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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die britische Art des Politikversagens

Ursprüng­lich woll­te und soll­te das Ver­ei­nig­te König­reich die EU am 29. März 2019 ver­las­sen. »Bye, bye, EU« skan­dier­ten an jenem Frei­tag denn auch die im Regie­rungs­vier­tel demon­strie­ren­den Brexi­te­ers, bevor das Unter­haus das Brexit-Abkom­men von Pre­mier­mi­ni­ste­rin The­re­sa May – »It‘s my deal, no deal, or no Brexit« – zum drit­ten Mal ablehn­te. Bis zum 12. April muss die bri­ti­sche Regie­rung der EU nun trag­fä­hi­ge alter­na­ti­ve Vor­schlä­ge unter­brei­ten, um den von der EU-Kom­mis­si­on als wahr­schein­lich betrach­te­ten Aus­tritt ohne Ver­trag abzuwenden.

Zur Erin­ne­rung (1): Vor zwei Jah­ren, am 29. März 2017, teil­te Pre­mier­mi­ni­ste­rin The­re­sa May dem Euro­päi­schen Rat die Absicht des Ver­ei­nig­ten König­reichs mit, aus der Euro­päi­schen Uni­on aus­zu­tre­ten (gemäß Arti­kel 50 des Ver­trags über die EU). Mit ihrem Schrei­ben an den Prä­si­den­ten des Euro­päi­schen Rates, Donald Tusk, wur­de der Aus­tritt des Ver­ei­nig­ten König­reichs aus der EU förm­lich ein­ge­lei­tet. Die Ver­hand­lun­gen über die Aus­tritts­be­din­gun­gen began­nen am 19. Juni 2017. Sie betra­fen zunächst die wich­tig­sten Unsi­cher­heits­fak­to­ren, die aus dem Aus­tritt des Ver­ei­nig­ten König­reichs resul­tiert hät­ten: den Schutz der Bür­ger­rech­te nach dem Brexit am 29. März 2019, die finan­zi­el­len Aus­gleichs­re­ge­lun­gen sowie das beim Refe­ren­dum im Juni 2016 über­haupt nicht the­ma­ti­sier­te Pro­blem der Wie­der­ent­ste­hung einer har­ten Gren­ze zwi­schen der Pro­vinz Nord­ir­land und der Repu­blik Irland. Gemäß den Leit­li­ni­en des Euro­päi­schen Rates vom 29. April 2017 soll­ten vor der Erör­te­rung des Rah­mens für die künf­ti­gen Bezie­hun­gen zwi­schen der EU und dem Ver­ei­nig­ten König­reich zunächst »hin­rei­chen­de Fort­schrit­te« bei der Klä­rung der genann­ten drei Fak­to­ren erzielt wer­den. Am 8. Dezem­ber 2017 ver­öf­fent­lich­ten die bei­den Kon­tra­hen­ten einen gemein­sa­men Bericht, in dem die müh­sam erziel­ten Eini­gun­gen sowie wei­te­re Tren­nungs­be­stim­mun­gen dar­ge­stellt waren. Dar­auf­hin ver­öf­fent­lich­te die EU-Kom­mis­si­on am 28. Febru­ar 2018 einen ersten Ent­wurf des Aus­tritts­ab­kom­mens zwi­schen der Euro­päi­schen Uni­on und dem Ver­ei­nig­ten König­reich. Am 19. März 2018 erfolg­te die Ver­öf­fent­li­chung einer geän­der­ten Fas­sung des Ent­wurfs, da noch in zahl­rei­chen Berei­chen Unei­nig­keit bestand. An die­sem Tag bekräf­tig­te Pre­mier­mi­ni­ste­rin May zudem ihre Zusa­ge für eine recht­lich prak­ti­ka­ble Back­stop-Lösung, um eine har­te Gren­ze zwi­schen Irland und Nord­ir­land aus­zu­schlie­ßen. Am 14. Novem­ber 2018 erziel­ten die Ver­hand­lungs­füh­rer bei­der Sei­ten schließ­lich eine Eini­gung über den gesam­ten Text des Aus­tritts­ab­kom­mens sowie – im Rah­men einer poli­ti­schen Erklä­rung – über die Grund­zü­ge der künf­ti­gen Bezie­hun­gen zwi­schen der EU und dem Ver­ei­nig­ten Königreich.

Zur Erin­ne­rung (2): Im Novem­ber 2016 gewann die Fonds­ma­na­ge­rin und poli­ti­sche Akti­vi­stin Gina Mil­ler ihre Kla­ge vor dem Ober­sten Gerichts­hof, mit der sie das Ziel der kon­ser­va­ti­ven Pre­mier­mi­ni­ste­rin The­re­sa May erfolg­reich anfocht, den Brexit in ihrer könig­li­chen Legi­ti­ma­ti­on als Regie­rungs­chefin ohne Abstim­mung und mehr­heit­li­che Zustim­mung des Par­la­ments durch­füh­ren zu kön­nen. Die Rich­ter erzwan­gen die Ver­ab­schie­dung eines ein­schlä­gi­gen Geset­zes und die Ein­ho­lung der Zustim­mung des Par­la­ments. (Gina Mil­ler steht auf­grund extre­mer Gewalt­an­dro­hun­gen seit­dem unter stän­di­gem Polizeischutz.)

Zur Erin­ne­rung (3): Am 15. Janu­ar 2019 ende­te die erste Abstim­mung des bri­ti­schen Par­la­ments mit 202 Stim­men für und 432 Stim­men gegen den Brexit-Ver­trags­ent­wurf. Da mehr als ein Drit­tel der Abge­ord­ne­ten der kon­ser­va­ti­ven Unter­haus­frak­ti­on das von der eige­nen Regie­rung aus­ge­han­del­te Abkom­men abge­lehnt hat­te, schien der Rück­tritt von The­re­sa May nur noch eine Fra­ge von Stun­den. Schien … Am 12. März 2019 fand die zwei­te Unter­haus­ab­stim­mung über das von der Regie­rung May aus­ge­han­del­te Aus­tritts­ab­kom­men statt – gera­de ein­mal zwei­ein­halb Wochen vor dem immer wie­der beschwo­re­nen Aus­tritts­ter­min am 29. März. Zuvor hat­te May bei den Regie­run­gen diver­ser ande­rer EU-Mit­glieds­staa­ten Zuge­ständ­nis­se ins­be­son­de­re zur Ent­schär­fung der Back­stop-Pro­ble­ma­tik erbe­ten, die ihr aber – abge­se­hen von eini­gen zusätz­li­chen Flos­keln in der unver­bind­li­chen poli­ti­schen Erklä­rung – nicht gewährt wur­den. Obwohl die Pre­mier­mi­ni­ste­rin uner­müd­lich für das Abkom­men gewor­ben hat­te, lehn­te es das Unter­haus wie­der­um deut­lich ab, aller­dings mit gerin­ge­rer Mehr­heit als Mit­te Janu­ar. Aller­dings stimm­ten erneut auch 75 Abge­ord­ne­te der kon­ser­va­ti­ven Par­tei gegen die eige­ne Regie­rung, weil sie die im Aus­tritts­ab­kom­men gewähr­te Garan­tie für eine offe­ne Gren­ze zwi­schen Nord­ir­land und Irland abso­lut nicht akzep­tie­ren woll­ten. Wäh­rend in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land eine so her­be Abfuhr gewiss den Rück­tritt der Bun­des­kanz­le­rin nach sich gezo­gen hät­te, blieb The­re­sa May im Amt und berei­te­te den näch­sten Anlauf vor, um ihren Deal doch noch durchzusetzen.

Zur Erin­ne­rung (4): Am Mitt­woch, den 27. März – kurz nach­dem am Wochen­en­de zuvor gut eine Mil­li­on Men­schen in Lon­don für den Ver­bleib in der EU demon­striert hat­ten –, über­nahm das Unter­haus im Brexit-Cha­os für einen Ver­hand­lungs­tag qua­si das Zep­ter und stimm­te über acht alter­na­ti­ve Vari­an­ten zum mehr­heit­lich bereits zwei­mal abge­lehn­ten Brexit-Deal der Regie­rung ab. Und – oh Wun­der – acht Mal lehn­te eine Mehr­heit der Abge­ord­ne­ten auch die alter­na­ti­ven Vari­an­ten ab. Übri­gens erreich­te der Vor­schlag der Labour-Abge­ord­ne­ten Mar­ga­ret Beckett für ein zwei­tes Refe­ren­dum die größ­te Zahl von Ja-Stim­men, und der Vor­schlag »Cus­toms Uni­on« – er beinhal­te­te den Brexit mit dem Ver­bleib der Bri­ten in der Zoll­uni­on – erhielt bei aller Ableh­nung durch­aus auch guten Zuspruch. Für den offi­zi­el­len Brexit-Plan der Labour Par­ty stimm­te mit 237 Abge­ord­ne­ten kei­ne auch nur annä­hern­de Mehr­heit. Er beinhal­tet das Auf­recht­erhal­ten der Zoll­uni­on und die »Ori­en­tie­rung« der Bri­ten an den Regeln des EU-Bin­nen­mark­tes. Die wei­te­ren abge­lehn­ten Vor­schlä­ge reich­ten vom »Nor­we­gen-Modell« bis hin zum – aller­dings hef­tig abge­lehn­ten – »No-Deal Brexit« des Tories John Baron. Einen Aus­tritt des Ver­ei­nig­ten König­reichs ohne Ver­ein­ba­rung wünscht eine gro­ße Mehr­heit der Abge­ord­ne­ten zwei­fel­los nicht. Nach der legen­dä­ren 8xNo-Abstim­mung des Unter­hau­ses ließ The­re­sa May ihre gespal­te­ne und dis­zi­plin­lo­se kon­ser­va­ti­ve Frak­ti­on wis­sen, sie wer­de von ihrem Amt zurück­tre­ten. Aller­dings nur dann, wenn der von ihr ver­han­del­te Aus­tritts­ver­trag end­lich die Zustim­mung des Par­la­ments fin­den wür­de. In dem Fall, so mein­te sie, gebe es wohl das Bedürf­nis nach einer neu­en Füh­rung für die wei­te­ren Brexit-Ver­hand­lun­gen. Am 29. März stimm­ten jedoch 344 Abge­ord­ne­te gegen und nur 286 für die Aus­tritts­ver­ein­ba­rung mit der Euro­päi­schen Uni­on, und The­re­sa May gab alles Mög­li­che, nur eben nicht ihren Rück­tritt bekannt.

Zur Zukunft (unver­bind­lich): Am 12. April wird bekannt wer­den, wie sich die wei­te­re Bezie­hung zwi­schen dem Ver­ei­nig­ten König­reich und der EU gestal­ten soll und, nicht zuletzt, ob die Bri­ten an der Wahl zum EU-Par­la­ment teil­neh­men müs­sen. Fehlt nur noch, dass das Ver­ei­nig­te König­reich ein­fach so in der EU ver­bleibt und wei­ter­hin den unge­recht­fer­tig­ten und unge­rech­ten Bri­ten­ra­batt in Höhe von 66 Pro­zent erhält, nach­dem die Regie­rung unter The­re­sa May sämt­li­che EU-Instan­zen zwei­ein­halb Jah­re lang für nichts und wie­der nichts auf Trab gehal­ten und dadurch so hohe wie unnö­ti­ge Kosten ver­ur­sacht hat. Nicht zuletzt für die auf­grund des dro­hen­den har­ten Brexits erfolg­te Ein­stel­lung zusätz­li­cher Zoll­mit­ar­bei­ter, die Erstel­lung von Not­fall­plä­nen und Ein­la­ge­run­gen aller Art, die Vor­be­rei­tung von Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gnen und ande­res mehr. Wer berech­net den Euro­be­trag, der – anstatt in sinn­vol­le sozia­le und infra­struk­tu­rel­le Pro­jek­te – in die­ses Deba­kel geflos­sen ist? Und wer ent­schä­digt die cir­ca 3,2 Mil­lio­nen EU-Bür­ger­rin­nen und -bür­ger im Ver­ei­nig­ten König­reich und die cir­ca 1,2 Mil­lio­nen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger des Ver­ei­nig­ten König­reichs in den Mit­glieds­staa­ten der EU sowie die vie­len Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten für all die Unge­wiss­hei­ten und Äng­ste über ihren jewei­li­gen Auf­ent­halts­sta­tus und all die Rech­te, die nicht zuletzt im Arbeits­le­ben und Sozi­al- und Gesund­heits­sy­stem vom Brexit in Fra­ge gestellt schei­nen bezie­hungs­wei­se schie­nen? Ich ken­ne deut­sche Wis­sen­schaft­ler, die inzwi­schen aus purer Unge­wiss­heit die bri­ti­sche Staats­bür­ger­schaft bean­tragt und auf­grund ihres mehr als fünf­jäh­ri­gen Auf­ent­halts in Eng­land auch erhal­ten haben. Aller­dings nicht ohne die zeit­rau­ben­de Vor­la­ge ein­schlä­gi­ger Doku­men­te und auch Rech­nun­gen, Ein­bür­ge­rungs­test nebst Ent­rich­tung einer Gebühr von 1000 Pfund Ster­ling inbe­grif­fen. Ich ken­ne eine bri­ti­sche Wis­sen­schaft­le­rin mit deut­scher Mut­ter, die den deut­schen Pass bean­tragt und gera­de die Sprach­prü­fung bestan­den hat.

Aber gemach. Gegen­wär­tig heißt es: Abwar­ten und den letz­ten Akt des Brexit-Dra­mas verfolgen.