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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von Viren über den Frieden lernen

Außer eini­gen Pflan­zen und Pil­zen, die ein­fach nur räum­lich und zeit­lich immer wei­ter­wach­sen, bil­den die mei­sten Lebe­we­sen Gene­ra­tio­nen. In jeder Gene­ra­ti­on wer­den neue Exem­pla­re erzeugt, an wel­che die Erb­infor­ma­ti­on wei­ter­ge­ge­ben wird.

Ein Gene­ra­tio­nen­wech­sel bedeu­tet, dass nur nach bestimm­ten Zeit­span­nen Muta­tio­nen statt­fin­den, bei höhe­ren Tie­ren ist das die Zeit bis zur Geschlechts­rei­fe. Ganz anders sieht es bei Viren aus. Viren ver­meh­ren sich kas­ka­den­ar­tig mehr­mals hin­ter­ein­an­der in einem ein­zi­gen Lebe­we­sen, und zwar schnell, oft in Stunden.

Hin­zu kommt ein struk­tu­rel­ler Unter­schied bei der Wei­ter­ga­be der Erb­infor­ma­ti­on. Die Erb­infor­ma­ti­on ist nor­ma­ler­wei­se in einer soge­nann­ten Dop­pel­he­lix der DNA gespei­chert, also gleich zwei­mal vor­han­den, was bei der Kopie Feh­ler ver­mei­den hilft. Die mei­sten Viren dage­gen haben nur eine Sequenz, sie mutie­ren des­halb mit höhe­rer Wahrscheinlichkeit.

Die­se bei­den Effek­te wir­ken in die glei­che Rich­tung: Auf der einen Sei­te Ver­meh­rung über Gene­ra­tio­nen mit Dop­pel­he­lix, auf der ande­ren Sei­te kas­ka­den­ar­ti­ge Ver­meh­rung mei­stens ohne Sicher­heits­ko­pie der Erb­infor­ma­ti­on. Bei­des führt dazu, dass Viren um Zeh­ner­po­ten­zen schnel­ler mutie­ren als fast alle Lebewesen.

Das logi­sche Ergeb­nis aus die­sem Ver­gleich: Viren sind Antrei­ber und Beschleu­ni­ger der Evo­lu­ti­on. Indem sie die befal­le­nen Lebe­we­sen zur Anpas­sung her­aus­for­dern, beschleu­ni­gen sie den Evolutionsprozess.

Es ist aber nicht selbst­ver­ständ­lich, die­se Tat­sa­che als nega­tiv zu bewer­ten, wie es die Angst­ma­cher unter den Viro­lo­gen tun, wir kön­nen das auch als Sinn für die Exi­stenz von Viren anse­hen. Viren beschleu­ni­gen, wert­frei gese­hen, die Evo­lu­ti­on des Lebens.

Am Bei­spiel von Coro­na konn­ten wir in den Medi­en die Muta­ti­on die­ses Viren­typs bis zu Omi­kron ver­fol­gen. Wir stell­ten fest, die Evo­lu­ti­on erfolgt nicht so, dass sich die stärk­sten und aggres­siv­sten Mutan­ten gegen sanf­te­re durch­set­zen. Es ist bei Viren genau umge­kehrt. Muta­tio­nen, wel­che die Men­schen weni­ger schä­di­gen und auch weni­ger als schwe­re Krank­heit wahr­ge­nom­men wer­den, ver­brei­ten sich leich­ter und schnel­ler als gefähr­li­che Mutationen.

Die Tat­sa­che, dass Coro­na-Vari­an­ten so schnell mutie­ren, hat die Epi­de­mie in weni­ger als zwei Jah­ren ziem­lich harm­los gemacht. Die beson­ders harm­lo­se Vari­an­te Omi­kron ent­stand in Süd­afri­ka, wo man nur wenig gegen die Aus­brei­tung unter­neh­men konn­te. Bei uns dage­gen wur­de auf allen Kanä­len Panik erzeugt.

Karl Lau­ter­bach sprach von der Omi­kron-Wand (gegen die wir mit unse­rem SUV rasen, wenn wir nicht auf die Brem­se tre­ten und die Maß­nah­men ver­schär­fen). Doch es kam umge­kehrt: Omi­kron hat die Gefahr von Coro­na gebannt. Das harm­lo­se­re Virus Coro­na-Omi­kron hat alle aggres­si­ve­ren Mutan­ten ver­drängt und die Pan­de­mie beendet.

Wenn man ein wenig Gespür für die sta­ti­sti­schen Geset­ze hat, erkennt man leicht, dass die­se Ent­wick­lung wahr­schein­li­cher ist als die umge­kehr­te, die immer wie­der von unse­ren »Exper­ten« pro­gno­sti­ziert wur­de. Auch die sehr aggres­si­ve Spa­ni­sche Grip­pe ist längst ver­schwun­den, ohne dass irgend­ein Medi­ka­ment oder Impf­stoff ein­ge­setzt wur­de, ja, ohne dass die Wis­sen­schaft über­haupt etwas von den aus­lö­sen­den Viren gewusst hätte.

Evo­lu­ti­on ist also nicht nur der »strugg­le for life«, wie häu­fig gesagt wird. Evo­lu­ti­on begün­stigt auch die sanf­te Anpas­sung an Umge­bung und Umwelt, sie begün­stigt Koope­ra­ti­on und Ver­träg­lich­keit mit ande­ren Lebens­for­men, Lebe­we­sen und deren Kulturen.

Mit die­ser Erkennt­nis kön­nen wir den soge­nann­ten Kul­tur-Dar­wi­nis­mus in Gedan­ken auch umkeh­ren, indem wir behaup­ten, dass die aggres­si­ven mensch­li­chen Kul­tu­ren wie die der Wikin­ger und der mon­go­li­schen Rei­ter­völ­ker und erst recht das Drit­te Reich der Nazis nicht lan­ge die Welt beherrscht haben.

Auch das Bri­ti­sche Welt­reich wur­de an erster Stel­le von Gan­dhi und sei­ner gewalt­lo­sen Bewe­gung in Indi­en besiegt. Gan­dhi hat mit gewalt­lo­ser Tak­tik mehr Men­schen von der Herr­schaft der Bri­ten befreit als irgend­ein bewaff­ne­ter Kampf. Das lässt hof­fen, dass auch die rück­sichts­lo­se und immer noch expan­si­ve Kul­tur, die sich in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten ent­wickelt hat, trotz aller Per­fek­ti­on in der Rüstung (zur Ver­nich­tung ande­rer Län­der und Kul­tu­ren), dass auch der Waf­fen-Kult der Ame­ri­ka­ner nicht den gesam­ten Glo­bus ver­ein­nah­men wird. Es lässt hof­fen, dass die extre­me Kon­zen­tra­ti­on auf das Mili­tär, der Man­gel an Fried­fer­tig­keit, der Man­gel an Scho­nung der Umwelt und der Exzep­tio­na­lis­mus der USA wie­der schwin­det. Und das kann ohne Ein­wir­kung von außen geschehen.

Coro­na und die Evo­lu­ti­on der Viren leh­ren uns, dass Aggres­si­vi­tät durch die natür­li­che Ent­wick­lung ganz von sel­ber nach­lässt. Es geschah durch Muta­ti­on der Viren zur harm­lo­sen Vari­an­te. Daher gibt es auch im Fall der Welt­macht USA die Chan­ce einer kul­tu­rel­len Muta­ti­on zur Fried­fer­tig­keit hin. Vor gut fünf­zig Jah­ren war es schon bei­na­he so weit. Die Hip­pie- und Jugend­be­we­gung, die bei uns als 68er Revol­te in Erschei­nung trat, hat die Regie­rung der USA dazu gebracht, den Viet­nam­krieg zu beenden.

Doch mit der Ermor­dung von John F. Ken­ne­dy, Robert Ken­ne­dy und Mar­tin Luther King wur­de der Trend umge­dreht: Mehr Gewalt, mehr Ego­is­mus, mehr Waf­fen, mehr Geld­gier und Sieg der Finanz­macht. Wir erleb­ten die neo­li­be­ra­le Ära und zahl­rei­che Angriffs­krie­ge, aller­dings immer getarnt als Maß­nah­men gegen einen angeb­lich noch aggres­si­ve­ren Feind.

Die Hard­li­ner in den USA und die jun­gen Atlan­ti­ke­rin­nen in Euro­pa sehen sich jetzt noch als Teil der zukünf­ti­gen Sie­ger. Die end­gül­ti­gen Sie­ger sind aber mei­stens die­je­ni­gen, die mit Sanft­mut, ohne Waf­fen, in Frie­den und in Lie­be leben wollen.

Rob Keni­us betreibt die system­kri­ti­sche Web­sei­te kritlit.de