frie­dens ent­wickelt wur­den, haben die Inter­es­sen nicht zäh­men und die Krie­ge nicht ver­hin­dern kön­nen. Man hat das Schei­tern sehen kön­nen und hat den­noch nicht reagiert. Die Aggres­si­vi­tät der gegen­wär­ti­gen Anti-Chi­na-Poli­tik treibt uns wie­der in eine Vor­ge­schich­te, in der uns die Insti­tu­tio­nen der UNO oder der OSZE kaum hel­fen und den Frie­den schon gar nicht garan­tie­ren kön­nen. Allein der Ver­zicht auf Pro­vo­ka­ti­on und Ein­mi­schung in die Pro­ble­me der chi­ne­si­schen Gesell­schaft sind die sicher­sten Vor­aus­set­zun­gen, dass die­se Vor­ge­schich­te nicht in den Krieg führt.