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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein langer Nachtflug

Im Früh­jahr 2014 hielt das bis zur Stun­de unge­klär­te Ver­schwin­den von Flug MH 370 die hal­be Welt in Atem. Wer kräh­te heu­te noch danach? Eine Boe­ing 777 mit 239 Men­schen und eini­ger Fracht an Bord war (am 8. März) auf ihrem plan­mä­ßi­gen Nacht­flug von Kua­la Lum­pur, Malay­sia, nach Peking schon bald nach dem Start nicht mehr ansprech- und auf­find­bar. Nun begann ein wochen­lan­ges Ver­wirr­spiel, das unter Geheim­dienst­lern Des­in­for­ma­ti­on heißt. Um von der Wahr­heit abzu­len­ken und alle Empör­ten zu beschwich­ti­gen, arbei­tet man also emsig mit Gerüch­ten, Falsch­mel­dun­gen, Trug­spu­ren und so wei­ter. In die­sem Fall wur­de ein rät­sel­haf­ter Umschwenk der Lini­en­ma­schi­ne nach Süden erfun­den, in die Wei­ten des Indi­schen Oze­ans, wo trotz auf­wen­dig­ster, austra­lisch gelei­te­ter Suche nie etwas Hand­fe­stes aus dem Was­ser gezo­gen wur­de. Die höchst­wahr­schein­lich zurecht­fri­sier­ten Not­si­gna­le, die den Süd­kurs erhär­ten soll­ten, hat­ten die Bri­ten mit Hil­fe der Lon­do­ner Fir­ma Inmar­sat gelie­fert. In Wahr­heit dürf­te die nord­wärts flie­gen­de Rie­sen­ma­schi­ne schon 90 bis 120 Minu­ten nach dem Start ihr Ende in viet­na­me­si­schen Gewäs­sern gefun­den haben: durch Not­lan­dung oder Abschuss. Dort benö­tig­te man jedoch Muße zur Trüm­mer­be­sei­ti­gung, wovon auch eini­ge Zeu­gen­be­ob­ach­tun­gen spra­chen. Zur Erklä­rung des Schwenks und des aus­ge­dehn­ten Aus­flugs nach Süden bevor­zug­ten die malay­si­schen und austra­li­schen Poli­ti­ke­rIn­nen oder Behör­den die Mut­ma­ßung auf »erwei­ter­ten Pilo­ten­sui­zid«. Das klingt bereits wie ein Witz, wenn man Ver­schwun­den, das neue, nun über­setz­te (Ber­lin 2022) umfang­rei­che Buch Flo­rence de Chan­gys, noch gar nicht zur Hand genom­men hat. Übri­gens ver­si­chert die Autorin, haupt­säch­lich Hong­kong-Kor­re­spon­den­tin für Le Mon­de, Paris, grund­sätz­lich sei­en Selbst­mor­de von dienst­ha­ben­den Pilo­ten »sehr sel­ten«. Häu­fig­ste Unfall­ur­sa­chen sei­en tech­ni­sches Ver­sa­gen oder (irr­tüm­li­ches) mili­tä­ri­sches Ein­grei­fen, doch genau die wür­den auch häu­fig ver­tuscht. Schließ­lich möch­ten weder die Her­stel­ler­fir­men noch die Auf­sichts­or­ga­ne ihre Umsät­ze und ihr Gesicht ein­bü­ßen. Den Ehr­ver­lust mutet man dann lie­ber den sowie­so schon mau­se­to­ten Pilo­ten zu.

Es ist nicht immer bequem, der fran­zö­si­schen Jour­na­li­stin zu fol­gen, hat sie sich doch durch einen wah­ren Dschun­gel an Fak­ten, Lügen und Theo­rien zu kämp­fen. Ich hät­te man­ches abge­kürzt, aber das ist viel­leicht Geschmack­sa­che. De Chan­gys Gründ­lich­keit hat frei­lich den Vor­teil, das Mär­chen vom Abste­cher in den süd­li­chen Indi­schen Oze­an mit 100- und das Mär­chen vom Amok lau­fen­den Pilo­ten mit 98-pro­zen­ti­ger Wahr­schein­lich­keit ver­ges­sen zu kön­nen. Für den Süd­ab­ste­cher reicht eigent­lich schon eine Par­al­le­le zu 9/​11, die De Chan­gy wohl­weis­lich ver­mei­det. Damals, 2001 in New York City, soll es bekannt­lich eini­gen »Ter­ro­ri­sten«, die Rie­sen­ma­schi­nen geka­pert hat­ten, gelun­gen sein, die Luft­ab­wehr des Gigan­ten des Mili­ta­ris­mus und der Schein­hei­lig­keit USA mit ein paar Tep­pich­mes­sern in der Hand aus­zu­he­beln. Was nun Indi­schen Oze­an und Chi­ne­si­sches Meer angeht, hält es De Chan­gy für nahe­zu unmög­lich, mit einem fet­ten Pas­sa­gier­flug­zeug dem äußerst dich­ten Späh­netz der Yan­kees zu ent­ge­hen. Mit Die­go Gar­cia und U-Tapao lagen zwei US-Mili­tär­stütz­punk­te, übri­gens mit aus­rei­chend lan­ger Lan­de­bahn ver­se­hen, ganz in der Nähe. Zur Ver­schwin­dens-Zeit waren sogar sehr wahr­schein­lich zwei AWACS der USA in der frag­li­chen Luft. Das sind flie­gen­de Spio­na­ge- und Ein­satz­zen­tra­len. Doch die Yan­kees lie­ßen sich nie dazu her­ab, irgend­wel­che Radar- oder Satel­li­ten­bil­der aus der Unfall- oder Tat­zeit zur Ver­fü­gung zu stel­len, obwohl sie dadurch doch viel­fach geäu­ßer­te Ver­däch­ti­gun­gen auf Faul­spiel hät­ten ent­kräf­ten kön­nen. Sie taten ein­fach so, als besä­ßen sie sol­che Auf­zeich­nun­gen nicht. Der näch­ste Witz.

Nach­dem sie zahl­rei­che Theo­rien von Drit­ten erschüt­tert hat, wagt De Chan­gy ein eige­nes »Sze­na­rio« vor­zu­stel­len, das sie zugleich für das nahe­lie­gend­ste und wahr­schein­lich­ste hält. Die Fracht­pa­pie­re von MH 370 wie­sen meh­re­re Män­gel oder Lücken auf. Kua­la Lum­pur gilt ohne­hin als bekann­ter Schmug­gel­platz. Dem­nach könn­te sich ein wert­vol­les US-Spio­na­ge­ge­rät im Fracht­gut befun­den haben, das Peking nur zu gern ent­ge­gen­ge­nom­men hät­te. Die Yan­kees bemerk­ten den Dieb­stahl jedoch und bedräng­ten die Boe­ing mit den bereits erwähn­ten AWACS-Flug­zeu­gen, wodurch sie auch den Funk­ver­kehr ihres Opfers lahm­leg­ten. Schließ­lich rie­fen sie aber einen Jäger her­bei, weil sich die Pilo­ten nicht zu einer Zwi­schen­lan­dung auf einer US-Base bereit­ge­fun­den, viel­mehr gehofft hat­ten, noch recht­zei­tig den ret­ten­den chi­ne­si­schen Luft­raum zu errei­chen. Nun, im Grenz­ge­biet Vietnam/​China, schoss der Jäger die Boe­ing ab. 239 Lei­chen wegen eines aus­ge­feil­ten elek­tro­ni­schen Spiel­zeugs. Mög­li­cher­wei­se sei­en es aber auch die Chi­ne­sen sel­ber gewe­sen, weil da frem­de Maschi­nen in ihren Luft­raum ein­ge­drun­gen waren.

Für mich hat die­ses »Sze­na­rio« ledig­lich eine Schwach­stel­le, näm­lich die Pilo­ten der geop­fer­ten Lini­en­ma­schi­ne. Mit De Chan­gy pro­be­wei­se ange­nom­men, sie las­sen sich auf die Vor­wän­de eines Zwi­schen­halts in U-Tapao (Thai­land) ein und war­ten dort 20 Minu­ten, bis Agen­ten das Spio­na­ge­ge­rät aus der Fracht geret­tet haben: Und anschlie­ßend set­zen den Lini­en­flug, mit Ver­spä­tung, ein­fach so fort? Stumm machen konn­te man sie ja schlecht. Man durf­te ihnen noch nicht ein­mal die Augen zubin­den. Aber hät­ten sie dann nicht, ob in Peking oder in Kua­la Lum­pur, von diver­sen Unge­reimt­hei­ten ihres Flu­ges berich­ten müs­sen, »höhe­re Gewalt« ein­ge­schlos­sen? Das wäre für die Yan­kees ziem­lich pein­lich gewor­den. De Chan­gy über­geht die­se Schwach­stel­le – die hof­fent­lich kein Denk­feh­ler von mir ist.