Im Zuge einer teils ausufernden Antiterrorpolitik, ganz besonders nach 9/11, erlebten wir in den letzten Jahrzehnten auch hierzulande einen besorgniserregenden Wandel des demokratischen Rechtsstaats hin zu einem zunehmend entgrenzten Sicherheits-, Präventions- und Überwachungsstaat. Dabei dreht sich der moderne Sicherheitsdiskurs längst nicht mehr allein um Gesetzesverschärfungen, Einzelmaßnahmen und Aufrüstung einzelner Sicherheitsorgane. Die Rede ist vielmehr von »vernetzter Sicherheit« und einer »neuen Sicherheitsarchitektur«, also von Strukturveränderungen im Staatsgefüge, die angeblich notwendig seien, um Bedrohungen durch internationalen Terrorismus, islamistischen Extremismus, organisierte Kriminalität, Cyberattacken und asymmetrische Angriffe bewältigen zu können (https://www.baks.bund.de/).
Die »neue Sicherheitsarchitektur« basiert im Kern auf zwei gefährlichen Strukturveränderungen, die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte zudem als Tabubrüche bezeichnet werden können.
Erstens kommt es seit Jahren – neben der Militarisierung der Außenpolitik – zu einer schleichenden Militarisierung der »Inneren Sicherheit«; im Mittelpunkt steht dabei der Bundeswehreinsatz im Inland, der längst Realität ist – und zwar weitgehend unter Missachtung jener wichtigen Lehre aus der deutschen Geschichte, wonach Polizei und Militär, ihre Aufgaben und Befugnisse strikt zu trennen sind.
Zweitens kommt es zu einer problematischen Entgrenzung und Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten (also Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst, BND), die im Folgenden in ihren Grundzügen aufgezeigt werden sollen.
Die Polizei als Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörde in Bund und Ländern erlebt seit Jahren und Jahrzehnten einen tiefgreifenden Strukturwandel: Einerseits werden die polizeilichen Aufgaben und Befugnisse ständig ausgeweitet, andererseits nimmt die staatliche Kontroll- und Überwachungsdichte zu. Die Eingriffsbefugnisse der Polizei wurden und werden immer mehr ins weite Vorfeld möglicher Gefahren und denkbarer Straftaten vorverlagert. Auch kann man seit den 1990er Jahren von einer »Vergeheimdienstlichung« der Polizei sprechen, die mit einer verstärkten Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten einhergeht: So erhielten die Länder- und Bundespolizeien geheime Befugnisse zur Strafermittlung und Vorfeldausforschung. Dabei handelt es sich letztlich um »nachrichtendienstliche Mittel« wie Verdeckte Ermittler, die etwa in »extremistische« Szenen oder Bereiche der »Organisierten Kriminalität« eingeschleust werden; V-Leute, die aus kriminellen Milieus rekrutiert und abgeschöpft werden; heimliche Überwachungsmaßnahmen wie Große Lauschangriffe in und aus Wohnungen sowie sogenannte Staatstrojaner, also Überwachungssoftware, die heimlich in PCs oder Smartphones verdächtiger Personen eingeschleust werden, um sie ausforschen zu können. Zur fortschreitenden Vernetzung gehören u.a. die Terrorismus-Abwehrzentren, in denen Polizei und Geheimdienste des Bundes und der Länder unmittelbar zusammenarbeiten, darüber hinaus die von beiden Sicherheitsorganen gemeinsam bestückten und genutzten Antiterrordateien, die der Bekämpfung des »internationalen Terrorismus« dienen sollen. Und im Nationalen Cyber-Abwehrzentrum zur Abwehr elektronischer Angriffe auf kritische IT-Infrastrukturen kooperieren u.a. Bundeskriminalamt, Bundespolizei, BND, alle Verfassungsschutzbehörden und auch die Bundeswehr. Die Polizei kann folglich geheim erworbenes Wissen nutzen, das in gemeinsamen Zentren und Verbunddateien der Geheimdienste und der Polizei zusammengeführt wird.
Mit ihren diversen Eingriffsbefugnissen vereint die Polizei also geheime und zugleich exekutiv-vollziehende Kompetenzen in einer Hand – eine prekäre Kombination, die ursprünglich gerade verhindert werden sollte. Denn die Ermächtigung zu polizeilichen Geheimbefugnissen und die Vernetzung im staatlichen Sicherheitssektor bergen große Gefahren: In letzter Konsequenz geht es um die Aufhebung des verfassungskräftigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten – ebenfalls einer elementaren Lehre aus der deutschen Geschichte, aus den bitteren Erfahrungen mit Reichssicherheitshauptamt und Gestapo der Nazizeit, die allumfassend sowohl nachrichtendienstlich als auch exekutiv-vollziehend tätig waren. Das sicherheitspolitische Trennungsgebot der Nachkriegszeit, das ursprünglich in Westdeutschland eine unkontrollierbare Machtkonzentration der Sicherheitsapparate sowie eine neue Geheimpolizei verhindert werden sollte, basiert auf dem sogenannten »Polizeibrief« vom 14. April 1949, einem Schreiben der Militärgouverneure der westdeutschen Besatzungszonen an den Parlamentarischen Rat. Die Westalliierten teilten dem Parlamentarischen Rat mit, dass es den Westdeutschen zwar erlaubt sei, »eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische Tätigkeiten« einzurichten, also einen Geheimdienst. Aber: Dieser Geheimdienst dürfe niemals wieder »polizeiliche Befugnisse« haben. So wie die schon im Februar 1933 von den Nationalsozialisten per Gesetz gegründete Gestapo, die geheime Staatspolizei, die ohne jede juristische Kontrolle und eifrig unterstützt von der »normalen« Polizei in kürzester Zeit zu einem Terrorinstrument gegen angebliche »Staatsfeinde« wurde. Doch Mahnung und Forderungen des »Polizeibriefes« fanden im Laufe der Jahrzehnte immer weniger Beachtung und wurden mittlerweile in großen Teilen missachtet, sind praktisch aufgehoben.
Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht zwar die gemeinsame Nutzung der Daten in der Antiterrordatei durch Polizei und Geheimdienste zumindest problematisiert und teilweise für verfassungswidrig erklärt (BVerfG-Beschluss v. 10.11.2020 zu § 6a Abs. 2 ATDG; Az 1 BvR 3214/15). Das betrifft im Kern die gesetzliche Ermächtigung zur erweiterten Datennutzung (»Data Mining«) im Antiterrordateigesetz: also die unmittelbare Nutzung von Querverbindungen gespeicherter Datensätze aus polizeilichen sowie geheimdienstlichen Quellen durch die beteiligten Sicherheitsbehörden. Darin sieht das Gericht eine Verletzung des »informationellen Trennungsprinzips« sowie des Grundrechts auf »informationelle Selbstbestimmung«. Solche Eingriffe, die hiervon Betroffene in gesteigertem Maße belasten, seien prinzipiell unverhältnismäßig.
Trotz dieser Entscheidung: Mit der seit Jahrzehnten fortschreitenden und verfassungsrechtlich kaum gezügelten Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten wächst mehr und mehr zusammen, was nicht zusammengehört. Und mit dieser Entwicklung wird eine elementare Lehre aus der deutschen Geschichte, nämlich Trennungsgebot und informationelle Gewaltenteilung, weitgehend entsorgt – mit der drohenden Folge einer gefährlichen Machtkonzentration der Sicherheitsbehörden, die sich demokratisch immer schwerer kontrollieren lassen. Denn die konspirativ arbeitenden Teile des Polizeiapparates schotten sich intern, aber besonders auch nach außen hin ab, wodurch sich das ohnehin vorhandene Kontrolldefizit gegenüber polizeilichem Handeln noch erheblich vergrößert und verschärft.
Dieser fatalen Entwicklung gilt es dringend entgegenzuwirken.
Dr. Rolf Gössner, Jurist / Publizist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie Mitherausgeber des »Grundrechte-Reports« (Fischer-TB) und von Ossietzky. Autor zahlreicher Bücher zu Innerer Sicherheit, Bürgerrechten und demokratischem Rechtsstaat.
Literaturhinweise
Benjamin Derin/Tobias Singelnstein, Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation, Berlin 2022
Rolf Gössner, Datenkraken im Öffentlichen Dienst. ›Laudatio‹ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat, Köln 2021
Jan Keuchel/Christina Zühlke, Tatort Polizei. Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle. Ein Report, München 2021