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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Verleih uns Frieden gnädiglich

Im Dorf mei­ner Kind­heit, Rem­kers­le­ben in der Bör­de, läu­te­te in den 1950er Jah­ren zu Anläs­sen, die dies gebo­ten, nur eine Kir­chen­glocke. Deren Ton erschien mir unan­ge­nehm schrill. Eine Erzäh­lung mei­ner Mut­ter war, dass die ande­ren Glocken für Kriegs­zwecke ein­ge­schmol­zen wor­den sei­en und nur die­se übrig geblie­ben sei. Ich konn­te mir »Ein­schmel­zen« nicht vor­stel­len, auch nicht die Kriegszwecke.

Aber der Krieg war immer noch da: In den Gesprä­chen der Erwach­se­nen: der Rus­se, der Ami, der Tom­my, der Zusam­men­bruch; in Mag­de­burg noch die Trüm­mer­ber­ge, der magen­krank aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft heim­ge­kehr­te Vater auf dem Küchen­tisch lie­gend, bei sei­ner »Roll­kur«. Sein Erschrecken, als 1962 in der DDR die Wehr­pflicht ein­ge­führt wur­de, er war fast fünf­zig Jah­re alt und fürch­te­te sich doch vor einer Ein­be­ru­fung. In der Schu­le wur­de uns bei­gebracht, dass noch vor Mag­de­burg die her­an­rücken­de Nato gestoppt und zurück­ge­jagt wür­de, um auf eige­nem Ter­ri­to­ri­um ver­nich­tet zu wer­den. Auch eine Schnit­zel­jagd tra­ge dazu bei, uns kör­per­lich zu »ertüch­ti­gen«. Die hin­ter dem Dorf zuta­ge tre­ten­de Salz­quel­le hiel­ten die Kin­der für radio­ak­tiv ver­seucht, denn über­all war die Rede von Atom­waf­fen­ver­su­chen. Das schril­le Läu­ten der Kir­chen­glocke war auch an der Salz­quel­le zu hören, und wir lie­fen nach Hause.

Ich bin nur ein­mal auf dem roma­ni­schen Turm von St. Micha­el gewe­sen, bis an die Glocke ließ uns die Pfar­re­rin nicht, weil sie für die Sicher­heit ihrer Chri­sten­leh­re­kin­der fürch­te­te. So weiß ich nicht, ob dar­auf, wie auf vie­len Glocken, steht: »Ver­leih uns Frie­den gnä­dig­lich …« So über­setz­te Mar­tin Luther »Da pacem, Domi­ne, in die­bus nostris«, bei ihm: »zu unsern Zei­ten«. Es läu­ten vie­le Glocken im Lan­de die­se Botschaft.

Und es war trotz­dem immer Krieg.

Und kaum war er aus, der Erste Welt­krieg etwa, wur­den selbst im klei­nen Bör­de­dorf Manö­ver und das »Frie­schei­ten« (Frei­schie­ßen) abge­hal­ten. Der nicht ganz zu Unrecht ver­ges­se­ne Schrift­stel­ler Franz Her­wig (1880-1931) schil­dert dies in »Mein Jugend­land«. Höhe­punkt des Manö­vers sei gewe­sen, wenn, unter den Klän­gen des »Hohen­fried­ber­ger Mar­sches«, der »Gene­ral« hin­ter der Kapel­le mar­schiert sei. Den stell­te sein Onkel dar, der Kriegs­ve­te­ran Andre­as Rabeth­ge. Das war mein Urgroß­va­ter. Selbst mei­ne dem Mili­tär­we­sen abhol­de Mut­ter schwärm­te noch im Alter, dass sie vol­ler Stolz und »ganz erho­ben« war, wenn beim Vor­bei­marsch ihrem Opa salu­tiert wur­de, und über sei­nem Grab sei eine Ehren­sal­ve abge­feu­ert wor­den. Her­wig ver­steigt sich gar zur Fol­ge­rung, dass die­se Erleb­nis­se ihn für »einen Pazi­fi­sten ver­dor­ben« hät­ten. Damit nicht genug, beim »Frie­schei­ten« gebe es nun sogar Maschi­nen­ge­weh­re und Kano­nen, und als Ehren­gast wer­de er teilnehmen.

Es muss tief sit­zen in uns, das mili­tä­ri­sche, dem Pazi­fis­mus feind­li­che Den­ken und Füh­len. Und seit der Krieg uns wie­der ganz nahe­kommt und zudem von Russ­land begon­nen wur­de, darf das wie­der her­aus, und zwar laut und ver­nehm­lich. Von Waf­fen und deren Lie­fe­rung ist die Rede, nicht davon, dass man Ver­hand­lun­gen ansto­ßen, dass man ver­mit­teln, dass man die Waf­fen zum Schwei­gen brin­gen müs­se. Nein: selbst ein ehe­ma­li­ger Pastor und Bun­des­prä­si­dent wür­de, wie er erklär­te, zur Waf­fe greifen.

Das Lied »Ver­leih uns Frie­den gnä­dig­lich« ist sehr bekannt, man­cher muss nicht ein­mal das Gesang­buch auf­schla­gen, um den kur­zen Text sin­gen zu kön­nen. In mei­nem alten, noch aus den 1950er Jah­ren stam­men­den Evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­sang­buch (Aus­ga­be für die Kir­chen­pro­vinz Sach­sen), hat das Lied noch eine zwei­te Stro­phe. Sie stammt von Johann Wal­ter, der von 1496 bis 1570 leb­te, Lied­tex­te schrieb und Gesang­bü­cher her­aus­gab. Die­se Stro­phe fin­det man in den heu­ti­gen Kir­chen­ge­sang­bü­chern nicht mehr, sie klingt deut­lich nach Unter­ta­nen­geist. Und doch lohnt es sich, ein­mal ihren Anfang zu betrach­ten: »Gib unserm Vol­ke und aller Obrig­keit Fried und gut Regi­ment …« Regi­ment meint hier noch ganz im alten Sin­ne »Regie­rung«. Um eine Regie­rung, die vom Frie­den spricht und ihn schaf­fen will und ihn hält, auch mit Wor­ten, um die soll­ten wir bit­ten, wenn wir das Lied singen.

 Die Erin­ne­run­gen Franz Her­wigs habe ich gefun­den in »Noch ein paar Geschich­ten … aus Rem­kers­le­ben und Mey­en­dorf« (S. 53 ff.) von Otto Jacob. Das Buch ent­hält kei­ne Quel­len­an­ga­be, es ist selbst ohne Ver­lags­an­ga­be und Erscheinungsjahr. 

Von Albrecht Fran­ke erschien zuletzt »Eine Lie­be zu Zei­ten Ceauşes­cus«, Pro­so­dia Ver­lag 2022.