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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Du bist Deutschland – du nicht!

Was ist Deutsch­land, wie groß ist Deutsch­land, ist Deutsch­land das größ­te Land in Euro­pa, wer ist Deut­scher? – Vie­le Eltern bekom­men sol­che Fra­gen von ihren Kin­dern gestellt. Doch was ant­wor­tet man dar­auf? Sach­lich betrach­tet ist Deutsch­land ein Natio­nal­staat, der flä­chen­mä­ßig dritt­größ­te in Euro­pa, und Deut­scher ist, wer einen deut­schen Pass besitzt. So leicht, so gut. Oder nicht?

Nein, weil Deutsch­land eben nicht eine Staats­bür­ger­na­ti­on im Sin­ne einer Bekennt­nis­na­ti­on ist, wie sie Ernest Ren­an einst umschrieb, son­dern immer noch jene ima­gi­nier­te, eth­nisch gepräg­te Gemein­schaft, bei der der sub­jek­ti­ve Gemein­schafts­glau­be Grund­la­ge der emp­fun­de­nen Zuge­hö­rig­keit zur Eth­no­na­ti­on ist. Ein Bekennt­nis zur Nati­on reicht hier­zu­lan­de nicht, der eth­nisch gefor­der­te Hin­ter­grund ist der zen­tra­le Fak­tor. Bis heu­te ent­schei­det die eth­nisch gefühl­te Ver­bun­den­heit all­zu häu­fig über Zuge­hö­rig­keit und Nichtzugehörigkeit.

Par­al­lel zu die­sem eth­nisch gepräg­ten Natio­nen­kon­strukt und dem damit ein­her­ge­hen­den Abstam­mungs­glau­ben, der einen homo­ge­nen Natio­nal­staat fan­ta­siert, kata­ly­sie­ren revi­sio­ni­sti­sche, anti­se­mi­ti­sche und ras­si­sti­sche Ein­stel­lun­gen eine sich frag­men­tie­ren­de Gesell­schaft ent­lang eth­ni­scher Lini­en: Die einen gehö­ren zur ver­meint­li­chen Abstam­mungs­ge­mein­schaft und die ande­ren eben nicht.

Ent­spre­chen­de Aus­sa­gen hören wir immer häu­fi­ger im öffent­li­chen Dis­kurs; auch von Abge­ord­ne­ten aus den Par­la­men­ten. Die Gren­zen des Sag­ba­ren haben sich dabei deut­lich nach rechts verschoben.

Nach Anga­ben der Bun­des­re­gie­rung haben rech­te Gewalt und Straf­ta­ten 2020 wei­ter zuge­nom­men. Nach vor­läu­fi­gen Poli­zei­an­ga­ben beläuft sich die Zahl der von Rechts­extre­mi­sten ver­üb­ten Straf­ta­ten im ver­gan­ge­nen Jahr auf 23.080, dar­un­ter 1.054 Gewalt­ta­ten. Gegen­über dem Jahr 2019 sind die Straf­ta­ten um 700 und die Gewalt­ta­ten um 68 ange­stie­gen. 307 Per­so­nen wur­den dabei ver­letzt und neun Men­schen getö­tet – es sind die Opfer des Anschlags in Hanau. Wir haben ein zuneh­men­des Rechtsextremismus-Problem.

Noch 2006 wur­de hier­zu­lan­de mit dem Slo­gan »Du bist Deutsch­land« im Vor­feld zur Fuß­ball­welt­mei­ster­schaft eine Art »Gute-Lau­ne-Natio­na­lis­mus« bewor­ben. Kin­der sozia­li­sie­ren sich mit natio­nal­staat­lich gepräg­ten Kon­struk­ten, und auch dar­über hin­aus sehen wir uns immer wie­der mit sol­chen Denk­mu­stern kon­fron­tiert – ein lebens­lan­ges Ler­nen in natio­na­len Kate­go­rien. Auch in der gern so bezeich­ne­ten Flücht­lings­kri­se – die Oskar Negt als Gesell­schafts­kri­se bezeich­net – hat man in natio­nal­staat­li­chen Kate­go­rien unter­schie­den zwi­schen »gutem« und »schlech­tem« Flücht­ling. »Gute« Geflüch­te­te waren meist Men­schen aus Syri­en oder aus dem Irak – »schlech­te« zum Bei­spiel aus dem von Unru­hen geplag­ten Sudan; jene, ohne Bleibeperspektive.

Unser All­tag ist geprägt von Gege­ben­hei­ten, die einen natio­nal­staat­li­chen Gemein­schafts­glau­ben am Leben hal­ten. Die­ser ver­hin­dert einen längst über­fäl­li­gen Post­na­tio­na­lis­mus, in des­sen Rah­men wir nicht län­ger eine Zuge­hö­rig­keit oder Nicht­zu­ge­hö­rig­keit von natio­nal­staat­li­chen Kon­struk­ten abhän­gig machen. Sol­ches Den­ken ist Nähr­bö­den für die Abwer­tung von Men­schen oder Per­so­nen­grup­pen, die nicht dazu­ge­hö­ren. Sozia­li­sa­ti­ons- und Lern­pro­zes­se müs­sen sich ver­än­dern. Schu­le, Aus-, Fort- und Wei­ter­bil­dung müs­sen im Rah­men einer histo­risch-poli­ti­schen Bil­dung die sub­jek­ti­ven Kon­struk­te sol­cher Sinn­bil­dun­gen ver­ständ­lich machen. Unse­re Hei­mat gehört kei­ner ima­gi­niert homo­ge­nen Gemein­schaft. Deutsch­land, das sind alle, die hier leben – unab­hän­gig von Her­kunft, Geschlecht, Aus­se­hen oder Reli­gi­on, wie es unser höch­stes Gesetz, die Ver­fas­sung, auch ver­bind­lich vorschreibt.