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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Walter Kaufmanns Lektüre

Wer auch nur einen von Susan Son­tags bril­lan­ten Auf­sät­zen gele­sen hat oder einen ihrer Roma­ne wird kopf­schüt­telnd abtun, was im Vor­feld die Pres­se über Sig­rid Nunez’ »Semp­re Susan« behaup­te­te und prompt auf dem Buch­um­schlag zitiert wur­de: »Das bis heu­te leben­dig­ste und schil­lernd­ste Por­trait«; vom »neu­gie­ri­gen Blick« und vom »Besten« war die Rede, »was es über Susan Son­tag zu lesen geben wird«. Es ist die Norm, dass sol­che Sprü­che von Ver­la­gen auf­ge­grif­fen wer­den. Die hier wie­der­ge­ge­be­nen kön­nen nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass »Semp­re Susan« der Schrift­stel­le­rin nicht gerecht wird: Nichts fin­det sich über Inhalt und Stil ihrer Bücher, und es fehlt jeg­li­che Aner­ken­nung ihres Flei­ßes und ihrer enor­men Pro­duk­ti­vi­tät. Dafür lie­fert es Indis­kre­tio­nen zuhauf. Sig­rid Nunez, die als jun­ge Stu­den­tin gewon­nen wor­den war, Susan Son­tag bei der Beant­wor­tung einer Flut von Brie­fen zu hel­fen, hat­te sich nach kür­ze­ster Zeit der­art in den Haus­halt ein­ge­bracht, dass ihre Arbeit­ge­be­rin sie ein­lud, Mit­be­woh­ne­rin ihres Pent­houses zu wer­den. Dort hat­te sie David, den Sohn des Hau­ses, ken­nen­ge­lernt und war eine Bezie­hung mit ihm ein­ge­gan­gen. Nach Susan Son­tags Tod hat­te sie sich dar­auf beson­nen, was ihr an der Schrift­stel­le­rin auf­ge­fal­len und, vor­nehm­lich, was an ihr aus­zu­set­zen war – Susan Son­tags Umgangs­art, Manie­riert­hei­ten, Hoch­nä­sig­keit, Eitel­kei­ten, und dass sie total unfä­hig war, allein zu sein. Stän­dig über­wach­te sie ihren längst mün­di­gen Sohn und ket­te­te ihn selbst­süch­tig an sich. Und erst die Ver­gnü­gungs­sucht, die­ser Drang auf Par­tys unter­wegs zu sein! Und wie süch­tig Susan Son­tag auf Unter­hal­tung war. Je mehr Kino­be­su­che desto bes­ser: Sie schien auf Spiel­fil­me ver­ses­sen zu sein. Lebens­er­satz? frag­te sich Sig­rid Nunez. Begab­te Frau­en ließ sie nur unwil­lig neben sich gel­ten – was auch Sig­rid Nunez zu spü­ren bekam. Hat­te Susan Son­tag nicht viel Zeit ver­strei­chen las­sen, ehe sie sich, auf­fal­lend schroff und karg, zu ein paar Sei­ten von deren lite­ra­ri­schen Ver­su­chen äußer­te? Für die eige­ne Arbeit jedoch ver­lang­te sie unver­züg­li­che, unge­teil­te Auf­merk­sam­keit. Kurz­um, die bei­den Frau­en har­mo­nier­ten nur sel­ten, wur­den sich im Grun­de nie hold. Am Ende war es, als hät­te Sig­rid Nunez nur Susan Son­tags Able­ben abge­war­tet, um mit ihr abzu­rech­nen: »Semp­re Susan«! Sie schreibt, dass Susan Son­tag selbst vor Frem­den das Feh­len einer ihrer Brü­ste vor­zu­zei­gen imstan­de war, sie ihre Krebs­ope­ra­ti­on unge­hemmt her­aus­stell­te; auch ander­wei­tig sei sie wenig zurück­hal­tend gewe­sen. Da gab es jene sehr spä­te Nacht, als sie zum Schlaf­zim­mer ihres Soh­nes (das Sig­rid Nunez mit ihm teil­te) Zugang erfleht hat­te, nur um sich über Gere­de aus­zu­las­sen, das ihr irgend­wann zu Ohren gekom­men war: »Hört nur, hört zu!« Sie konn­te, betont Sig­rid Nunez, »kein Geheim­nis, kei­ne Ver­trau­lich­kei­ten für sich behal­ten, alles muss­te sie zwang­haft wei­ter­erzäh­len.« So kul­mi­niert dann auch »Semp­re Susan« in einer Auf­zäh­lung von Susan Son­tags unlieb­sam­sten Eigen­schaf­ten – was ange­sichts des Man­gels an Wer­tung ihrer lite­ra­ri­schen Lei­stun­gen und ihrer öffent­li­chen Wirk­sam­keit mali­zi­ös anmu­tet. Für mei­ne Begrif­fe ist »Semp­re Susan« ein miss­ra­te­nes Buch.

Sig­rid Nunez: »Semp­re Susan Erin­ne­run­gen an Susan Son­tag«, Auf­bau Ver­lag, 141 Sei­ten, 18 €