Trotz starker sozialer Verwerfungen hat es die allgemeine Wohlfahrt mit sich gebracht, dass sich die Lebenserwartung der Bundesbürger in den zurückliegenden Jahrzehnten deutlich erhöhen konnte. So hat sich der Bevölkerungsanteil der über 80-Jährigen während der vergangenen 40 Jahre mehr als verdoppelt. Das ist genau jenes Segment, das zunehmend in den Fokus von Gewinnspielunternehmen gerät.
»Ich habe gewonnen. Dieses Mal ganz bestimmt.« Ganz aufgeregt und schwer atmend stand die uns seit Jahrzehnten gut bekannte 90-Jährige an der Haustür. Die Besucherin ist alleinstehend und unbescholten. Sie lebt von einer bescheidenen Rente und kann noch mit beiden Beinen, mit dem rechten allerdings etwas fester als mit dem linken, auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Ordnung stehen. Ihr Traum von einem Mann an ihrer Seite, möglichst gutaussehend und aus dem »Westen«, hat sich nicht erfüllen lassen. Trotz ihres eingeschränkten Sehvermögens vergeht keine Woche, ohne dass sie ihr argloses und schlichtes Bild von dieser Welt in den Hochglanzfotos einer bunten Illustrierten bestätigt sieht.
Wieder normale Atmungsfrequenz erlangt, präsentierte die glückliche »Gewinnerin« ein per »dokumentierter Zustellung« von »offiziell bestätigten Versandstellen« an die »Liebe Frau S.« gerichtetes, amtlich erscheinendes Schreiben mit »wichtigen, termingebundenen Unterlagen«. Darin enthalten die »persönlich zugeteilte« frohe Botschaft: »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Garantie-Gewinn«. Natürlich steuerfrei und vererbbar. Dazu gibt es noch als »offizielle« Sonderzuteilung eine »spezielle Jubiläums-Chance« für eine Luxuskarosse, eine tolle Reise oder eine exquisite Immobilie. Besondere Vorfreude hatte bei ihr die »Spielberechtigung« für eine Sofortrente ausgelöst, für die vorsorglich ein Überweisungsformular mitgeliefert worden war. Alles zu haben für Loseinsätze ab 10 € je Monat. Man brauche nur noch das beigefügte Formular für den SEPA-Lastschrifteinzug zu unterschreiben und – ganz wichtig – heute noch abzuschicken.
Da wir uns zu diesem »Glück« sehr reserviert und eher abratend verhielten, verwandelte sich die Euphorie unserer Besucherin alsbald in Unverständnis, Ärger und beleidigten Abgang. Allerdings hatten wir dieses Drama bereits mehrfach durchstehen müssen. Und es bestand kein Zweifel, dass unsere Bekannte derartigen Halluzinationen wie eine Drogenabhängige praktisch hilflos ausgeliefert war. Also blieben uns Wiederholungsakte solcher Szenen nicht erspart. Immerhin war es interessant zu erleben, mit welcher Hartnäckigkeit und Intensität Gewinnspielbetreiber ihre Klientel zu bearbeiten pflegen. Die wird geradezu bombardiert mit einer verwirrenden Flut von Angeboten und Versprechungen für »staatlich garantierte stündliche Gewinne« beträchtlicher Geldbeträge, tägliche Sofort-Renten, Traumreisen, edle Sachwerte oder »kostenlose Glückstage«. Dazu gehören verlockende Offerten für »Jubiläums-Bestellscheine« und die Teilnahme an »Millionenspielen«, oder die dringende Registrierungsempfehlung für »Joker-Pässe« betreffend die Ziehung »streng limitierter« Lose. Um Seriosität zu dokumentieren, kann sich der Mitspieler »amtliche« Gewinnlisten zustellen lassen. Überhaupt ist fast alles »amtlich«. Das Ganze wird in professionell aufgemachten, mehrfarbigen und in rascher Folge eintreffenden Botschaften mit verwirrender, schwer zu durchschauender Informationsdichte präsentiert. Im Vergleich zu solchen Werbematerialien liest sich die Packungsbeilage aus einer Medikamentenschachtel wie ein Kindermärchen.
Nun ist im Prinzip gegen die Teilnahme an Gewinnspielen, sofern sie nicht verboten sind und sich Kunden finden, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind und willentlich den sehr wahrscheinlichen Verlust ihrer Einlagen verschmerzen können, nichts einzuwenden. Wenn sich die Akquisition jedoch gezielt an ältere, insbesondere hilfebedürftige und alleinstehende Menschen, die die Risiken solcher Engagements gar nicht einschätzen können, richtet, dann ist das ein schamloses Geschäftsgebaren. Leider kann dieser Unanständigkeit wohl nur mit Zuwendung und geduldiger Aufklärung der Betroffenen entgegengetreten werden.
Inzwischen hat unsere Freundin nicht davon ablassen können, sich mit mindestens einer Monatsrente an den Einnahmen verschiedener Lotterien zu beteiligen, natürlich ohne nennenswerte Rendite. Es hätte noch schlimmer kommen können.