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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mentale Gräben

Vom 30. Juli bis zum 6. August 2022 fand in Ber­lin eine »Woche der Demo­kra­tie« statt. Künst­ler, Jour­na­li­sten, Ärz­te und Anwäl­te enga­gier­ten sich für Frei­heit, Selbst­be­stim­mung und Grund­rech­te. Hier folgt ein über­ar­bei­te­ter Aus­zug aus einer Rede der Schrift­stel­le­rin Kath­rin Schmidt:

Es ist ein Tag wie vie­le in die­sem Som­mer, die Son­ne lacht, und vor drei Jah­ren noch hät­ten wir uns in die­ser Wär­me womög­lich nicht mit­ten im stau­bi­gen Ber­lin zu einer Kund­ge­bung getrof­fen, statt an einem der Seen der bran­den­bur­gi­schen Umge­bung zu lie­gen oder ins Was­ser eines Ber­li­ner Frei­bads zu sprin­gen. Was treibt und zieht uns also zusam­men? Der Wunsch, zu spre­chen? Aber wor­über denn, höre ich Euch fra­gen. Es ist doch alles längst gesagt. Es hat reli­gi­ös-kul­ti­sche Züge ange­nom­men, auf wel­cher Sei­te des Gesell­schafts­gra­bens Du Dich befin­dest. Ihr seht hier mei­ne rech­te Hand: Ich strecke sie jedem ent­ge­gen. Es ist mir selbst­ver­ständ­lich, ich wur­de irgend­wie so erzo­gen. Und men­ta­le Grä­ben zäh­len im Moment des Ken­nen­ler­nens eines Men­schen für mich nicht. Den­noch habe ich das Gefühl, dass die­se mei­ne rech­te Hand geflis­sent­lich über­se­hen wird. Erst mal will das Gegen­über schon wis­sen, ob es unge­fähr­lich ist, mei­ne Hand zu ergrei­fen. Oder ob ich ein Gefähr­der bin. Für die einen ist schon ein Gefähr­der, wer unge­impft daher­kommt. Für die ande­ren ist es womög­lich eine ideo­lo­gi­sche Fra­ge: Glaubt sie, wovon ich über­zeugt bin? Anson­sten wird es schwer, ihr unge­fähr­det die Hand zu rei­chen. Es könn­te ja jemand zuschau­en, und über­haupt: Erst mal Distanz, Distanz …

Neu­lich war ich mit mei­nem Mann in einem Geschäft, um eine Hose für ihn zu kau­fen. Die Ver­käu­fe­rin, sehr freund­lich, stell­te den Staub­sauger bei­sei­te, den sie gera­de benutzt hat­te, um den bis zu unse­rem Ein­tre­ten lee­ren Laden zu rei­ni­gen. Sie ent­schul­dig­te sich, sag­te, sie sei gestern Abend nach Laden­schluss nicht mehr dazu gekom­men, das zu tun. Auf unse­re Ansa­ge, sie kön­ne ruhig wei­ter­ma­chen, wir wür­den uns ein biss­chen umse­hen, mein­te sie: »Oh nein, ich krie­ge es mit dem Chef zu tun, ich darf das nicht, wenn jemand im Laden ist.« Abge­se­hen davon, dass wir uns auf ein­mal wie Stö­rer vor­ka­men, die die Ver­käu­fe­rin von einer wich­ti­gen Tätig­keit abhiel­ten, ent­geg­ne­te mein Mann, dass dies sein erster Besuch in einem Geschäft seit über zwei Jah­ren sei, er brau­che ein­fach eine Hose und Zeit dafür. Die Ver­käu­fe­rin sah aus, als wol­le sie ihm ger­ne die Hand auf die Schul­ter legen, und sag­te mit besorg­tem Gesichts­aus­druck: »Oh ja, das ver­ste­he ich gut. In die­ser Bedro­hungs­la­ge geht man ja nicht ger­ne ein­kau­fen. Ich wün­sche Ihnen, dass sie gesund blei­ben!« Mein ver­dutz­ter Mann erwi­der­te: »Das ist aber jetzt ein Miss­ver­ständ­nis, denn ich bin in kei­nen Laden gegan­gen, weil ich kei­ne irgend­wie gear­te­te G-Regel oder das Mas­ke­t­ra­gen akzep­tie­ren kann!« Dann ver­zog er sich mit zwei Hosen in eine Kabi­ne. Und ehe ich mich’s ver­sah, hol­te die Ver­käu­fe­rin zu einem Mono­log aus, den ich nicht zu stop­pen imstan­de war, so oft ich es wenig­stens ver­such­te. Sie erzähl­te, sie sei vier­fach geimpft und den­noch fast an ihrer Coro­na-Erkran­kung gestor­ben; sie sei so froh, dass es die Imp­fung gibt, sonst hät­te sie den Löf­fel abge­ben müs­sen. Sie dis­ku­tie­re das nicht mit Kun­den, ihr ste­he das The­ma bis Ober­kan­te Hals­krau­se, man müs­se das The­ma außen vor las­sen – mit dem ich nun kei­nes­wegs ange­fan­gen hat­te, aber es vol­le Breit­sei­te abkrieg­te. Nichts ließ die Dame aus. Auch nicht, dass ihr Laden, ein Her­ren­aus­stat­ter im mitt­le­ren Preis­seg­ment, durch die Pan­de­mie und die damit ver­bun­de­nen Lock­downs stark gebeu­telt wor­den sei. Sie kön­ne nur hof­fen, dass das Geschäft irgend­wie über­le­be. Vie­le Kun­den sei­en in den Inter­net­han­del abge­wan­dert. Des­halb habe sie sich ja so gefreut, als wir das Geschäft betra­ten. Sie rede­te und rede­te, bis mein Mann aus der Kabi­ne trat: Die Hosen waren nicht die rich­ti­gen. Ich war froh, als wir den Laden verließen.

Was mir deut­lich in Erin­ne­rung blieb: Der Glau­be die­ser Frau an die eige­ne Räd­chen­haf­tig­keit. Nicht nur, dass sie an ihren Chef zu glau­ben hat­te, der ihr das Staub­saugen in Anwe­sen­heit von Kun­den unter­sag­te. Das Abwei­chen vom Kult­glau­ben an Pan­de­mie und Imp­fung schien ihr so unvor­stell­bar, so undenk­bar, dass sie einen Ein­wand nicht ein­mal in ihre Nähe gera­ten las­sen konn­te und mit einem gera­de­zu irren Rede­fluss irgend­ei­ne Äuße­rung von mir zu ver­hin­dern such­te. Aber ich hat­te nicht vor­ge­habt, mich zu äußern, und habe es auch nicht getan. Ich habe die Angst die­ser Frau ver­stan­den. Ich sah ihr an, dass das Abrücken vom Nar­ra­tiv, jeder Zwei­fel, ihre Welt in einer Wei­se ins Wan­ken brin­gen wür­de, die sie bedro­hen muss­te. Zwi­schen ihren Wor­ten mein­te ich immer wie­der zu hören: »Wir sind doch unten. Wir sind doch die Klei­nen, die nicht über­blicken kön­nen, was die Gro­ßen ent­schei­den.« Die­sem Ohn­machts­ge­fühl aus­ge­lie­fert braucht sie den Glau­ben, dass die Gro­ßen es hof­fent­lich, hof­fent­lich gut mit uns mei­nen. Und wenn wir uns schön an die Regeln hal­ten, machen wir wenig­stens kei­ne Feh­ler. Am Ende ihres Mono­logs stand es deut­lich im Raum: Ich habe wenig­stens nichts falsch gemacht. Wenn mei­ne Exi­stenz trotz­dem flö­ten geht, dann bin ich nicht schuld, son­dern ein Opfer. Ein Opfer der Pandemie.

Dass wir dann in einem Tchi­bo-Ramsch­la­den die nächst­be­ste Hose ohne Bera­tung kauf­ten, gehört nur schein­bar nicht zu die­ser Geschich­te. Eigent­lich hat­ten wir nach die­sem Erleb­nis schnellst­mög­lich nach Hau­se gewollt, aber eines hat­te die Ver­käu­fe­rin geschafft: Es soll­te kei­ne Inter­net-Hose wer­den. Im Nach­hin­ein dan­ke ich ihr, dass sie mich dar­an erin­nert hat.

Es gab in der Geschich­te Euro­pas und Nord­ame­ri­kas ein Zeit­al­ter, das das der Auf­klä­rung genannt wird. Im gesell­schafts­po­li­ti­schen Gefol­ge die­ser Auf­klä­rung kam es zu grö­ße­rer per­sön­li­cher Hand­lungs­frei­heit, zu einer grö­ße­ren Aner­ken­nung der Bil­dungs­not­wen­dig­keit für die Völ­ker, und es for­mier­ten sich die Rufer nach einem all­ge­mei­nen Men­schen­recht und einem Gemein­wohl als Staats­pflicht. Wir wähn­ten uns in unse­ren soge­nann­ten west­li­chen Demo­kra­tien wohl am Ziel die­ser Ent­wick­lung. Aber wir ver­dan­ken der Auf­klä­rung eben auch den Ratio­na­li­sie­rungs­ge­dan­ken, der heu­te in der neo­li­be­ra­len und glo­ba­li­sti­schen Aneig­nung der Welt durch die Reich­sten der Rei­chen, die Staats­gren­zen nur stö­ren kön­nen, einen unheil­vol­len Höhe­punkt fin­det. Auf der ande­ren Sei­te sehen sich vie­le Gei­stes­wis­sen­schaft­ler auch heu­te noch den Idea­len die­ser Auf­klä­rung ver­pflich­tet, die All­ge­mei­ne Erklä­rung der Men­schen­rech­te von 1948, beschlos­sen von den Ver­ein­ten Natio­nen, sei ein Beispiel.

Im All­tags­be­wusst­sein ist die Auf­klä­rung wohl etwas, was wir weit hin­ter uns wäh­nen. Was wir längst geschafft haben. Dabei den­ke ich, die Auf­klä­rung liegt wie­der ein­mal vor uns, denn das Ratio­na­le, das Argu­ment, ist käuf­lich gewor­den. Mit genü­gend Geld kann es auf­ge­pumpt oder weg­ge­drückt wer­den in der Öffent­lich­keit, wir erle­ben es alle Tage. Doch sei­ne Käuf­lich­keit ver­schwin­det in der Unsicht­bar­keit: Die Regie­run­gen haben die Zen­sur out­ges­ourct an pri­vat­wirt­schaft­li­che Kon­zer­ne und kön­nen sich weg­ducken, sind aber auf sehr intrans­pa­ren­te Wei­se natür­lich mit­ver­ant­wort­lich für die Zen­sur. Die ver­meint­li­che Wis­sen­schaft wie­der­um wird zum Kult, um den wir uns, Regie­rungs­ver­laut­ba­run­gen nach­be­tend, zu bewe­gen haben. Dabei sind unter den Men­schen, die das Kult­haf­te deut­lich in Fra­ge stel­len, auch vie­le Wis­sen­schaft­ler! Sie fin­den kein Gehör zwi­schen den moral­trie­fen­den Mono­lo­gen derer, die sich jen­seits des Gro­ßen Gra­bens befin­den. Hin­zu kommt, dass die­se sich deut­lich als Mehr­heit der Bevöl­ke­rung ver­ste­hen und es mit Min­der­hei­ten­rech­ten nicht mehr sehr ernst neh­men. Erin­nern wir uns: Das Ver­trau­en in eine kri­ti­sche Öffent­lich­keit war eine Grund­vor­aus­set­zung für die Vor­den­ker der Auf­klä­rung! Die Vor­macht­stel­lung des Finanz­ka­pi­ta­lis­mus will im Ver­bund mit Digi­tal­kon­zer­nen, die die Daten­grund­la­ge dafür lie­fern, eine kri­ti­sche Öffent­lich­keit nahe­zu unmög­lich machen. Hier kön­nen wir anset­zen, die kri­ti­sche Öffent­lich­keit ist unser Raum, den wir nicht ver­las­sen dür­fen! Auch des­halb ste­hen wir heu­te hier, in der Woche der Demo­kra­tie in Berlin.

Zum Schluss möch­te ich eine klei­ne Geschich­te erzäh­len, die mich eben­so gefreut wie erstaunt hat. Ich leb­te in der zwei­ten Hälf­te des Jah­res 2021 in Dres­den. Im Okto­ber saß ich, zunächst allein am Tisch, auf dem Dresd­ner Alt­markt bei einem Feder­wei­ßen. Eine Omi trat her­an, auch mit Feder­wei­ßem in der Hand, und frag­te, ob sie Platz neh­men dür­fe. Aber klar. Bald dar­auf kam eine zwei­te Omi hin­zu und setz­te sich eben­so. Die bei­den waren deut­lich anders geklei­det als ich, mit alt­ro­sa­far­be­nen Jacken über dezent gemu­ster­ten Blu­sen, die wei­ßen Haa­re sehr ordent­lich fri­siert. Es ent­spann sich ein Gespräch, das vom Dresd­ner Alt­markt über den Neu­markt zum Zwin­ger wan­der­te und dann bei Cana­let­to halt­mach­te, dem Maler, der nicht nur Dres­den mit sei­nen groß­for­ma­ti­gen Gemäl­den wenig­stens fürs Gedächt­nis vor der Zer­stö­rung bewahrt hat. Oh, da war ich dabei. Ich hat­te es immer geliebt, durch die Räu­me und Flu­re des Zwin­gers zu pil­gern und mich bei Cana­let­to auf­zu­hal­ten! Und die Omis waren bei­de im Besitz einer Dau­er­kar­te für den Zwin­ger. »Wol­len wir nicht näch­sten Sonn­tag gemein­sam hin­ge­hen?«, frag­te die zuletzt Hin­zu­ge­kom­me­ne. Nun war gera­de erneut die 2G-Regel in Kraft getre­ten, so dass ich noch über­leg­te, wie ich mei­ne Ver­hin­de­rung am besten preis­ge­ben kön­ne, als schon die ande­re sehr ruhig sag­te: »Nein, geht nicht. Ich bin nicht geimpft.« Erleich­tert schob ich ein »Ich auch nicht!« nach. Ver­wun­dert schau­te die Drit­te im Bun­de auf uns zwei Ver­rück­te. »Aber war­um denn nicht? Ich bin so glück­lich mit mei­ner Imp­fung, weil ich jetzt über­all wie­der rein kann!« Wie­der mein­te die als Erste in völ­li­ger Ruhe, ohne jede Spur von Auf­re­gung: »Das Imp­fen ist für mich die knall­har­te Durch­set­zung einer aus­schließ­lich poli­ti­schen Agen­da, das hat mit mei­ner Gesund­heit abso­lut nichts zu tun.«, und nahm noch einen Schluck. Ich stimm­te zu. Wir schwie­gen eine Wei­le. Dann sag­te wie­der­um die Ande­re: »Das habe ich ja noch nie von zwei so ver­nünf­tig wir­ken­den Frau­en gehört. Ich glau­be es auch nicht. Trotz­dem fand ich unser Gespräch sehr schön und freue mich, dass wir uns ken­nen­ge­lernt haben. Ich spen­die­re noch eine Run­de.« Wir kehr­ten zu Cana­let­to zurück.

Da zwei Feder­wei­ße für mich mehr als aus­rei­chend sind, stol­per­te ich spä­ter fast, als ich auf­stand. Wir ver­ab­schie­de­ten uns. Ich gab jeder der bei­den Damen die Hand. Die rech­te. Es fühl­te sich gut an.
 
Lite­ra­tur­hin­wei­se:
Koe­nigs Kin­der. Kie­pen­heu­er & Witsch, Köln 2002
Du stirbst nicht. Kie­pen­heu­er & Witsch, Köln 2009 
Kapoks Schwe­stern. Kie­pen­heu­er & Witsch, Köln 2016