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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Europa der kleinen Leute

Am 15. Dezem­ber 2018 setzt der klei­ne Ort Cabe­sta­ny in den fran­zö­si­schen Ost­py­re­nä­en fei­er­lich einen Beschluss des Stadt­rats um: Der seit Wochen von den Gelb­we­sten besetz­te Kreis­ver­kehr wird in »rond point des gilets jau­nes« umbe­nannt. In Anwe­sen­heit von 20 West­en­trä­gern wür­digt Bür­ger­mei­ster Jean Vila die neue Bewe­gung: »Das gegen­wär­ti­ge gesell­schaft­li­che Ereig­nis ist der Kampf der Gel­ben Westen. Sie allein sind Trä­ger der wesent­li­chen For­de­run­gen eines Frank­reichs, das arbei­tet, das gear­bei­tet hat oder Arbeit sucht. Die­ser Kampf passt gut zur fran­zö­si­schen Tra­di­ti­on der gro­ßen sozia­len Errun­gen­schaf­ten unse­res Lan­des: die Revo­lu­ti­on von 1789, die Libé­ra­ti­on [Befrei­ung vom Faschis­mus], der Mai 68 und die gro­ßen Kämp­fe von 1995. Ganz sicher wird der Kampf der gilets jau­nes für immer die sozia­len Kämp­fe in Frank­reich prä­gen.« (https://www.ladepeche.fr, hier und im Fol­gen­den: Über­set­zung C. Z.)

Richard Mart­zolff von den Gel­ben Westen ergreift das Wort: »Unser Kampf ist ein bedeu­ten­des Ereig­nis in der fran­zö­si­schen Geschich­te, und wir wer­den ihn fort­set­zen. Es gibt noch zu viel Leid und Unge­rech­tig­keit, und die vom Prä­si­den­ten der Repu­blik ange­kün­dig­ten Maß­nah­men brin­gen kei­ne Lösung. Ich als Arzt sehe immer mehr Leu­te, vor allem jun­ge, die nicht mehr genug Geld haben, um sich ange­mes­sen zu ver­sor­gen. Mil­lio­nen leben in Frank­reich in Armut. Unser Land lei­det an feh­len­der Mensch­lich­keit, zu der es zurück­fin­den muss.«

Das Depar­te­ment Pyré­nées-Ori­en­ta­les, ein son­ni­ger Land­strich am Mit­tel­meer kurz vor der spa­ni­schen Gren­ze, gehört zu den sozi­al abge­häng­ten Gebie­ten Frank­reichs. Eine nen­nens­wer­te Indu­strie gibt es kaum, geprägt ist die Gegend neben dem Tou­ris­mus vor allem von der Land­wirt­schaft. Die Arbeits­lo­sig­keit liegt bei über 15 Pro­zent, die mei­sten fin­den nur im schlecht bezahl­ten Dienst­lei­stungs­sek­tor eine Anstel­lung, zudem sind vie­le Beschäf­ti­gun­gen auf die Feri­en- oder Ern­te­zeit beschränkt. Der Tou­ris­mus hat nur weni­ge reich gemacht, und für ärme­re Leu­te sind Miet­woh­nun­gen wegen der lukra­ti­ve­ren Ver­mie­tung an Urlau­ber immer schwe­rer zu fin­den. Nicht nur wohl­ha­ben­de Rent­ner aus ganz Frank­reich haben sich hier auf ihr son­ni­ges Alten­teil zurück­ge­zo­gen. Seit zwei Jahr­zehn­ten haben auch die Bri­ten den regen­ar­men Süden für sich ent­deckt und die Immo­bi­li­en­prei­se bei­na­he auf Pari­ser Niveau getrieben.

Das Depar­te­ment gehör­te bis 1659 bis auf einen klei­nen Teil zu Kata­lo­ni­en, und ein Vier­tel der Bewoh­ner spricht bis heu­te kata­la­nisch. Seit der spa­ni­sche Teil Kata­lo­ni­ens in den 1970er Jah­ren sei­ne Auto­no­mie­rech­te wie­der­erlang­te, regt sich auch im fran­zö­si­schen Nord­ka­ta­lo­ni­en der Wunsch nach grö­ße­rer Eigen­stän­dig­keit. Das beschränk­te sich bis­her auf Folk­lo­re und zwei­spra­chi­ge Orts­schil­der, aber seit den Ereig­nis­sen vom Herbst 2017 jen­seits der Pyre­nä­en wird auch hier öfters die Tri­co­lo­re durch die gelb-rot-gestreif­te Fah­ne ersetzt.

Wie in ganz Frank­reich wer­den auch hier die die wich­ti­gen Ver­kehrs­ach­sen von den Gel­ben Westen an den Zahl­stel­len blockiert. Auf der A 9, wel­che Bar­ce­lo­na mit Süd­frank­reich ver­bin­det, rol­len jeden Tag hun­der­te von LKWs von und nach Spa­ni­en. Vor allem in Le Bou­lou, dem fran­zö­si­schen Grenz­ort, blockiert die gel­be Bewe­gung jedes Wochen­en­de die dor­ti­ge Maut­stel­le. Aber auch zu den in Frank­reich sehr zahl­rei­chen Kreis­ver­kehrs­in­seln kom­men immer wie­der spon­tan Leu­te aus der Umge­bung und holen ihre Warn­we­ste aus dem Kof­fer­raum. Im über 1000 Meter hoch gele­ge­nen Bourg-Madame direkt an der spa­ni­schen Gren­ze haben sich Rent­ner und pre­kär Beschäf­tig­te getrof­fen, um ihre Situa­ti­on vor den Fern­seh­ka­me­ras zu erklä­ren: »Man hat nicht nur das Gefühl, dass die Mäch­ti­gen uns nicht zuhö­ren, son­dern dass sie sich sogar denen gegen­über, die sich um das Leben in der Regi­on küm­mern, feind­lich ver­hal­ten. Wir erle­ben, dass eine öffent­li­che Ein­rich­tung nach der ande­ren schließt: Poli­zei­wa­chen, Post- und Finanz­äm­ter. Wir sagen Stopp, und wir wol­len, über eine Lohn­er­hö­hung hin­aus, eine poli­ti­sche Kehrt­wen­de.« (https://www.youtube.com/watch?v=IKGIJ55E7HE9)

Die lan­ge hin­aus­ge­zö­ger­te Anspra­che des fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten vom 10. Dezem­ber 2018 hat­te nicht die gewünsch­te Wir­kung: 70 Pro­zent der Fran­zo­sen ste­hen auch nach Macrons Rede hin­ter den Gel­ben Westen. Macrons klei­ne Zuge­ständ­nis­se – etwa ein höhe­rer Min­dest­lohn und die Steu­er­frei­heit für klei­ne Ren­ten sowie steu­er­freie Über­stun­den, aber kei­ne Wie­der­ein­füh­rung der Ver­mö­gens­steu­er – waren für die neo­li­be­ra­le EU den­noch ein Schock. Wür­de Frank­reich jetzt auch die Defi­zit­gren­ze über­schrei­ten? Schnell war aus­ge­rech­net, was die »Wohl­ta­ten« des Prä­si­den­ten kosten wür­den: zehn Mil­li­ar­den! Die euro­päi­sche Finanz­eli­te war sicht­lich ent­täuscht von ihrem Muster­schü­ler. In den Leit­me­di­en ver­such­te man, die merk­wür­di­gen Gelb­we­sten zu ver­or­ten: Links- oder rechts­ra­di­kal? Und vor allem: Wer sind die Anfüh­rer? Doch wenn man die Leu­te vor die Mikro­fo­ne bekam, sah man immer jemand anderes.

Die Staats­macht tat das, was sie immer tut, wenn der Pöbel auf­be­gehrt: Schlag­stock, Trä­nen­gas, Blend­gra­na­ten, Gum­mi­ge­schos­se, Ver­haf­tun­gen. Aber auch die Poli­zi­sten, in Frank­reich wie über­all eher rechts bis rechts­ra­di­kal ein­ge­stellt, droh­ten mit Streik. Die wochen­lan­ge Dau­er­mo­bi­li­sie­rung hat­te das ohne­hin erschöpf­te Über­stun­den­kon­tin­gent end­gül­tig zum Plat­zen gebracht. Am 19. Dezem­ber wur­de zum Dienst nach Vor­schrift auf­ge­ru­fen, auf den Flug­hä­fen bil­de­ten sich lan­ge Warteschlangen.

Innen­mi­ni­ster Casta­ner reagier­te sofort: 274 Mil­lio­nen Euro wur­den sofort bereit­ge­stellt, um die seit Jah­ren ange­häuf­ten Über­stun­den abzu­gel­ten, für den hel­den­haf­ten Ein­satz gegen die Gelb­we­sten soll es zusätz­lich eine Prä­mie von 300 Euro geben. Aber es gibt unter Poli­zi­sten bereits eine Bewe­gung außer­halb der Poli­zei­ge­werk­schaft, die sich in Anleh­nung an die »Gilets jau­nes« »Gyros bleus« (Blau­lich­ter) nennt und wei­ter­ge­hen­de For­de­run­gen hat.

Kurz vor Weih­nach­ten, am 22. Dezem­ber, blockier­ten die Gel­ben Westen vor allem die Grenz­über­gän­ge zu den Nach­bar­län­dern. Meh­re­re hun­dert Demon­stran­ten ver­sperr­ten wie­der die Maut­stel­le Le Bou­lou nach Spa­ni­en, unter­stützt von der kata­la­ni­schen Unab­hän­gig­keits­be­we­gung. Ins­ge­samt war jedoch die Mobi­li­sie­rung kurz vor den Fei­er­ta­gen weni­ger stark. Doch man soll­te sich nicht täu­schen: Eine gel­be Weste kann sich jeder schnell besor­gen, und in ganz Euro­pa bis in die Tür­kei hat die­se Bewe­gung der klei­nen Leu­te Nach­ah­mer gefun­den. Natür­lich wird es je nach den von geschicht­li­chen Erfah­run­gen gepräg­ten Men­ta­li­tä­ten ver­schie­de­ne For­men des Wider­stands geben, aber die neue Pro­test­be­we­gung ist immer weni­ger gewillt, ihre For­de­run­gen an Par­tei- und Gewerk­schafts­funk­tio­nä­re zu dele­gie­ren und setzt auf spon­ta­nen krea­ti­ven Wider­stand. Dort, wo man sich noch kennt, in den Dör­fern und Stadt­vier­teln, am Arbeits­platz oder im Senio­ren­treff wehrt man sich gegen Ver­ein­ze­lung und die Spar­maß­nah­men der Regie­ren­den. Das aus­ge­höhl­te Wort Demo­kra­tie könn­te sich wie­der mit Leben füllen.