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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Brexit ist gleich …?

Brexit ist gleich Höl­le, hät­te wohl der einst her­aus­ra­gen­de Akteur im lite­ra­ri­schen Leben Eng­lands, der legen­dä­re Gelehr­te Samu­el John­son (1709 – 1784), befun­den und tröst­lich hin­zu­ge­fügt, der Weg dort­hin sei »mit guten Vor­sät­zen gepfla­stert«. Aus rein logi­scher Sicht ist Brexit jeden­falls gleich Ver­lust von Ein­fluss, schließ­lich sind vie­le Län­der zusam­men grö­ßer und ein­fluss­rei­cher als eines allein. Den­noch beschwö­ren füh­ren­de Brexi­te­ers aus Poli­tik und Wirt­schaft nebst der ein­fluss­rei­chen bri­ti­schen Bou­le­vard­pres­se jeden Tag aufs Neue, Groß­bri­tan­ni­en wäre zukünf­tig bes­ser außer­halb als inner­halb der EU auf­ge­ho­ben. Tim Mar­tin zum Bei­spiel, Chef der Unter­neh­mens­grup­pe Wethers­poon, die 880 Pubs betreibt, drängt auf den Aus­tritt aus der EU und vor allem aus der Zoll­uni­on und dem Bin­nen­markt. Er behaup­tet, nur dann kön­ne er die Prei­se in sei­nen Pubs deut­lich redu­zie­ren. Die wöchent­lich gut zwei Mil­lio­nen Besu­cher sei­ner Knei­pen fin­den dort gegen­wär­tig Bier­deckel vor, auf denen er mit dem Wethers­poon Mani­festo für den kom­pro­miss­lo­sen Brexit wirbt. Übri­gens auch für die umge­hen­de bür­ger­recht­li­che Aner­ken­nung aller bis­he­ri­gen EU-Immi­gran­ten – vor allem die ost­eu­ro­päi­schen Bil­lig­ar­beits­kräf­te möch­te Tim Mar­tin offen­bar nicht mis­sen. Deut­sche und ande­re Bie­re, Wei­ne und Spi­ri­tuo­sen aus den EU-Mit­glieds­staa­ten aber schon. Sie wer­den in Wethers­poon-Pubs nicht mehr angeboten.

Brexit ist gleich 14 Not­fall­maß­nah­men der EU für einen unge­ord­ne­ten Aus­tritt (No Deal) Groß­bri­tan­ni­ens, die »schwer­wie­gen­de Aus­wir­kun­gen auf Bür­ger und Unter­neh­men« abfe­dern sol­len. Sie lie­gen als Lek­tü­re auch den Abge­ord­ne­ten im bri­ti­schen Par­la­ment vor, sozu­sa­gen als Ermun­te­rung, dem mit The­re­sa May aus­ge­han­del­ten Aus­stiegs­ab­kom­men in die­sem Janu­ar völ­lig uner­war­tet doch zuzu­stim­men. Am 30. Novem­ber 2018 ver­öf­fent­lich­te das Bri­ti­sche Unter­haus eine Hand­rei­chung für die Par­la­men­ta­ri­er, die aktu­el­le Sta­ti­sti­ken über die Han­dels­be­zie­hun­gen des König­reichs beinhal­tet (Com­mons Libra­ry Brie­fing). Dar­in wird deut­lich, dass die EU-Mit­glieds­staa­ten ins­ge­samt der größ­te Han­dels­part­ner sind. Die bri­ti­schen Expor­te in die EU belie­fen sich 2017 auf 44,5 Pro­zent, die Impor­te aus der EU auf 53,1 Pro­zent. Aller­dings hat sich der Han­del mit der EU seit dem Beginn des 21. Jahr­hun­derts ten­den­zi­ell ver­rin­gert – im Export um über zehn Pro­zent, im Import um gut acht Pro­zent. 2017 betrug das Han­dels­de­fi­zit der Bri­ten mit der Uni­on 67 Mil­li­ar­den Pfund.

Brexit ist gleich die Mehr­heit der – wohl­ge­merkt: eng­li­schen – Bevöl­ke­rung, die sich 2016 für ihn aus­sprach. War­um, ist ange­sichts des vor­teil­haf­ten Son­der­sta­tus, den das König­reich genoss und noch genießt, alles ande­re als leicht nach­voll­zieh­bar. So hat kein ande­rer EU-Mit­glieds­staat mehr »Opt-outs« zu Buche ste­hen als das König­reich. Es pro­fi­tiert von dem von Mar­ga­ret That­cher erpress­ten Bei­trags­ra­batt, nimmt nicht an der Justiz- und Innen­po­li­tik der Uni­on teil, ist kein Mit­glied des den Güter- und Rei­se­ver­kehr erleich­tern­den Schen­gen­raums und (wie auch Däne­mark) nicht gezwun­gen, jemals den Euro ein­zu­füh­ren. An die in den EU-Ver­trä­gen fixier­te »Char­ta der Grund­rech­te der Euro­päi­schen Uni­on« hat sich das König­reich schon gar nicht gebun­den. Und zwar nicht zuletzt, weil es die Fest­le­gung auf das »immer enge­re« in deren Prä­am­bel ablehnt: »Die Völ­ker Euro­pas sind ent­schlos­sen, auf der Grund­la­ge gemein­sa­mer Wer­te eine fried­li­che Zukunft zu tei­len, indem sie sich zu einer immer enge­ren Uni­on ver­bin­den.« Hin­zu kommt: Kein ande­rer Mit­glieds­staat hat mit sei­nen Son­der­wün­schen so vie­le EU-Gip­fel domi­niert und so viel Arbeits­zeit gebun­den wie das Reich von Köni­gin Eli­sa­beth II. War­um also stimm­te eine Mehr­heit der Bri­ten in Eng­land und Wales – in Schott­land und Nord­ir­land domi­nie­ren die EU-Anhän­ger – für den Brexit? Sicher­lich nicht, weil sie sich in die Höl­le wünschte.

Brexit ist gleich weni­ger Wohl­stand. Aller­dings geht es mit ihm für gro­ße Tei­le der bri­ti­schen Arbei­ter­klas­se bereits seit 1979 berg­ab, als Mar­ga­ret That­cher das Heft in die Hand nahm. Wäh­rend der elf Jah­re, die die »eiser­ne Lady« im Amt war, wur­den Pri­va­ti­sie­run­gen und Dere­gu­lie­run­gen mas­siv vor­an­ge­trie­ben, die Gewerk­schaf­ten hart bekämpft und geschwächt. Das König­reich zahl­te dafür einen hohen Preis. So nahm die gesell­schaft­li­che Ungleich­heit stark zu, leb­ten um 1995 drei­mal mehr Men­schen in rela­ti­ver Armut als vor 1979. Seit­dem auf die in Groß­bri­tan­ni­en um 2008 beson­ders hef­tig wüten­de Finanz­kri­se eine von Tories und Libe­ral­de­mo­kra­ten exer­zier­te Austeri­täts­po­li­tik folg­te, geht es für vie­le Bri­ten noch stei­ler berg­ab. In Fol­ge der dra­ko­ni­schen Kür­zung der Staats­aus­ga­ben wur­den ins­be­son­de­re in den ohne­hin not­lei­den­den Regio­nen mehr als die Hälf­te der Jugend­clubs, Biblio­the­ken und Betreu­ungs­ein­rich­tun­gen wegen Geld­man­gel geschlos­sen. Einem jüngst publi­zier­ten Bericht der Denk­fa­brik IPPR zufol­ge leben im seit lan­gem ver­nach­läs­sig­ten Nor­den Eng­lands bereits mehr als zwei Mil­lio­nen Erwach­se­ne und eine Mil­li­on Kin­der in Armut, sind die Wochen­löh­ne seit 2008 deut­lich gefal­len und arbei­tet eine hal­be Mil­li­on Men­schen in Dienst­lei­stungs­jobs, die gera­de ein­mal die Hälf­te des natio­na­len Lohn­durch­schnitts errei­chen (https://www.ippr.org). Laut dem Gewerk­schafts­dach­ver­band TUC hat ein durch­schnitt­li­cher Arbeit­neh­mer seit 2008 einen Real­lohn­ver­lust von 11.800 Pfund hin­neh­men müs­sen. Gene­rell ist die Kluft zwi­schen hohen und nied­ri­gen Ein­kom­men grö­ßer als im Durch­schnitt der EU-Mit­glieds­staa­ten. Zwar beläuft sich die bri­ti­sche Arbeits­lo­sen­quo­te offi­zi­ell auf ledig­lich vier Pro­zent, da aber gut 15 Pro­zent der arbei­ten­den Bri­ten zum sozi­al und kul­tu­rell stark benach­tei­lig­ten Pre­ka­ri­at gehö­ren – mit einem durch­schnitt­li­chen Brut­to­jah­res­ein­kom­men von besten­falls 8000 Pfund und kei­nen Erspar­nis­sen – blei­ben sie arbei­tend arm und ver­län­gern die Schlan­gen vor den Sup­pen­kü­chen. Der Trus­sell Trust – gemein­nüt­zi­ger Betrei­ber eines Net­zes von 428 Lebens­mit­tel­ta­feln, die übrig­ge­blie­be­nes und gespen­de­tes Essen an gemel­de­te Bedürf­ti­ge ver­tei­len – hat zwi­schen April 2017 und März 2018 mehr als 1,3 Mil­lio­nen Drei-Tages-Not­ra­tio­nen ver­teilt, davon 484.000 an Kin­der. Das waren gut 13 Pro­zent mehr als in der Peri­ode davor (https://www.trusselltrust.org).

Brexit ist gleich Klas­sen­ge­sell­schaft. Die dar­ben­den drei unte­ren Klas­sen im König­reich ver­sam­meln laut dem Equa­li­ty Trust fast die Hälf­te der Bevöl­ke­rung. Eben des­halb steigt seit eini­gen Jah­ren die Zahl ver­arm­ter Kin­der um etwa hun­dert­tau­send per annum (als arm wird ein Kind gewer­tet, wenn es in Fami­li­en mit einem Jah­res­ein­kom­men von weni­ger als 15.000 Pfund lebt; vgl. https://www.equalitytrust.org.uk). Ende 2018 leb­ten laut der Orga­ni­sa­ti­on End Child Pover­ty 30 Pro­zent aller Kin­der unter der Armuts­gren­ze (https://www.endchildpoverty.org.uk). Obwohl das Ver­ei­nig­te König­reich als fünft­größ­te Volks­wirt­schaft und momen­tan zehnt­reich­stes Land der Welt figu­riert, pran­ger­te im Novem­ber 2018 Phil­ip Als­ton, der UN-Son­der­be­richt­erstat­ter für extre­me Armut, die Tory-Regie­rung ob ihrer »unmensch­li­chen Poli­tik« an. Seit 2010, ver­deut­lich­te er, habe sie Sozi­al­staats­kür­zun­gen in Höhe von fast 40 Mil­li­ar­den Pfund vor­ge­nom­men. Schlim­mer noch, sie ver­leug­ne die Ver­wü­stung, die sie in der Gesell­schaft ange­rich­tet habe (vgl. New York Times, 16.11.2018).

Brexit ist gleich Austeri­täts­po­li­tik. Zur bri­ti­schen gehört nicht zuletzt die bis­lang kaum bekämpf­te Woh­nungs­not – mehr als 320 000 Men­schen sind nach Schät­zun­gen der Wohl­fahrts­or­ga­ni­sa­ti­on Shel­ter obdach­los. Am Jah­res­en­de hat­ten 131.000 Kin­der kein Dach über dem Kopf (vgl. https://www.shelter.org.uk). Dar­über hin­aus sind die bri­ti­schen Haus­hal­te hoch ver­schul­det und frisst die durch den enor­men Fall des Pfund Ster­ling getrie­be­ne Infla­ti­on selbst die – teils hart erkämpf­ten – Lohn­zu­wäch­se auf. Zudem ver­hin­dert die aus­ge­präg­te Klas­sen­ge­sell­schaft den sozia­len Auf­stieg und zieht eine krass unter­schied­li­che Lebens­er­war­tung nach sich – zwi­schen dem Süden und Nor­den, aber auch zwi­schen Stadt­vier­teln. Im ärme­ren Teil des Lon­do­ner Stadt­teils Southwark etwa ist sie gegen­wär­tig sie­ben Jah­re kür­zer als im wohl­ha­ben­de­ren. Lei­der nimmt die seit Jah­ren staat­lich for­cier­te Kri­se des – aus Steu­er­gel­dern finan­zier­ten – bri­ti­schen Gesund­heits­sy­stems, des inzwi­schen schon 70 Jah­re exi­stie­ren­den NHS, auch kein Ende. Not­fall-Ambu­lan­zen, in denen Ver­letz­te bis zu zwölf Stun­den auf einen Arzt war­ten müs­sen, vie­ler­orts feh­len­des und erschöpf­tes Per­so­nal in den Kran­ken­häu­sern und viel zu vie­le ver­zwei­fel­te Pati­en­ten sind sozu­sa­gen der Normalfall.

Brexit ist gleich Hope and Glo­ry? Ein – wie mit der legen­dä­ren Hym­ne besun­ge­nes – Land der Hoff­nung und des Ruh­mes wird Groß­bri­tan­ni­en zwei­fel­los so schnell nicht wie­der wer­den. Dafür ist in der Fra­ge des Brexit die aus­ge­präg­te Klas­sen­ge­sell­schaft viel zu extrem gespal­ten. Soll­te der Aus­stieg aus der EU am 29. März 2019 oder – wie man­che Poli­ti­ker erwä­gen – um eini­ge Mona­te ver­spä­tet tat­säch­lich voll­zo­gen wer­den, womög­lich sogar ohne einen »Deal«, könn­ten schlimm­sten­falls sogar die Tage des ver­ei­nig­ten König­reichs gezählt sein, der schot­ti­sche Wunsch nach Unab­hän­gig­keit in eine erneu­te Abstim­mung mün­den. Zur Erin­ne­rung: Am 18. Sep­tem­ber 2014 hat­ten rund 55 Pro­zent der jen­seits des von den Römern errich­te­ten Hadri­ans­walls leben­den Wäh­ler die Fra­ge: »Soll Schott­land ein unab­hän­gi­ger Staat sein?« noch mit NEIN beantwortet.

Bevor ich es ver­ges­se. Brexit ist gleich Visums­pflicht. Einem Ent­wurf des Innen­mi­ni­ste­ri­ums zufol­ge sol­len nach dem Brexit EU-Bür­ger nicht bes­ser behan­delt wer­den als Migran­ten aus ande­ren Gegen­den der Welt. Für einen Job in Groß­bri­tan­ni­en wird unser­eins dann zwin­gend ein Visum benö­ti­gen – Hoch­qua­li­fi­zier­te natür­lich ausgenommen …