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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zuschriften an die Lokalpresse

Es ist schon inter­es­sant zu beob­ach­ten, wie sich unse­rer Mut­ter­spra­che – par­don, unse­re Vater­spra­che natür­lich auch – im Lau­fe ihres Ge- oder Miss­brauchs fast täg­lich ver­än­dert. Das Voka­bu­lar spie­gelt gesell­schaft­li­che Ent­wick­lungs­pro­zes­se eben­so wider wie gestör­te inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen, poli­ti­sche Part­ner- und Geg­ner­schaf­ten und ist ein Grad­mes­ser für tech­ni­schen, wis­sen­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Fort­schritt oder für Sta­gna­ti­on, für die Gefähr­dung gan­zer Kon­ti­nen­te, des Erd­balls, der Mensch­heit und des Alls. Man muss es nur rich­tig inter­pre­tie­ren können.

Für einen wie mich, der noch die Süt­ter­lin­schrift mit­tels eines Grif­fels auf die Schie­fer­ta­fel kratz­te und aus des­sen gene­ra­ti­ons­er­fah­re­nem leder­nen Schul­ran­zen noch ein Lap­pen und ein Schwamm zur Säu­be­rung der Tafel bau­mel­ten, ist der Über­gang zu digi­ta­len Lehr- und Lern­mit­teln inklu­si­ve der damit ver­bun­de­nen Instru­men­ta­ri­en ein Qua­li­täts- und Quan­ten­sprung, der schwer zu beschrei­ben ist. Die dar­aus erwach­sen­den Dimen­sio­nen und der Umgang von gera­de mal dem Nuckel­al­ter ent­wach­se­nen Schlau­ber­gern mit Smart­phones, Com­pu­tern, Rech­nern, Han­dys und and­ren Digi­ta­li­sa­to­ren beschert den Alters­wei­sen ein Stau­nen nach dem ande­ren und wird auch nicht dadurch ent­la­stet, dass unser­ei­nem das auto­ma­ti­sier­te Ein­mal­eins durch­aus genügt, um den Preis von vier Ost­schrip­pen ohne die Zuhil­fe­nah­me von Goog­le und Apple zu ermitteln.

Allein die Ver­än­de­run­gen im Voka­bu­lar des Sprach­ge­brauchs sind gewal­tig, aber der aus­ge­reif­te oder her­an­wach­sen­de Bür­ger ent­wickelt hur­tig ein Gespür dafür. Es ist halt ein qua­li­ta­ti­ver Unter­schied, ob ein Prä­si­dent als »Prä­si­dent« oder als »Macht­ha­ber« in den Medi­en erscheint. Und wenn einer unse­rer Zeit­ge­nos­sen Mode­be­grif­fe wie »Nach­hal­tig­keit« nicht min­de­stens in jedem zwei­ten Satz zele­briert, muss man sich schon mal fra­gen, wel­cher Zeit der oder die Betref­fen­de eigent­lich zuzu­ord­nen ist. Ein wei­te­res Pro­blem scheint dar­in zu bestehen, dass sich die Spra­che immer weni­ger fest­le­gen will und sich ihre Sicher­heits­spiel­räu­me lässt. Es ist immer häu­fi­ger von gefühl­ten oder ver­mu­te­ten Erwar­tun­gen die Rede, und der Wahl­sonn­tag im Früh­herbst war ein gera­de­zu klas­si­scher Beleg dafür, dass Fak­ten von ange­nom­me­nen Resul­ta­ten oder von nicht erwar­te­ten Pro­blem­la­gen über­schat­tet wer­den. Ob es dabei um Kosten­ex­plo­sio­nen, um Per­so­nal­ver­schät­zun­gen, ums Par­tei­en­ger­an­gel oder um orga­ni­sa­to­ri­sche Fehl­lei­stun­gen geht, mag zweit­ran­gig sein – dass es so kommt, ist dage­gen so gewiss wie das Amen in der Kir­che oder der Bei­fuß im thü­rin­gi­schen Gän­se­bra­ten. Was soll man dazu sagen? Am besten »crin­ge«, auch wenn sich die­ses neue »Jugend­wort des Jah­res« noch nicht über­all ein­ge­bür­gert hat. – Frie­de­gund Deutsch­mei­ster (58), Prak­ti­kan­tin, Deutsch Wusterhausen