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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein großes Werk

»Rumps!« soll­te es, so wünscht sich jeder, der den ratio­na­len Streit als Mut­ter der Wis­sen­schaft schätzt, gemacht haben in den Volks­wirt­schafts­in­sti­tu­ten von Kiel bis Mün­chen, nach­dem der den Ossietzky-Lesern gut bekann­te Pro­fes­sor Heinz Josef Bon­trup nach Abschluss sei­ner offi­zi­el­len Lehr­tä­tig­keit an der West­fä­li­schen Hoch­schu­le zusam­men mit dem wei­ter­hin dort täti­gen Pro­fes­sor Ralf-Micha­el Mar­quardt sei­ne »Ein­füh­rung« in die »Volks­wirt­schafts­leh­re aus ortho­do­xer und hete­ro­do­xer Sicht« auf die Tische der Häu­ser geknallt hat. Tau­send eng bedruck­te groß­for­ma­ti­ge Sei­ten haben die Autoren gefüllt. Aber nicht nur quan­ti­ta­tiv ist das ein gro­ßes Werk gewor­den, son­dern auch qua­li­ta­tiv. Es gibt im deut­schen Sprach­raum kei­ne Ein­füh­rung für Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten der Volks­wirt­schafts­leh­re, in dem so kon­zen­triert, kom­pri­miert und gleich­zei­tig im besten hum­boldt­schen Sin­ne umfas­send der gegen­wär­ti­ge Stand der hie­si­gen Volks­wirt­schafts­leh­re (VWL) refe­riert und gleich­zei­tig kri­tisch reflek­tiert wird.

Gleich zu Beginn bre­chen die bei­den eine Lan­ze dafür, die VWL nicht mehr gestelzt als Natur­wis­sen­schaft und bis zur Unkennt­lich­keit mathe­ma­ti­siert miss­zu­ver­ste­hen, son­dern als Sozi­al­wis­sen­schaft, die erklä­ren soll, wie und war­um Men­schen – mit ihren unter­schied­li­chen sozia­len Inter­es­sen – öko­no­misch und poli­tisch han­deln. Auf die­ser klä­ren­den Grund­la­ge wer­den im Anschluss sowohl die domi­nie­ren­de Mikro- als auch die Makro­öko­no­mie erläutert.

In den kri­ti­schen Anmer­kun­gen fin­den nicht nur Autoren wie John May­nard Keynes oder Eli­nor Ost­rom den ihnen gebüh­ren­den Platz, son­dern mit einem eige­nen Unter­ka­pi­tel auch die Marx’sche Lehre.

Wer glaubt, es han­de­le sich hier um eine Kampf­an­sa­ge, die ledig­lich in den Elfen­bein­tür­men rele­vant sei, irrt. Die Aus­füh­run­gen von Bon­trup und Mar­quardt haben ganz prak­ti­sche Kon­se­quen­zen für lau­fen­de poli­ti­sche Debat­ten. Gene­ra­tio­nen von »Grü­nen« bei­spiels­wei­se sind groß­ge­wor­den in der festen Über­zeu­gung, Kon­su­men­ten hät­ten eine Ver­brau­cher­macht, die kol­lek­tiv ein­ge­setzt den Kon­zer­nen Gren­zen set­zen könn­te. Sau­ber her­ge­lei­tet wird dem mit einem Zitat von John Ken­neth Gal­braith ent­ge­gen­ge­setzt: »Der Glau­be an eine Markt­wirt­schaft mit sou­ve­rä­nen Ver­brau­chern ist eine der am wei­te­sten ver­brei­te­ten For­men der Täu­schung. Wer wür­de es schon wagen, ohne geziel­te Beein­flus­sung der Ver­brau­cher Waren auf den Markt zu brin­gen« (S. 393). Die Kon­su­men­ten sind eben, wie es schon in den ein­lei­ten­den Bemer­kun­gen heißt, »kei­ne sou­ve­rä­nen Akteu­re, son­dern allein das Objekt der Kapi­ta­li­sten­in­ter­es­sen« (S. XV).

Hilf­reich auch für Auto­di­dak­ten und nicht nur für die­je­ni­gen aus den Lehr­kör­pern der Uni­ver­si­tä­ten und Hoch­schu­len, die das Buch in ihren Semi­na­ren ein­set­zen, sind die immer wie­der ein­ge­streu­ten Auf­ga­ben, an denen sich das Ver­ständ­nis der ver­mit­tel­ten Inhal­te über­prü­fen lässt. Wer bei­spiels­wei­se bei der Fra­ge »Wie kommt es theo­re­tisch zum ten­den­zi­el­len Fall der Pro­fi­tra­te?« (S. 405) zögert, dem hilft die Lek­tü­re des Kapi­tels 3.5 (Arbeit und Arbeitsmärkte).

Zu befürch­ten ist aller­dings, dass es bei vie­len Leh­ren­den nicht »Rumps!« gemacht hat, son­dern dass die­ses »Fun­da­men­tal­werk«, wie es Rudolf Hickel in sei­nem aus­ge­zeich­ne­ten Vor­wort nennt, unge­le­sen in die Biblio­the­ken ver­scho­ben wird. Wenn es aber gelän­ge, die­ses Lehr­buch zum Arbeits­buch für künf­ti­ge Volks- und Betriebs­wir­te zu machen, wäre für die­ses Land viel gewon­nen. Dann gibt es hof­fent­lich wei­te­re Auflagen.

Für eine zwei­te gäbe es vom Rezen­sen­ten zwei Wün­sche: Abge­schlos­sen wur­de das Werk vor dem aktu­el­len infla­tio­nä­ren Schub, von dem immer weni­ger zu behaup­ten wagen, er sei nur vor­über­ge­hend. Der von Bontrup/​Marquardt kurz auf­ge­führ­te Ansatz, ursäch­lich für Infla­ti­ons­schü­be könn­ten auch dau­er­haft höhe­re Pro­duk­ti­ons­ko­sten sein (S. 560), soll­te ange­sichts der Erup­tio­nen der Welt­wirt­schaft in den 20er Jah­ren die­ses Jahr­hun­derts ver­tieft wer­den. Und so lobens­wert es ist, der »Plan­wirt­schaft der DDR« einen eige­nen Abschnitt ein­zu­räu­men, so irri­tie­rend ist es doch, in die­sem Kapi­tel das Schwer­ge­wicht auf die letz­ten bei­den Jah­re der DDR zu legen, aber das »Neue Öko­no­mi­sche System« (NÖS) aus der Ära Wal­ter Ulb­richt nur mit weni­gen Sät­zen zu erwähnen.

Die­ses NÖS genau­er zu betrach­ten, wür­de auch hel­fen, der – wagen wir ein­mal zu träu­men – zehn­ten Auf­la­ge bereits jetzt einen Hin­weis auf den lan­gen Arbeits­weg zu geben. Das über vier­zig Sei­ten lan­ge Lite­ra­tur­ver­zeich­nis umfasst nahe­zu aus­schließ­lich deutsch- oder eng­lisch­spra­chi­ge Titel. Das Durch­ar­bei­ten die­ser bei­den Sprach­räu­me mag mit dem Blick auf die bri­tisch-US-ame­ri­ka­ni­sche Domi­nanz im 19. und 20. Jahr­hun­dert gerecht­fer­tigt sein, auch wenn fran­zö­si­sche oder spa­ni­sche Wer­ke damit teil­wei­se zu Unrecht in die zwei­te Rei­he rut­schen. Aber so wie es heut­zu­ta­ge unmög­lich ist, wis­sen­schaft­lich ohne Kennt­nis der eng­li­schen Spra­che wei­ter­zu­kom­men, so wird es schon in zwan­zig Jah­ren unmög­lich sein, öko­no­mi­sche Stu­di­en ohne Kennt­nis der Ori­gi­nal­ar­bei­ten aus der chi­ne­si­schen Wis­sen­schaft zu betrei­ben. Wer dies tut, wird schon jetzt dort inten­si­ve Arbei­ten über Lenins »Neue Öko­no­mi­sche Poli­tik« (NÖP) und eben das schon erwähn­te NÖS fin­den, deren inten­si­ves Stu­di­um in den dor­ti­gen Uni­ver­si­tä­ten als ein Schlüs­sel für die posi­ti­ve Ent­wick­lung die­ser Volks­wirt­schaft nach 1989 aus­ge­wer­tet und ange­se­hen wird. Das könn­te dann in einer zehn­ten Auf­la­ge ein eige­nes Kapi­tel werden.

Heinz-J. Bon­trup, Ralf-M. Mar­quardt, Volks­wirt­schafts­leh­re aus ortho­do­xer und hete­ro­do­xer Sicht, Eine Ein­füh­rung, Berlin/​Boston 2021, 1024 S., 39,95 .