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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Staatsfeinde schaffen

Georg Ram­mer Staats­fein­de schaffen

 

Schön, wenn der Staat unse­re Rech­te als Ver­brau­cher garan­tiert. Aber als Rechts­staat erweist sich ein Land erst, wenn auch die Rech­te von Kri­ti­ke­rIn­nen staat­li­cher Maß­nah­men und von Dis­si­den­tIn­nen real geschützt sind und wenn die Gewal­ten­tei­lung funk­tio­niert. Ver­dient die Bun­des­re­pu­blik das Qua­li­täts­prä­di­kat »Rechts­staat«?

In Zusam­men­hang mit Kra­wal­len beim G20-Gip­fel in Ham­burg vor zwei­ein­halb Jah­ren wur­den mehr als 3500 Ermitt­lungs­ver­fah­ren geführt – davon gegen rund 900 nament­lich bekann­te Beschul­dig­te, mel­de­ten Zei­tun­gen im März 2019. 180 waren bereits ver­ur­teilt. Mit Hun­der­ten Fotos unbe­kann­ter »Ran­da­lie­rer« oder Gewalt­tä­ter hat­te die »SoKo Schwar­zer Block« der Poli­zei die Öffent­lich­keit zur Hil­fe bei der Fahn­dung auf­ge­ru­fen. An den Stra­ßen­schlach­ten war die Poli­zei aller­dings mit gro­ßer Ener­gie betei­ligt: Exzes­si­ve Gewalt, die Hun­der­te Ver­letz­te gefor­dert hat­te, ist auf zahl­rei­chen Vide­os doku­men­tiert. Gegen Poli­zi­sten lei­te­te die Staats­an­walt­schaft 156 Ver­fah­ren ein, ein Groß­teil wur­de aber gleich wie­der ein­ge­stellt; »nur ein Poli­zist lan­de­te bis­lang vor Gericht und wur­de ver­warnt – weil er einem Kol­le­gen den klei­nen Fin­ger umknick­te« (Zeit online, 17.11.2019).

Sind Ord­nungs­kräf­te prin­zi­pi­ell anders zu bewer­ten als Demon­stran­ten? Ist die Aus­übung staat­li­cher Gewalt nicht an Recht und Gesetz gebun­den? Die Fra­gen drän­gen sich umso mehr auf, wenn man berück­sich­tigt, dass der dama­li­ge Erste Bür­ger­mei­ster von Ham­burg, Olaf Scholz, nach den Aus­schrei­tun­gen »har­te Stra­fen« gefor­dert hat­te – selbst­ver­ständ­lich für die Demon­stran­ten. Die Gerich­te lie­fer­ten: Zum Bei­spiel hob das Ober­lan­des­ge­richt eine Ent­schei­dung des Land­ge­richts auf, drei Tat­ver­däch­ti­ge unter Auf­la­gen frei­zu­las­sen. Das OLG schalt die Rich­ter als befan­gen, wegen der Ent­schei­dung sei »Miss­trau­en gegen die Unpar­tei­lich­keit« ange­bracht. Eine unüb­li­che Maß­re­ge­lung anstel­le einer Zurück­wei­sung der Ein­mi­schung der Exekutive.

Die mit G20-Kla­gen befass­te Staats­an­walt­schaft will ent­ge­gen einem frü­he­ren Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts errei­chen, dass alle Fest­ge­nom­me­nen des schwe­ren Land­frie­dens­bruchs und der gefähr­li­chen Kör­per­ver­let­zung schul­dig gespro­chen wer­den kön­nen – ohne ihnen eine Tat­be­tei­li­gung nach­wei­sen zu müs­sen. Dadurch wür­den Grund­rech­te aus­ge­he­belt, denn dann »könn­te zukünf­tig jedeR, der oder die auch nur für kur­ze Zeit an einer sich unfried­lich ent­wickeln­den Demon­stra­ti­on teil­ge­nom­men hat, für alle Aus­schrei­tun­gen straf- und damit auch zivil­recht­lich ver­ant­wort­lich gemacht wer­den, selbst wenn er oder sie an die­sen nach­weis­lich nicht betei­ligt war oder den Ort des Gesche­hens zum Tat­zeit­punkt längst ver­las­sen hat« (taz, 3.1.20). Zu wel­chem Urteil über die Rechts­staat­lich­keit in Chi­na kämen wohl hier die Medi­en, wür­de in Hong­kong die Staats­an­walt­schaft nach den Kra­wal­len so verfahren?

Schaut man auf die juri­sti­sche Auf­ar­bei­tung der Aus­ein­an­der­set­zun­gen um den Ham­ba­cher Forst, stel­len sich eben­falls Fra­gen zur Unab­hän­gig­keit und Rechts­staat­lich­keit. Lan­des­po­li­ti­ker unter­nah­men enor­me Anstren­gun­gen, die Inter­es­sen des RWE-Kon­zerns durch­zu­set­zen: Innen- und Bau­mi­ni­ste­ri­um beauf­trag­ten eine Kanz­lei, nach einer Rechts­grund­la­ge für die Räu­mung von Baum­häu­sern zu suchen. Der Ener­gie­rie­se hat­te zuvor die Räu­mung bean­tragt und den nord­rhein-west­fä­li­schen Innen­mi­ni­ster Her­bert Reul zur Unter­stüt­zung auf­ge­for­dert. Die­ser leug­ne­te per­sön­li­che Kon­zern­kon­tak­te (auf Druck muss­te er sich spä­ter revi­die­ren und Gesprä­che mit RWE ein­räu­men), sorg­te aber unter einem Vor­wand (»man­geln­der Brand­schutz«) dafür, dass Tau­sen­de Poli­zi­sten in wochen­lan­gen Groß­ein­sät­zen für die RWE-Inter­es­sen durch­grif­fen. Mit straf­recht­li­chen Fol­gen – aller­dings nicht für den Mini­ster. Zahl­rei­che Akti­vi­sten kamen wegen Wider­stand gegen die Staats­ge­walt in U-Haft. Eini­ge wur­den zu län­ge­ren Haft­stra­fen ohne Bewäh­rung ver­ur­teilt; einer Akti­vi­stin wur­den »erheb­li­che schäd­li­che Nei­gun­gen« und »Ent­wick­lungs­ver­zö­ge­rung« atte­stiert. Die har­ten Urtei­le ver­folg­ten das Ziel, gene­ral­prä­ven­tiv zu wir­ken, dien­ten also als Abschreckung. Der Rich­ter erkann­te »staats­feind­li­che Ansich­ten« der Ange­klag­ten; der Rechts­staat erwar­te vom Gericht »ein deut­li­ches Signal«.

Poli­ti­sche Urtei­le? Sind Kon­zern­in­ter­es­sen höher­wer­tig als Bür­ger­rech­te? Immer­hin hat­te RWE das behörd­li­che Vor­ge­hen maß­geb­lich beein­flusst: Der feder­füh­ren­de Bau­de­zer­nent gab vor Gericht an, RWE habe die Ver­wal­tungs­be­am­ten per Shut­tle in den Wald gefah­ren, Kon­zern­ver­tre­ter hät­ten an Bespre­chun­gen der Ver­wal­tung teil­ge­nom­men und Kon­zern­mit­ar­bei­ter der Poli­zei genau ange­ge­ben, wel­che Baum­häu­ser als näch­ste zu räu­men sei­en (taz, 3.2.20). Der Amts­rich­ter aber befand, er habe nicht über poli­ti­sche Kun­ge­lei zu befin­den, son­dern nur über die Schuld der Besetzer.

Viel­leicht gilt auch in Deutsch­land die Fest­stel­lung, die der UN-Son­der­be­richt­erstat­ter zu Fol­ter, Nils Mel­zer, zum staat­li­chen Vor­ge­hen gegen den Jour­na­li­sten Juli­an Assan­ge traf: »Rechts­staat­lich­keit ist in unse­ren Län­dern durch­aus gege­ben, solan­ge die essen­ti­el­len Staats­in­ter­es­sen nicht betrof­fen sind. Sobald sich der Staat aber in sei­nen Sicher­heits­in­ter­es­sen bedroht fühlt, fun­da­men­tal, und ich den­ke die Wiki­leaks-Ver­öf­fent­li­chun­gen wur­den als eine sol­che Bedro­hung wahr­ge­nom­men, dann funk­tio­niert das nicht mehr« (ZDF heu­te, 5.2.20).

Auch der fol­gen­de Fall hat sich lei­der nicht in Mos­kau ereig­net – lei­der, denn dann wären Kri­tik und Empö­rung in den Medi­en sicher lau­ter und grund­sätz­li­cher aus­ge­fal­len. Die taz berich­te­te (21.1.20): Eine jun­ge Kur­din nimmt am (gewalt­frei­en) Kur­den­marsch von Mann­heim nach Karls­ru­he teil, der wegen angeb­li­cher Auf­la­gen­ver­stö­ße von der Poli­zei auf­ge­löst wird. Die für poli­ti­sche Straf­ta­ten zustän­di­ge Staats­an­walt­schaft teilt dem Gericht mit, dass die Ermitt­lung gegen die Jugend­li­che ein­ge­stellt wer­de, da sie noch nicht 14 Jah­re alt, also noch nicht straf­mün­dig ist. Das Jugend­amt stellt Eltern wie Toch­ter ein ein­deu­tig posi­ti­ves Zeug­nis aus. Den­noch befragt das Fami­li­en­ge­richt alle Kin­der der Fami­lie zwi­schen drei und 15 Jah­ren und holt eine Stel­lung­nah­me des Staats­schut­zes ein.

Offen­bar hat­ten in dem Fall Ver­fas­sungs­schutz und Poli­zei schon län­ger zusam­men­ge­ar­bei­tet, was der gebo­te­nen Tren­nung von Geheim­dienst und Poli­zei wider­spricht. Der Mut­ter soll­te das Sor­ge­recht ent­zo­gen wer­den, da sie – nach ihrer Dar­stel­lung ganz legal – gegen den Krieg der Tür­kei im kur­di­schen Nord­sy­ri­en demon­striert und ihrer Toch­ter die Teil­nah­me an dem Marsch nicht ver­bo­ten habe. Mit Sicher­heit kein Fall von Kin­des­wohl­ge­fähr­dung – aber poli­ti­sche Justiz? Immer­hin stell­te die Rich­te­rin das Ver­fah­ren ein, wenn auch mit zahl­rei­chen Auf­la­gen an die Mut­ter (vgl. Spiegel.de/Panorama, 22.1.20).

Die Bekämp­fung rech­ter Ter­ror-Netz­wer­ke ist nicht pri­mär Sache von Gerich­ten. Den­noch ver­setzt es dem Rechts­staat einen ent­schei­den­den Stoß, wenn etwa der ehe­ma­li­ge Bun­des­wehr­sol­dat André S., der unter dem Deck­na­men »Han­ni­bal« rech­te Chat-Grup­pen und para­mi­li­tä­ri­sche Trai­nings gelei­tet hat, vor Gericht beson­de­re Mil­de erfährt. Da ging es nicht um Lap­pa­li­en. Bekannt war, dass Waf­fen- und Muni­ti­ons­la­ger ange­legt und Vor­be­rei­tun­gen auf einen Bür­ger­krieg getrof­fen wur­den; Ter­ror­zel­len hat­ten Fein­des­li­sten poli­ti­scher Geg­ner ange­legt. Nun soll André S. eine Stra­fe von 1800 Euro zah­len. (Wie rechts­ter­ro­ri­sti­sche Netz­wer­ke sei­tens staat­li­cher Stel­len ver­harm­lost und geschützt wer­den, arbei­te­te Claus von Wag­ner in sei­ner »polit­sa­ti­ri­schen Ana­ly­se« in der ZDF-Sen­dung Die Anstalt vom 11.2.20 klar her­aus.) Das erstaun­lich mil­de Urteil hängt damit zusam­men, dass das Gericht die zen­tra­le Rol­le des rech­ten Netz­wer­kes nicht berück­sich­tigt hat. Staats­an­walt­schaft und Ver­tei­di­gung einig­ten sich schnell, dass »über den Kom­plex Fran­co A. genug gere­det wor­den sei« und die­ser Hin­ter­grund in die­sem Ver­fah­ren nicht the­ma­ti­siert wer­den soll. (Infor­ma­ti­ons­stel­le Mili­ta­ri­sie­rung, 6.2.20) Tobi­as Pflü­ger stellt als ver­tei­di­gungs­po­li­ti­scher Spre­cher der Links­par­tei fest: »Das ist sym­pto­ma­tisch für alle Pro­zes­se, die bis­lang gegen Per­so­nen die­ses Netz­werks geführt wur­den: Die Netz­werk­struk­tu­ren wer­den igno­riert, und es wer­den nied­ri­ge Stra­fen ver­hängt, da es immer nur um gefun­de­ne Waf­fen oder Spreng­stoff geht, aber nie dar­um, was die Rech­ten damit vor­hat­ten – ein fata­les Signal für Neo­na­zis mit Ter­ror­plä­nen« (ebd.).

Der Euro­päi­sche Poli­zei­kon­gress Anfang Febru­ar stand unter dem Mot­to »Euro­pa: Rechts­staat durch­set­zen«. Wohl in einem ganz ande­ren Sinn als beim Kon­gress bleibt dies in der Tat eine Aufgabe.