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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zur Geschichte einer deutschen Friedensparole

Der Beginn des rus­si­schen Krie­ges gegen die Ukrai­ne am 24. Febru­ar 2022 löste in Deutsch­land einen ele­men­ta­ren Schock aus. Wohl die mei­sten Men­schen im Lan­de waren kom­plett über­rascht und ent­setzt. Sie hiel­ten es nicht für mög­lich, dass es in der Mit­te Euro­pas noch ein­mal zu einem zwi­schen­staat­li­chen Land­krieg kom­men könn­te. Sie glaub­ten, die tra­di­ti­ons­rei­che Frie­dens­pa­ro­le »Nie wie­der Krieg!« sei längst euro­päi­sche Rea­li­tät gewor­den. Gera­de die jün­ge­ren Deut­schen kann­ten »Krieg« allen­falls aus den Erzäh­lun­gen ihrer Groß- oder Urgroßeltern.

Gebo­ren wur­de die Paro­le »Nie wie­der Krieg!« nach dem Ersten Welt­krieg in Deutsch­land. Wahr­schein­lich kre­ierte ihn der klei­ne »Frie­dens­bund der Kriegs­teil­neh­mer« im Jah­re 1919. Er woll­te, wie schon der Name sagt, die­je­ni­gen Deut­schen sam­meln, die aus dem Ersten Welt­krieg als Pazi­fi­sten heim­ge­kehrt waren und die mit dem preu­ßisch-deut­schen Mili­ta­ris­mus end­gül­tig bre­chen woll­ten. Spä­ter wur­de die Losung »Nie wie­der Krieg!« von allen pazi­fi­sti­schen Orga­ni­sa­tio­nen über­nom­men, die sich 1921 im »Deut­schen Frie­dens­kar­tell« zusam­men­schlos­sen. In den Jah­ren 1919 bis 1926 fan­den in Deutsch­land gro­ße Mas­sen­de­mon­stra­tio­nen gegen den Krieg statt, zu denen zeit­wei­se auch die Gewerk­schaf­ten und die Par­tei­en der »Wei­ma­rer Koali­ti­on« auf­rie­fen, also SPD, Zen­trum und Deut­sche Demo­kra­ti­sche Par­tei. Zu den Pro­mi­nen­ten unter den Teil­neh­mern gehör­ten der Atom­phy­si­ker Albert Ein­stein und der bekann­te Jour­na­list Carl von Ossietzky. Die­se macht­vol­len Anti­kriegs­de­mon­stra­tio­nen konn­ten den Ein­druck erwecken, das Land habe mit sei­nen mili­ta­ri­sti­schen Tra­di­tio­nen gebrochen.

Die poli­ti­sche Rech­te fühl­te sich pro­vo­ziert und in ihren tief­sten Über­zeu­gun­gen ange­grif­fen. Ein »Nie wie­der!« ver­sperr­te aus ihrer Sicht die Zukunft. Sie pfleg­te eine heroi­sche Erin­ne­rung an den Krieg 1914-1918, ver­dräng­te die mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge Deutsch­lands, pro­te­stier­te gegen den Ver­sailler Dik­tat­frie­den und die will­fäh­ri­gen demo­kra­ti­schen Poli­ti­ker. Im Unter­grund berei­te­ten Reichs­wehr und star­ke natio­na­li­sti­sche Ver­bän­de mate­ri­ell und men­tal die Wie­der­auf­nah­me einer krie­ge­ri­schen Aggres­si­ons­po­li­tik vor. Sie orga­ni­sier­ten die gewalt­sa­me Wie­der­her­stel­lung einer deut­schen Groß­macht­po­si­ti­on, nicht erst seit 1933, son­dern schon Jah­re zuvor. Unter Hit­ler wur­den Akti­vi­sten der »Nie wie­der Krieg!«-Bewegung ver­folgt, in »Schutz­haft« genom­men und in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger verschleppt.

Nach der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­ti­on der Wehr­macht im Mai 1945 erleb­te die Paro­le »Nie wie­der Krieg!« eine Renais­sance. Dies­mal, so schien es, war die gro­ße Mehr­heit der Deut­schen zu einer grund­le­gen­den Umkehr bereit. Der Anstoß kam gleich­wohl nicht von den vor­ma­li­gen Trä­gern des Nazi-Staa­tes, son­dern von den Geg­nern des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Im befrei­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Buchen­wald for­mu­lier­ten die poli­ti­schen Häft­lin­ge: »Die Ver­nich­tung des Nazis­mus mit sei­nen Wur­zeln ist unse­re Losung. Der Auf­bau einer neu­en Welt des Frie­dens und der Frei­heit ist unser Ziel.« Dar­aus wur­de spä­ter die schlag­kräf­ti­ge­re Paro­le geformt: »Nie wie­der Faschis­mus! Nie wie­der Krieg!«

In den zehn Jah­ren ohne Armee (1945-1955) ran­gen sich auch kon­ser­va­ti­ve Wort­füh­rer zur Distan­zie­rung vom Mili­ta­ris­mus durch. Womög­lich gab es in den ersten Nach­kriegs­jah­ren eine Mehr­heit der Deut­schen, die bereit war, ihr Den­ken und Han­deln an der Devi­se »Nie wie­der Krieg!« aus­zu­rich­ten. Das Grund­ge­setz von 1949 gab mit sei­nem Frie­dens­ge­bot in der Prä­am­bel und meh­re­ren Arti­keln eine neue Grund­ori­en­tie­rung für alles staat­li­che und gesell­schaft­li­che Han­deln in unse­rem Land. Das Grund­ge­setz war das Anti­pro­gramm zu dem extrem gewalt­tä­ti­gen Zeit­al­ter der Welt­krie­ge, für das Deutsch­land eine wesent­li­che Mit­ver­ant­wor­tung trug.

Aber schon in den frü­hen 1950er Jah­ren bra­chen die alten Kon­flikt­li­ni­en wie­der auf. Die Kon­ser­va­ti­ven folg­ten der von Kanz­ler Kon­rad Ade­nau­er vor­ge­ge­be­nen Linie der Wie­der­be­waff­nung und West­in­te­gra­ti­on. Die Oppo­si­ti­on stell­te sich gegen die »Remi­li­ta­ri­sie­rung« und skan­dier­te erneut die Paro­le »Nie wie­der Krieg!«. Sie fand damit gro­ßen Zuspruch in der Gesell­schaft der west­deut­schen Bun­des­re­pu­blik, was dazu führ­te, dass die Regie­rung ihre Poli­tik gegen den Wil­len die­ser Mehr­heit durch­set­zen muss­te. In den fol­gen­den Jahr­zehn­ten ent­wickel­te sich unter der stets prä­sen­ten Dro­hung eines mög­li­chen Nukle­ar­krie­ges schritt­wei­se eine Frie­dens­kul­tur, die ins­be­son­de­re in einem kriegs­geg­ne­ri­schen Men­ta­li­täts­wan­del zum Aus­druck kam. Im Innen­be­reich des poli­ti­schen Ver­bun­des der Euro­päi­schen Uni­on wur­de eine Frie­dens­struk­tur auf­ge­baut. Die­se Ent­wick­lun­gen tru­gen dazu bei, dass meh­re­re Gene­ra­tio­nen ein Leben ohne Krieg füh­ren konn­ten. Frie­den auf dem Kon­ti­nent – ver­stan­den als Abwe­sen­heit von Krieg – hiel­ten sie für selbstverständlich.

Ver­än­de­run­gen kün­dig­ten sich aus­ge­rech­net nach dem Ende des Kal­ten Krie­ges und der Ver­ei­ni­gung der bei­den deut­schen Teil­staa­ten 1989/​90 an. Jetzt wur­den die Deut­schen von ihrer Regie­rung sowie von der mili­tä­ri­schen Füh­rung der Bun­des­wehr mit dem camou­flie­ren­den Pro­pa­gan­da-Schlag­wort »Neue Nor­ma­li­tät« über­schwemmt. Gemeint waren damit der Abschied von einer Außen­po­li­tik der Zurück­hal­tung und die Gewöh­nung an welt­wei­te Mili­tär­ein­sät­ze der Bun­des­wehr. Man woll­te agie­ren kön­nen wie die Sie­ger von 1945, näm­lich als eine staat­li­che Macht, die sich sou­ve­rän des Krie­ges als Mit­tel der Poli­tik bedie­nen konn­te. Wie die dama­li­gen Mei­nungs­um­fra­gen zei­gen, gelang es der Regie­rung jedoch wie­der­um nicht, in der Bevöl­ke­rung eine mehr­heit­li­che Zustim­mung zur Ver­ab­schie­dung von der pazi­fi­sti­schen Paro­le »Nie wie­der Krieg!« zu gewin­nen. Vier Fünf­tel blie­ben bei ihrer Ableh­nung der soge­nann­ten »Out-of-area«-Politik.

Aus­ge­rech­net die rot-grü­ne Regie­rung Schröder/​Fischer schick­te dann im Jah­re 1999 die Bun­des­wehr in ihren ersten Krieg seit ihrem Bestehen, in den soge­nann­ten Koso­vo-Krieg gegen Rest-Jugo­sla­wi­en. Bun­des­au­ßen­mi­ni­ster Josch­ka Fischer sag­te im Deut­schen Bun­des­tag, er habe nicht nur »Nie wie­der Krieg!« gelernt, son­dern auch »Nie wie­der Ausch­witz!« Mit die­ser fal­schen Ana­lo­gie ver­such­te er, den Krieg gegen eine ver­meint­lich völ­ker­mör­de­ri­sche Regie­rung Ser­bi­ens zu legi­ti­mie­ren. Ein von Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Rudolf Schar­ping prä­sen­tier­ter »Huf­ei­sen­plan«, der die Absicht der Umzin­ge­lung und Ver­nich­tung flüch­ten­der Koso­va­ren durch die Ser­ben bewei­sen soll­te, stell­te jedoch eine Kriegs­lü­ge dar. Die Bun­des-Luft­waf­fe trug mit ihren Waf­fen­sy­ste­men und Kampf­pi­lo­ten zu den Tau­sen­den von Luft­an­grif­fen der Nato-Ver­bün­de­ten auf die Volks­re­pu­blik Jugo­sla­wi­en bei, obwohl Deutsch­land dazu nicht durch ein Man­dat der Ver­ein­ten Natio­nen legi­ti­miert war. Deutsch­land betei­lig­te sich an einem völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffskrieg.

Für die prin­zi­pi­ell kriegs­geg­ne­risch ein­ge­stell­ten Tei­le der deut­schen Bevöl­ke­rung stell­te die deut­sche Betei­li­gung am soge­nann­ten Koso­vo-Krieg eine exi­sten­zi­el­le Ent­täu­schung dar. Sie löste tie­fe Depres­sio­nen und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit aus. Hat­ten doch die füh­ren­den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und grü­nen Poli­ti­ker die grund­le­gen­de Ori­en­tie­rung »Nie wie­der Krieg!« preis­ge­ge­ben und sich nach Jahr­zehn­ten der Zurück­hal­tung wie­der in die krie­ge­ri­sche Welt­ord­nung ein­ge­reiht. Die Mehr­heit der Deut­schen gab auch jetzt ihre Frie­dens­men­ta­li­tät nicht preis und lehn­te die Aus­lands­ein­sät­ze der Bun­des­wehr mit gro­ßer Mehr­heit ab.

Das war die men­ta­le Lage der Deut­schen auch noch zur Zeit des Angriffs Russ­lands auf die Ukrai­ne am 24. Febru­ar. Sie erklärt den Schock, der in Deutsch­land beson­ders aus­ge­prägt gewe­sen zu sein scheint. Jetzt wur­de hier­zu­lan­de auch die Fra­ge gestellt, wer 1919 und 1945 eigent­lich der Adres­sat der For­de­rung »Nie wie­der Krieg!« gewe­sen war. Viel­leicht glaub­te man damals – und spä­ter – in Deutsch­land, mit dem Unter­gang des preu­ßisch-deut­schen Mili­ta­ris­mus 1945 sei die Gefahr einer krie­ge­ri­schen Aggres­si­on vom euro­päi­schen Kon­ti­nent ver­schwun­den. Über­se­hen wur­de, dass die Sie­ger­mäch­te des Zwei­ten Welt­krie­ges kei­nen ver­gleich­ba­ren Schwur abge­legt hat­ten. Sie hiel­ten den krie­ge­ri­schen Kon­flikt­aus­trag wei­ter­hin für eine nor­ma­le Ange­le­gen­heit. Putins Krieg brach­te uns die unge­bro­che­ne Tra­di­ti­on der krie­ge­ri­schen Poli­tik nicht nur Russ­lands, son­dern auch der ande­ren Sie­ger­mäch­te des Zwei­ten Welt­krie­ges ins Bewusst­sein zurück. In die­ser Lage ist es ent­schei­dend, dass sich die poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Kräf­te unse­res Lan­des auf das Frie­dens­ge­bot des Grund­ge­set­zes besin­nen und ihr Han­deln kon­se­quent danach aus­rich­ten. In der aktu­el­len Situa­ti­on bedeu­tet das: Vol­les Enga­ge­ment für eine schleu­ni­ge diplo­ma­ti­sche Been­di­gung des Ukraine-Krieges.