Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Verblendet im Negev

»Die ein­zi­ge Bewe­gung war das Flir­ren einer Fata Mor­ga­na. Kah­le, wei­te Flä­chen schich­te­ten sich bis an den Rand des Him­mels und zit­ter­ten in der Luft­spie­ge­lung, wäh­rend das glü­hen­de Licht der Nach­mit­tags­son­ne die Sil­hou­et­te san­di­ger blass­gel­ber Hügel fast ver­wisch­te.« So beginnt der vor kur­zem auf Deutsch erschie­ne­ne Roman Eine Neben­sa­che der 1974 in Palä­sti­na gebo­re­nen Schrift­stel­le­rin Ada­nia Shi­b­li. Die Ori­gi­nal­aus­ga­be des Buches erschien 2017 in Bei­rut. Ort der Hand­lung ist der Negev, die Wüsten­land­schaft im Süden Isra­els. Wir schrei­ben den 9. August 1949.

Ein Jahr zuvor, am 14. Mai 1948, hat­te David Ben Guri­on, der Vor­sit­zen­de der Jewish Agen­cy und spä­te­re Mini­ster­prä­si­dent, den Staat Isra­el pro­kla­miert. Bis zum Angriff einer Alli­anz ara­bi­scher Nach­bar­staa­ten auf den neu­en Staat ver­gin­gen nur weni­ge Stun­den. Nach acht Mona­ten, im Janu­ar 1949, wur­de unter den Augen der Ver­ein­ten Natio­nen ein Waf­fen­still­stands­ab­kom­men abge­schlos­sen. Isra­el hat­te nicht nur das Staats­ge­biet ver­tei­digt, son­dern noch Land hinzugewonnen.

Im Negev liegt die Waf­fen­still­stands­li­nie zu Ägyp­ten. Hier­hin wur­de ein Stoß­trupp beor­dert, »die erste und ein­zi­ge Ein­heit, die seit dem Waf­fen­still­stand so weit süd­lich sta­tio­niert wor­den« ist. Das Lager wird auf­ge­baut, Pflöcke wer­den ein­ge­schla­gen, Zelt­stan­gen ras­seln. Die­se Geräu­sche sind das ein­zi­ge Zei­chen von Leben, die Umge­bung erscheint wüst und leer. Von dem Ort, der hier ein­mal stand, sind ledig­lich zwei Hüt­ten und eini­ge Mau­er­re­ste übrig­ge­blie­ben. So inten­siv war der Beschuss durch die israe­li­sche Armee zu Beginn des ersten ara­bisch-israe­li­schen Krieges.

Am Abend nach der Ankunft erklärt der Kom­man­die­ren­de den Sol­da­ten ihre Auf­ga­be: Sie sol­len die Süd­gren­ze zu Ägyp­ten abstecken und »gegen Ein­dring­lin­ge« sichern sowie »den Süd­we­sten des Negev syste­ma­tisch durch­käm­men und von etwa­ig ver­blie­be­nen Ara­bern säu­bern«. Es gebe Hin­wei­se der Luft­auf­klä­rung, »dass noch immer sol­che her­um­lie­fen und es zu Infil­tra­tio­nen komme«.

Die ersten bei­den Tage sind erfüllt mit dem Aus­he­ben von Schüt­zen­grä­ben, mit Patrouil­len­fahr­ten sowie mili­tä­ri­schen Übun­gen und Manö­vern, die dem Erler­nen von Kampf­tech­ni­ken in der Wüste und der Anpas­sung an die kli­ma­ti­schen Ver­hält­nis­se die­nen. Am drit­ten Tag nach ihrer Ankunft, am 12. August, stößt eine sechs­köp­fi­ge Patrouil­le unter Füh­rung des Offi­ziers mit­ten in der Wüste auf eine Baum­grup­pe, hin­ter der das Gebell eines Hun­des und das Röh­ren von Kame­len zu hören ist.

»Am Fuß des Han­ges ange­kom­men, ging er wei­ter auf die Vege­ta­ti­on zu und durch­drang das Geäst, hin­ter dem eine Grup­pe von Ara­bern zum Vor­schein kam, die wie ange­wur­zelt um die Quel­le her­um­stan­den. Sein Blick traf auf ihre Blicke, und ihre Augen waren so weit auf­ge­ris­sen wie die ihrer auf­ge­schreck­ten Kame­le, die auf­spran­gen und eini­ge Schrit­te davon­trab­ten, wäh­rend der Hund auf­heul­te. Es folg­te das Geräusch von hef­ti­gem Gewehrfeuer.«

Nur der Hund und ein Bedui­nen­mäd­chen über­le­ben, das, »ein­ge­rollt in sei­ne schwar­zen Klei­der, wie ein Käfer am Boden kau­er­te«. Waf­fen wer­den kei­ne gefun­den. Hund und Mäd­chen wer­den mit ins Lager genom­men. Einen Tag spä­ter ist die Bedui­nin tot. Ver­ge­wal­tigt. Erschos­sen. Verscharrt.

Mit die­ser Tat endet nach knapp 50 Sei­ten der erste Teil des schma­len Büch­leins. Ada­nia Shi­b­li hat die Gescheh­nis­se in fast lako­ni­scher, schnör­kel­lo­ser Spra­che beschrie­ben. Para­bel­haft steht ihr die Natur zur Sei­te: Schon in der ersten Nacht wird der Offi­zier von »einem Wesen«, ver­mut­lich einem Skor­pi­on, gesto­chen, zwei­mal in den lin­ken Ober­schen­kel: die Bewoh­ner der Wüste wis­sen sich zu weh­ren. Die Wun­de eitert, Krämp­fe stel­len sich ein. Deli­ri­um. Die Son­ne brennt heiß auf die Ödnis. Die Sol­da­ten krie­chen im Lager dem Schat­ten hin­ter­her: »Mono­to­ne, still dalie­gen­de Sand­dü­nen krei­sen sie von allen Rich­tun­gen ein.«

Im Mit­tel­punkt des zwei­ten, eben­falls 50 Sei­ten umfas­sen­den Teils steht eine jun­ge Palä­sti­nen­se­rin, die auf den Tag genau 25 Jah­re nach dem Mord an dem Bedui­nen­mäd­chen gebo­ren wur­de und die im Okto­ber 2003 in der israe­li­schen Tages­zei­tung Haa­retz dar­über liest. Gefes­selt von der Koin­zi­denz der bei­den Daten, beginnt sie zu recher­chie­ren. Aller­dings kann sie sich nicht frei bewe­gen. Es gibt Gren­zen, Check­points, Kon­trol­len. »Schüs­se, Sire­nen von Mili­tär­fahr­zeu­gen, manch­mal der Lärm von Heli­ko­ptern, Jagd­flug­zeu­gen und Bom­ben, anschlie­ßend der Heul­ton von Kran­ken­wa­gen – all das bil­det bei uns nicht nur den Hin­ter­grund zu Eil­mel­dun­gen in den Nach­rich­ten, son­dern ist auch in der Wirk­lich­keit als Geräusch­ku­lis­se min­de­stens so all­ge­gen­wär­tig wie das Bel­len des Hun­des gegen­über mei­ner Woh­nung.« Sie muss trick­sen, besorgt sich einen frem­den Pass – mit dem eige­nen käme sie nicht weit –, leiht sich ein Auto und beginnt ihre Suche, die sie immer näher an den Ort des dama­li­gen Ereig­nis­ses führt. Am Ende trifft sie im Negev auf eine von Bäu­men umstan­de­ne Was­ser­quel­le, an der sechs Kame­le trin­ken, und als sie auf­blickt, sieht sie »eine Grup­pe von Sol­da­ten mit­ten in der wei­ten Land­schaft ste­hen, die mich schwei­gend anblicken«. Damals ist heu­te und heu­te damals. Der Kreis schließt sich. Als habe sich in 50 Jah­ren nichts ver­än­dert. Ver­blen­det im Negev.

Ada­nia Shi­b­li ver­webt die Geschich­ten bei­der Frau­en. Sie hat ihrem Volk eine Stim­me gege­ben, lädt ein zu einer »ein­dring­li­chen Medi­ta­ti­on« über Krieg, Gewalt und Gerech­tig­keit. Der Beren­berg Ver­lag hat sie jetzt dem deut­schen Lese­pu­bli­kum zugäng­lich gemacht, so wie er 2019 von Lina Merua­ne die Heim­kehr ins Unbe­kann­te – Unter­wegs nach Palä­sti­na ver­öf­fent­licht hat (sie­he Ossietzky 10/​2019, »Und plötz­lich waren alle Deut­sche«). Dafür ist ihm zu dan­ken. Mich hat Eine Neben­sa­che an Erich Maria Remar­ques Roman Im Westen nichts Neu­es erin­nert, ein Buch, das, wie es im Vor­spruch heißt, »weder eine Ankla­ge noch ein Bekennt­nis sein soll­te«. Auch Shi­b­li ver­mei­det jeg­li­che poli­ti­sche Wer­tung, obwohl es die Tat und den Zei­tungs­ar­ti­kel gege­ben hat. Doch kommt der Tod hier eben­falls so als »Neben­sa­che« daher, wie er bei Remar­que schließ­lich den Front­sol­da­ten ereil­te: »Er fiel im Okto­ber 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der gan­zen Front, dass der Hee­res­be­richt sich nur auf den Satz beschränk­te, im Westen sei nichts Neu­es zu melden.«

 

Ada­nia Shi­b­li: Eine Neben­sa­che, aus dem Ara­bi­schen von Gün­ther Orth, Beren­berg, Ber­lin 2022, 120 S., 22 €.