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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Und sie bewegt sich doch!

Zum Jah­res­en­de 2019 ereig­ne­te sich in Ita­li­en Über­ra­schen­des: Mit Papp­fi­schen bestückt über­schwemm­ten ganz plötz­lich jun­ge und älte­re Bür­ger die gro­ßen Plät­ze Ita­li­ens, aus­schwär­mend von Bolo­gna, wo sich am 14. Novem­ber gut 15.000 Men­schen ver­sam­mel­ten, bis hin zur Groß­kund­ge­bung in Rom einen Monat spä­ter auf der rand­vol­len Piaz­za San Gio­van­ni. Gleich­zei­tig fan­den Demos in 113 wei­te­ren Städ­ten im Lan­de und 20 in ande­ren Län­dern Euro­pas statt. Mit­in­spi­riert von Fri­days for Future war zuerst eine klei­ne Grup­pe ange­tre­ten, die via Face­book ihre Mit­bür­ger auf­for­der­te, selbst aktiv zu wer­den, end­lich etwas zu tun und die Läh­mung zu über­win­den, die das Feh­len einer lin­ken Oppo­si­ti­on gegen­über dem Rechts­ruck im Lan­de spä­te­stens seit dem Regie­rungs­an­tritt der laut­star­ken Lega im Som­mer 2018 ver­ur­sacht hatte.

Die neue Bewe­gung der »Sar­di­nen« stellt einen lau­ten Weck­ruf an die außer­par­la­men­ta­ri­sche Lin­ke und alle Anti­fa­schi­sten dar. Aber wofür steht sie? Sie zeigt kei­ne Par­tei­em­ble­me, erhebt auch kei­ne prak­ti­schen For­de­run­gen, son­dern ver­steht sich als Sau­er­stoff, als Sti­mu­lans für mehr Mit­spra­che der Staats­bür­ger. Die Sar­di­nen erin­nern an die not­wen­di­ge Ein­hal­tung der Grund­prin­zi­pi­en der Ver­fas­sung: für prak­ti­zier­ten Anti­fa­schis­mus, gegen Ras­sis­mus und Volks­ver­het­zung, gegen Angst- und Has­serzeu­gung. Sie pfle­gen eine zivi­le Spra­che und ihre unmiss­ver­ständ­li­che Hym­ne ist »Bel­la ciao«.

Das zunächst erstaun­li­che Phä­no­men ist auch eine Reak­ti­on auf die seit fast 30 Jah­ren herr­schen­de Medi­en­de­mo­kra­tie. Seit der Ära Berlusconi/​Prodi lösen Tech­no­kra­ten und popu­li­sti­sche Lea­der, die weni­ger in der Bevöl­ke­rung als in ihren polit-öko­no­mi­schen Cli­quen ver­an­kert sind, ein­an­der ab. Das hat zur poli­ti­schen Resi­gna­ti­on wei­ter Krei­se geführt hat, vor allem in Süd­ita­li­en, aber auch in den klei­ne­ren Städ­ten und länd­li­chen Regio­nen des Nor­dens. Deren Bewoh­ner füh­len ihre Belan­ge ver­nach­läs­sigt und wäh­len ent­we­der gar nicht mehr oder rechts. Aber aus­lö­send für den neu­en Pro­test war zuletzt die aggres­si­ve, volks­ver­het­zen­de Dau­er­pro­pa­gan­da vor allem von Lega-Chef Matteo Sal­vi­ni, sowohl als Innen­mi­ni­ster als auch als Anfüh­rer der Rechts­par­tei­en nach sei­nem Aus­schei­den aus der Regie­rung mit der Movi­men­to 5 Stel­le (M5S, 5-Ster­ne-Bewe­gung) im August 2019 (sie­he Ossietzky 18/​19).

Nach die­sem Eigen­tor war Sal­vi­ni ange­tre­ten, die seit­her amtie­ren­de kon­flikt­rei­che Regie­rung (Con­te II) aus M5S und sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­ti­to Demo­crá­ti­co (PD) mit allen Mit­teln zu Fall zu brin­gen und Neu­wah­len zu pro­vo­zie­ren, um sich dem Vol­ke dann als ple­ni­po­ten­ter Füh­rer der Regie­rung anzu­prei­sen. Das beun­ru­hig­te nicht weni­ge Menschen!

Sal­vi­ni sah die wich­ti­ge Regio­nal­wahl in der Emi­lia-Roma­gna (26.1.2020) als Sprung­brett zurück nach Rom an, woll­te damit auch sei­nen selbst­ver­schul­de­ten Rück­schlag vom letz­ten Som­mer wett­ma­chen. Und zwar um jeden Preis, wie sein uner­müd­li­cher, affekt­be­la­de­ner Wahl­kampf von Tür zu Tür zeig­te, bei dem er die Wahl zum Refe­ren­dum für oder gegen sich selbst sti­li­sier­te, wäh­rend sei­ne Kan­di­da­tin für das Amt im Hin­ter­grund blieb. In sei­ner Hybris ähnelt er Matteo Ren­zi von 2016, damals noch PD-Chef, der ein ähn­li­ches Ego zur Schau stell­te und dann kläg­lich am Volks­wil­len schei­ter­te. Die Wäh­ler spra­chen sich näm­lich in einem Refe­ren­dum gegen Ren­zis Ver­such aus, die repu­bli­ka­ni­sche Ver­fas­sung den neo­li­be­ra­len Erfor­der­nis­sen anzupassen.

Nun geschah Sal­vi­ni Ähn­li­ches. Eine über­ra­schend hohe Wahl­be­tei­li­gung (knapp 68 Pro­zent, 30 Punk­te mehr als bei der letz­ten Regio­nal­wahl), die man wohl auch der Sen­si­bi­li­sie­rung durch die »Sar­di­nen« sowie der Sor­ge der Mit­te vor Sal­vi­nis Über­macht zuschrei­ben darf, bestä­tig­te per Direkt­wahl den bis­her fähi­gen Lan­des­chef Ste­fa­no Bonac­ci­ni (PD) für eine wei­te­re Amtszeit.

Lan­des­weit atme­ten vie­le auf, als sich nachts das Wahl­er­geb­nis abzeich­ne­te, denn 2019 hat­te die Lega das einst lin­ke Umbri­en erobert, und das rech­te Bünd­nis sieg­te jetzt auch in Kala­bri­en haus­hoch mit einer Kan­di­da­tin von Ber­lus­co­nis For­za Ita­lia. Damit wer­den 8 von 14 Regio­nen inzwi­schen von den Rech­ten regiert. Aber die »rote« Emi­lia-Roma­gna, einst Hoch­burg der PCI, immer noch eine der wohl­ha­bend­sten und best­ver­wal­te­ten Regio­nen Ita­li­ens mit lan­ger demo­kra­ti­scher Tra­di­ti­on, konn­te sich, wenn auch knapp, behaup­ten. Die PD leg­te wie­der zu auf 35 Pro­zent, aller­dings dicht gefolgt von der Lega mit 32 Pro­zent, die inzwi­schen den gan­zen Nor­den Ita­li­ens regiert. Deren Auto­no­mie­be­stre­bun­gen, die die extrem ange­stie­ge­ne Ungleich­heit in Ita­li­en zemen­tie­ren wür­den, haben auch die Emi­lia-Roma­gna erfasst, dort for­dert auch die PD eine abge­schwäch­te Auto­no­mie, im Wider­spruch zum Verfassungsauftrag.

Im Mai ste­hen in sechs wei­te­ren Regio­nen Wah­len an. Matteo Sal­vi­ni, von kei­nem Selbst­zwei­fel gestreift, rüstet sich dafür, doch sein Füh­rungs­an­spruch bleibt auch inner­halb der Rech­ten umstritten.

Die Regie­rung Con­te II fühlt sich zwar durch den Erfolg der PD gestärkt, aber die 339 Abge­ord­ne­ten der M5S (= 32 Pro­zent im Par­la­ment von 2018) spie­geln heu­te nicht mehr die Stim­mung im Lan­de wider, denn die 5-Ster­ne-Bewe­gung fiel bei den genann­ten Regio­nal­wah­len im Janu­ar auf sie­ben bezie­hungs­wei­se vier Pro­zent zurück. Somit steht die prak­ti­sche Poli­tik in Ita­li­en wei­ter­hin vor schwer umschiff­ba­ren Klip­pen – umstrit­te­ne Justiz- und Steu­er­re­for­men, eine radi­ka­le Ver­schlan­kung des Par­la­ments, eine Volks­ab­stim­mung über eine erneu­te Wahl­rechts­re­form ste­hen an.

Die unglei­chen Regie­rungs­par­tei­en PD und M5S ste­hen damit vor poli­ti­schen Neu­ori­en­tie­run­gen, und es bleibt abzu­war­ten, ob sich wei­te­re Pola­ri­sie­run­gen erge­ben oder nicht. Die Demo­kra­ten unter Par­tei­chef Nico­la Zin­ga­ret­ti erklä­ren, sich auf einem bal­di­gen Kon­gress für wei­te­re Kräf­te aus der Gesell­schaft öff­nen zu wollen.

Ob M5S den Her­aus­for­de­run­gen stand­hal­ten wird, ist offen. Die seit 2009 ange­wach­se­ne 5-Ster­ne-Bewe­gung hat­te jah­re­lang den Volks­zorn gegen die neo­li­be­ra­le Ver­ar­mungs­po­li­tik, der sich anders­wo, zum Bei­spiel in Frank­reich, in anhal­tend har­ten Streik­pro­te­sten ent­lädt, im Zaum gehal­ten und via Inter­net kana­li­siert, stieß dann aber in der Regie­rungs­pra­xis an ihre abseh­ba­ren Gren­zen. Nicht nur feh­len ihr Fach­kom­pe­ten­zen, die vor­geb­lich ideo­lo­gie­freie Digi­tal-Demo­kra­tie (ihrer Platt­form Rous­se­au) erwies sich in der Pra­xis zuneh­mend als illu­sio­när. Rele­van­te polit-öko­no­mi­sche Ent­schei­dun­gen erfor­dern näm­lich noch immer rech­te oder lin­ke Posi­tio­nie­run­gen. Und sol­che ste­hen hier aus.

Auch die jüng­ste Bewe­gung der Sar­di­nen, die sich kei­nes­wegs anti­po­li­tisch gibt, möch­te sich für alter­na­ti­ve Poli­tik mit neu­er Ziel­rich­tung ein­set­zen, bleibt aber bis­her erklär­ter­ma­ßen allen Par­tei­en fern. Ob und in wel­cher Form sich ihr Enga­ge­ment ent­wickeln wird, soll im März auf einer gro­ßen Ver­samm­lung in Scam­pia bera­ten wer­den, dem inzwi­schen inter­na­tio­nal bekann­ten Stadt­vier­tel von Nea­pel, in dem die Arbeits­lo­sig­keit bei weit über 50 Pro­zent liegt.