Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Böse Pazifisten

Seit eini­gen Wochen bin ich wie­der in Kon­takt mit alten Bekann­ten aus der Stu­den­ten­be­we­gung der 1990er Jah­re. Gestern tra­fen wir uns vor dem Teat­ro Mas­si­mo in Paler­mo, um mit eini­gen Frie­dens­fah­nen bewaff­net gegen den Krieg und für die Ver­söh­nung zu demon­strie­ren. Wir waren gera­de Mal ein Dut­zend. Wo sind all die ande­ren geblie­ben? Habe ich mich gefragt. Die mei­sten habe ich zum letz­ten Mal vor drei­ßig Jah­ren vor dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­su­lat bei einer Demo gegen den ersten Irak­krieg gese­hen. Wir waren vie­le damals – und vol­ler Empörung.

Inzwi­schen hat sich die Welt kom­plett ver­än­dert, wir wur­den erwach­sen, und unse­re Stu­den­ten­be­we­gung war die letz­te wich­ti­ge jun­ge Pro­test­wel­le, die es in Ita­li­en gab. Die Lin­ken sind jetzt zer­split­tert. Die Par­ti­to Comu­ni­sta Ita­lia­no (PCI), die es damals gab, gibt es jetzt nicht mehr, und die PD (Demo­kra­ti­sche Par­tei) läuft seit Jah­ren den Rech­ten hin­ter­her, um Regie­rungs­par­tei zu blei­ben. Und nun? Heu­te sit­zen wir erschüt­tert vor dem Fern­se­her und schau­en zu, wie die Men­schen in der Ukrai­ne geschlach­tet wer­den. Die erste Reak­ti­on ist tie­fer Schmerz und dunk­le Lee­re, als ob die Welt den Tag und das Licht aus­ge­schal­tet hät­te. Dann willst du nicht mehr zuse­hen. Auch mein Bild­schirm bleibt nun dun­kel. Es kom­men immer nur die­sel­ben erschrecken­den und schreck­li­chen Bil­der, wie wir sie in die­ser Deut­lich­keit und in die­sem Aus­maß noch nie gese­hen haben. Im Fern­se­hen gibt es nur noch die­sen Krieg, und der Aus­weg, der uns gezeigt wird, ist eine Inten­si­vie­rung und Ver­län­ge­rung des Krie­ges. Bis zum Sieg. Aber wer soll hier siegen?

Ich möch­te inzwi­schen nur noch weg, viel­leicht in ein ein­sa­mes Dorf auf den Ber­gen, auf das Land, um vor die­ser Rea­li­tät zu flüch­ten. Das ist natür­lich genau­so naiv, wie den Fern­se­her aus­zu­schal­ten. Die­se Flucht hat bei mir schon mit der Pan­de­mie ange­fan­gen, als es in den Medi­en nur noch dar­um ging. Es gab kei­ne ande­re Rea­li­tät als Schutz­maß­nah­men und Qua­ran­tä­ne, Aus­gangs­ver­bot, Impf­be­für­wor­ter und Impf­geg­ner, als ob das Virus alles aus­ge­löscht hät­te. Die Viro­lo­gen tauch­ten in jeder Talk­show auf und hat­ten das Sagen. Es ging um Leben und Tod, und sie wie­sen uns den Weg, wie die Pan­de­mie zu been­den sei; das Virus gras­siert immer noch. Für Mei­nungs­aus­tausch und Alter­na­ti­ven war kein Platz mehr. Freund­schaf­ten wur­den gebro­chen, mit vie­len Leu­ten war nicht mehr zu reden. Wer nicht der­sel­ben Mei­nung war, wur­de zum Feind. Der Krieg hat zwar nun auch Coro­na fast ver­ges­sen gemacht, aber die Fein­de sind immer noch da. Wir sind von Fein­den umge­ben, sagen sie uns im Fernsehen.

Erst waren es die Mus­li­me in Irak, Afgha­ni­stan und Liby­en. Zwan­zig Jah­re lang haben wir vor den Isla­mi­sten Angst gehabt. Dann hat­ten wir Angst vor dem Virus, und jetzt kommt ein neu­er alter Feind wie­der auf die Büh­ne, und alle haben Angst vor den Rus­sen. Zwan­zig Jah­re Angst. Wie lan­ge soll das so wei­ter­ge­hen? Natür­lich habe ich auch Angst. Ich habe Angst vor dem Krieg und vor dem Hass, der sich eben­falls wie ein Virus aus­brei­tet. Hass der Rus­sen gegen die Ukrai­ner, Hass der gan­zen Welt gegen die Rus­sen, Hass gegen die »Filo puti­nia­ni« oder »Fil­o­rus­si« (Putin­ver­ste­her), wie die Pazi­fi­sten heut­zu­ta­ge bezeich­net wer­den. Im Fern­se­her und in den Zei­tun­gen hört und liest man nur davon, dass man Waf­fen lie­fern, den Feind und sei­ne Kul­tur has­sen soll und auf­rü­sten müs­se. Ana­ly­sen über Hin­ter­grün­de, mög­li­che Ursa­chen oder Alter­na­ti­ven zu der auf die Auf­rü­stungs­po­li­tik mög­li­cher­wei­se fol­gen­de Eska­la­ti­on sind ver­pönt. Es gibt kei­nen Platz in den Talk­shows für Wor­te, die Frie­den, Ver­nunft, Visio­nen einer bes­se­ren und gerech­te­ren Welt Aus­druck ver­lei­hen. Alles, was man in der Zeit der Pan­de­mie gelernt hat­te – die glo­ba­le Rea­li­tät der Ver­net­zun­gen, die es not­wen­dig macht, mit­ein­an­der zu agie­ren, um Welt­ka­ta­stro­phen wie Pan­de­mie und Kli­ma­kri­se vor­zu­beu­gen; die Fra­ge der sozia­len Gerech­tig­keit – alles ist ver­ges­sen. Waf­fen sind momen­tan die ein­zi­ge Ant­wort, und in die­sem Nebel der Wut und der Angst sehen wir gar nicht mehr, wohin wir gehen. Wir lau­fen nur noch blind her­um, gefan­gen und getrie­ben von den Pro­ble­men, die wir selbst mit­ver­ur­sacht haben.

Dar­an hat uns jetzt wenig­stens der Papst erin­nert. Er habe gehört, dass eini­ge Staats­ober­häup­ter die Gel­der für die Auf­rü­stung erhö­hen wol­len. »Sie sind ver­rückt!« Hat er gesagt. Unse­re Gesell­schaf­ten wer­den von Ver­rück­ten regiert, sag­te John Len­non in den sech­zi­ger Jah­ren. Heut­zu­ta­ge scheint mir der Papst der ein­zi­ge Pro­mi­nen­te zu sein, der eine Visi­on hat. Wir dür­fen nicht immer mehr Geld für wei­te­re Waf­fen aus­ge­ben, hat er gesagt, unse­re Res­sour­cen sol­len in Schu­len, Kran­ken­häu­ser, Kul­tur inve­stiert wer­den, nur das wür­de unse­re Gesell­schaf­ten bes­ser machen. Für die­se Visi­on wur­de Fran­ces­co attackiert. Er wäre wohl ein Freund von Putin und natür­lich ein Kom­mu­nist, obwohl Putin und Kom­mu­nist­sein im Wider­spruch ste­hen. Auch sei­ne Akti­on zum Kar­frei­tag, als er das Kreuz von zwei Frau­en, einer aus der Ukrai­ne und einer aus Russ­land, tra­gen ließ, ist stark kri­ti­siert wor­den, und das nicht nur von den ukrai­ni­schen Diplo­ma­ten im Vati­kan, son­dern von ita­lie­ni­schen Jour­na­li­sten, die jetzt ihren Sinn und ihre Mis­si­on schein­bar dar­in sehen, jeden Ver­such zum Dia­log und zur Ver­söh­nung als Ver­rat zu dif­fa­mie­ren. Böse Pazi­fi­sten. Die Kriegs­geg­ner haben die Impf­geg­ner als inne­res Feind­bild abgelöst.

Auch die ANPI (Asso­cia­zio­ne Nazio­na­le Par­ti­gia­ni d‘Italia) – der Ver­ein der über­le­ben­den Par­ti­sa­nen, die im zwei­ten Welt­krieg gegen Faschis­mus und deut­sche Besat­zung kämpf­ten – wird attackiert, denn auf einem Pla­kat für den Erin­ne­rungs­tag der Befrei­ung vom nazi-faschi­sti­schen Regime am 25. April erwäh­nen sie den Arti­kel der ita­lie­ni­schen Ver­fas­sung, der den Krieg äch­tet und ablehnt.

Selt­sam und besorg­nis­er­re­gend an all­dem ist die Ent­kop­pe­lung von Poli­tik und Medi­en einer­seits und den Sor­gen und Auf­fas­sun­gen der Bevöl­ke­rung ande­rer­seits. Die Paro­len der Medi­en und der Poli­ti­ker ent­spre­chen nicht wirk­lich der Mei­nung der Ita­lie­ner. Etwa 60 Pro­zent der Bevöl­ke­rung fin­den sowohl die Waf­fen­lie­fe­rung an die Ukrai­ner als auch die Erhö­hung der Finanz­mit­tel für wei­te­re Auf­rü­stung falsch. Eine absur­de Situa­ti­on: Poli­ti­ker in der Regie­rung und im Par­la­ment tref­fen mehr­heit­lich Ent­schei­dun­gen, die die mei­sten Ita­lie­ner ableh­nen, wäh­rend ein gro­ßes Teil der Jour­na­li­sten auf die­se Mehr­heit der Bevöl­ke­rung schimpft.

Die­se Spal­tung zwi­schen Poli­ti­kern und Mei­nungs­ma­chern einer­seits und einem gro­ßen Teil der Bevöl­ke­rung ande­rer­seits ist erschreckend. Gleich­zei­tig den­ke ich, dass gera­de die­se Blind­heit und Taub­heit sei­tens der Ent­schei­dungs­trä­ger die Pro­ble­me, die offen dalie­gen, ver­schär­fen wird. Ein mög­li­ches Öl- und Gas- Embar­go gegen Russ­land bei­spiels­wei­se wird die sozia­le Fra­ge in den Vor­der­grund rücken und vie­le Leu­te auf die Stra­ße brin­gen. Immer mehr Stim­men, so ist zu hof­fen, wer­den sich dann gegen den Krieg und die Mili­ta­ri­sie­rung unse­res Lebens erhe­ben. Was im Moment jedoch fehlt, ist eine Orga­ni­sa­ti­on, die die vie­len ver­ein­zel­ten Initia­ti­ven in eine gro­ße Bewe­gung zusam­men­führt. Es fehlt die PD, die die­se Rol­le in den Frie­dens­be­we­gun­gen immer gespielt hat, die jetzt aber in der Regie­rung sitzt und lini­en­treu die Paro­le des Mili­ta­ris­mus ver­brei­tet. Trotz­dem wird genau die­se Par­tei die Mei­nung ihrer Wäh­ler berück­sich­ti­gen müs­sen, wenn sie wei­ter exi­stie­ren will. Schon distan­zie­ren sich des­halb eini­ge ihrer Ver­tre­ter von dem Kriegs­ei­fer John­sons und Bidens und drän­gen auf Ver­hand­lun­gen in abseh­ba­rer Zeit. Des­halb bin ich pes­si­mi­stisch und opti­mi­stisch zugleich. Ich rech­ne dar­auf, dass wir bei den näch­sten Demos immer zahl­rei­cher werden.