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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kulturelle Aneignung oder: Darf ein Mann eine Frau sein?

Der klei­ne Luxus an einem Som­mer­tag: Mit Schreib­block und einem Buch in mei­nem Lieb­lings­ca­fé. Ein Stück Käse­ku­chen, ein Milch­kaf­fee, Ziga­ret­ten. Ein paar Sei­ten lesen, dann die Vor­über­ge­hen­den beob­ach­ten, die Gedan­ken trei­ben las­sen, viel­leicht ein paar Noti­zen machen und mir Geschich­ten aus­den­ken. Wer ist die­ser Mann mit dem schicken But­ton-Down-Hemd und der dun­kel­ro­ten Second-Hand-Weste, der mit einem klei­nen Lächeln durch das Vier­tel schlen­dert? Der letz­te Fla­neur? Ein bele­se­ner Lebens­künst­ler? Und was bedrückt die älte­re Frau im lan­gen bun­ten 70er Jah­re-Rock, die mit Blick auf den Boden über die Stra­ße huscht und ihre viel zu war­me Strick­jacke fest über der Brust zusammenzieht?

Für mei­ne Geschich­ten brau­che ich beob­ach­te­te Rea­li­tät und natür­lich Ein­füh­lungs­ver­mö­gen und Fan­ta­sie, aber mir fehlt das Talent, mich lite­ra­risch in einen ande­ren Men­schen zu ver­wan­deln. Ich könn­te kei­nen Roman schrei­ben, in der die Ich-Erzäh­le­rin eine schwar­ze Frau im Roll­stuhl ist oder der Ich-Erzäh­ler ein homo­se­xu­el­ler Tor­wart. Zum Bei­spiel. Doch es gibt Autoren, die dank ihrer beson­de­ren Fan­ta­sie und kom­ple­xen Wahr­neh­mung zur Erschaf­fung einer kul­tu­rell frem­den Figur, zu einer Ver­wand­lung fähig sind; denen es gelingt, durch die­se Figur die Tie­fen der mensch­li­chen See­le zu erkun­den und eine Reso­nanz im Meta­pho­ri­schen zu errei­chen. Die Lite­ra­tur­ge­schich­te beweist es. Gust­ave Flau­bert war nicht Madame Bova­ry, die Les­be Patri­cia Highsmith nicht der Hete­ro-Mann und Mör­der Ripley, Mary Shel­ley nicht Fran­ken­stein und die bri­ti­sche Schrift­stel­le­rin Jojo Moy­es nicht der jun­ge Will, der nach einem Motor­rad­un­fall quer­schnitts­ge­lähmt im Roll­stuhl sitzt. Und Phil­ip Roth ist nicht der schwar­ze Pro­fes­sor, der in Der mensch­li­che Makel als ver­meint­lich wei­ßer Ras­sist sei­ne Stel­le ver­liert und schmerz­haft begrei­fen muss, dass er nie­mals als Wei­ßer leben kann, obwohl er so aus­sieht. All die­se Roman­fi­gu­ren sind trotz­dem glaub­wür­dig. Und gäbe es sie in der Rea­li­tät, sie hät­ten sich wohl nicht so gut beschrei­ben kön­nen, wie ihre lite­ra­ri­schen Bio­gra­phen es konn­ten. So beweist die Lite­ra­tur, wie ähn­lich wir Men­schen ein­an­der sind, trotz aller Unterschiede.

Doch sol­che Spie­le mit Iden­ti­tä­ten und Ver­wand­lun­gen sind heu­te nicht mehr mög­lich. Wer es tut, macht sich sofort und undis­ku­tier­bar der »kul­tu­rel­len Aneig­nung« schul­dig. Kul­tur ist zur Kampf­zo­ne der bit­ter­ern­sten »Iden­ti­täts­po­li­tik« gewor­den, die dafür sor­gen soll, dass die spe­zi­fi­schen Bedürf­nis­se einer spe­zi­fi­schen Grup­pe – Schwar­ze, Schwu­le, Trans­men­schen, Behin­der­te, also »Unter­drück­te« aller Art – wahr­ge­nom­men und mit von allen ande­ren zu beach­ten­den spe­zi­fi­schen Regeln durch­ge­setzt wer­den. Egal wie klein die Grup­pe ist. Eine Hete­ro-Frau darf kei­ne Les­be spie­len, eine Hete­ro-Mann kei­nen Trans­men­schen, ein Wei­ßer kei­nen Schwar­zen, wie einst Orson Wel­les den Othel­lo. Wei­ße Musi­ker dür­fen kei­ne Dre­ad­locks tra­gen oder Reg­gae spie­len – Kul­tur­ele­men­te, die angeb­lich allein der »schwar­zen Kul­tur« vor­be­hal­ten sind; eine wei­ße Über­set­ze­rin darf nicht die Gedich­te einer schwar­zen Lyri­ke­rin über­set­zen. Eine Wis­sen­schaft­le­rin soll nicht mehr behaup­ten, es gäbe nur zwei bio­lo­gi­sche Geschlech­ter. Ein deut­scher Pro­fes­sor, Fach­mann auf die­sem Gebiet, soll nicht mehr über Kolo­nia­lis­mus leh­ren. Dior wird für die Nach­ah­mung eines tra­di­tio­nel­len chi­ne­si­schen Rocks beschimpft, Models wer­den für das Tra­gen von Gei­sha-Fri­su­ren kri­ti­siert. Und Kin­der sol­len sich im Kar­ne­val nicht mehr als Eski­mo oder tap­fe­re »India­ner« ver­klei­den. Auch Mokas­sins oder Palä­sti­nen­ser­tü­cher sind heu­te nicht mehr erlaubt: »Kul­tu­rel­le Aneig­nung!« Damit ist gemeint: DIE Täter dür­fen nicht DIE Opfer spie­len. DIE Täter dür­fen kei­ne Mode, kei­ne Sym­bo­le DER Opfer tra­gen. DIE Täter dür­fen nicht die Geschich­te DER Opfer erzäh­len. Wobei die Zahl der Opfer stän­dig steigt: Je mehr zer­brech­li­che benach­tei­lig­te Iden­ti­tä­ten sich (er)finden, desto mehr Täter wer­den iden­ti­fi­ziert. Schon wer das wach­sen­de Alpha­bet der sexu­el­len Iden­ti­tä­ten nicht beherrscht (LGBTQIA+) kann nur ein Sexist, ein Dis­kri­mi­nie­rer, par­don, ein*e Diskriminierer*in sein. Wer heu­te also als wei­ßer Lite­rat eine schwar­ze Per­spek­ti­ve wäh­len möch­te, wie Phil­ip Roth es getan hat, braucht ein Pseud­onym und eine fik­ti­ve Iden­ti­tät. Und darf sich auf kei­nen Fall erwi­schen las­sen, um nicht im Shits­torm ver­brannt zu werden.

Ich habe wei­ße deut­sche Freun­de, die ande­ren deut­schen Wei­ßen bei­brin­gen, wie man afri­ka­nisch kocht. Taji­ne, Cous­cous, Taboulé, Fal­a­fel und Kebab aus Län­dern wie Marok­ko, Tune­si­en und dem Liba­non tref­fen auf Injera aus Äthio­pi­en, Egu­sisup­pe aus Nige­ria und Joll­of-Reis aus dem Sene­gal. Ein kuli­na­ri­sches Fest. Eine sinn­li­che Freu­de. Aber lei­der ein böser Fall von »kul­tu­rel­ler Aneig­nung«, so habe ich es vor eini­gen Tagen bei einer Lek­tü­re im Netz gelernt. Mei­ne Freun­de kochen und leh­ren dem­nächst im Untergrund.

Ich möch­te der auf­ge­reg­ten Dis­kus­si­on um Iden­ti­tä­ten und »kul­tu­rel­le Aneig­nung«, die wir uns hier übri­gens aus den USA und Groß­bri­tan­ni­en ange­eig­net haben, noch ein bis­her über­se­he­nes The­ma hin­zu­fü­gen, das mir als Frau, also einem lebens­lan­gen Opfer von männ­li­chem Sexis­mus, auf den frisch lackier­ten Fin­ger­nä­geln brennt: Was ist mit einem Mann, der plötz­lich behaup­tet, eine Frau zu sein? Darf er das? Macht er sich nicht auf unver­zeih­li­che Wei­se der kul­tu­rel­len Aneig­nung schul­dig? Hat die­ser Mann je Monats­blu­tun­gen gehabt? Hat er Kin­der gebo­ren? Hat er einen Busen, eine Vagi­na, Wech­sel­jah­re? Hat er sich ein Leben lang gegen »toxi­sche Männ­lich­keit« weh­ren müs­sen? Hat er erlebt, wie man als älter wer­den­de Frau für Män­ner immer unsicht­ba­rer wird? Was weiß er über den weib­li­chen Kör­per, über sei­ne Lust und sei­ne Lei­den? Ist er plötz­lich eine Frau, nur weil er sich als Frau fühlt, als Frau gese­hen wer­den möchte?

Nach Ansicht des Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft­lers Richard A. Rogers, so lese ich bei einem wei­te­ren Milch­kaf­fee in mei­nem mit­ge­brach­ten Buch, gibt es ver­schie­de­ne For­men der »kul­tu­rel­len Aneig­nung«. Eine davon ist die »Kul­tu­rel­le Aus­nut­zung«, was bedeu­tet: »Die Aneig­nung der Ele­men­te einer unter­ge­ord­ne­ten Kul­tur durch die domi­nan­te Kul­tur ohne nen­nens­wer­te Rezi­pro­zi­tät, Erlaub­nis und/​oder Kom­pen­sa­ti­on.« (Ich muss­te das auch zwei­mal lesen!)

Soge­nann­te Links­iden­ti­tä­re sind empört, wenn sich Bewoh­ner aus Län­dern ein­sti­ger Unter­drücker, Kolo­ni­sa­to­ren und Wert­ex­por­teu­re Kul­tur­ele­men­te von vor­ma­lig oder gegen­wär­tig unter­drück­ten Min­der­hei­ten aneig­nen. Wei­ße sol­len kei­ne Schwar­zen spie­len, weil Wei­ße Schwar­ze dis­kri­mi­niert, unter­drückt, aus­ge­beu­tet und ver­sklavt haben. Und es lei­der immer noch tun. Aber Män­ner dür­fen plötz­lich behaup­ten, Frau­en zu sein, sie dür­fen sich als Frau­en klei­den, obwohl Frau­en von Män­nern dis­kri­mi­niert, unter­drückt, aus­ge­beu­tet und ver­sklavt werden?

Mein Vor­wurf der »kul­tu­rel­len Aneig­nung« ist hier natür­lich nur ein Spiel. Eine bewuss­te Ver­dre­hung der übli­chen Per­spek­ti­ve. Ohne das Spiel mit Fan­ta­sie und Rol­len und kul­tu­rel­len Sym­bo­len, ohne das Spiel mit alten und neu­en Tabus, ohne Iro­nie und Selbst­iro­nie ver­liert unse­re Gesell­schaft ihren gei­sti­gen Sauerstoff.

Doch eine der wich­tig­sten Fra­gen der Kunst, die Fra­ge »Was wäre, wenn …?« soll nicht mehr in Frei­heit gestellt wer­den dür­fen. Fan­ta­sie wird kastriert, die Men­schen wer­den ins Gefäng­nis ihrer »Iden­ti­tät« gesperrt. Doch Kul­tur ist immer auch Kul­tur­trans­fer. Und wir alle par­ti­zi­pie­ren von die­sem Trans­fer: sei es der Sprach­er­werb, der Erleb­nis viel­fäl­ti­ger kuli­na­ri­scher Genüs­se, die von ande­ren Kul­tu­ren inspi­rier­te Mode oder die Absol­vie­rung eines Auslandssemesters.

Die Glo­ba­li­sie­rung hat zu einer viel­fäl­ti­gen Ver­net­zung von ver­schie­den­sten Indi­vi­du­en geführt, zu einer bun­ten Ver­mi­schung von Kul­tur­ele­men­ten, an denen es kei­ne Eigen­tums­rech­te gibt. Exem­pla­risch dafür ste­hen Rasta-Zöp­fe, für deren Tra­gen die Musi­ke­rin Ron­ja Malt­zahn im März von »Fri­days for Future« wie­der aus­ge­la­den wur­de. Ihr Erschei­nungs­bild sei der »schwar­zen Kul­tur« vor­be­hal­ten. Nur wenn sich Ron­ja Malt­zahn die Haa­re abschnei­de, dür­fe sie auf­tre­ten, wur­de ihr mit­ge­teilt. Und ein Kon­zert der Mund­art-Band Lau­warm im Juli in Bern wur­de abge­bro­chen, weil sich die Zuschau­er wegen der Dre­ad­locks eini­ger Musi­ker und wegen der teil­wei­se gespiel­ten jamai­ka­ni­schen Reg­gae-Musik »unwohl« fühl­ten. Unwohl! Die Ver­an­stal­ter ent­schul­dig­ten sich gar: Man habe das Publi­kum vor den »schlech­ten Gefüh­len« schüt­zen müs­sen. Will man die­se Art von Kul­tur­ter­ro­ris­mus, von äußerst sen­si­blen See­len angeb­lich im Sin­ne der Unter­drück­ten betrie­ben, über­haupt ernst neh­men, müss­te man ant­wor­ten, dass sich die ersten Dar­stel­lun­gen von Dre­ad­locks auf Wand­bil­dern der Minoi­schen Kul­tur, der älte­sten Hoch­kul­tur Euro­pas fin­den; dass vor der spa­ni­schen Erobe­rung Mexi­kos in der azte­ki­schen Kul­tur Mit­tel­ame­ri­kas lan­ge schim­me­li­ge Haa­re ein Erken­nungs­zei­chen der Prie­ster waren; dass Dre­ad­locks auch in der isla­mi­schen Mystik, dem Sufis­mus ver­brei­tet sind, und dass von Der­wi­schen aller Eth­ni­en und Haut­far­ben tra­di­tio­nell Dre­ad­locks getra­gen wer­den. Und dass deren heu­ti­ge Ver­brei­tung ihren Ursprung in der Rasta­fa­ri-Bewe­gung der 1930iger Jah­re hat. Mit der Kul­tur­ge­schich­te der Dre­ad­locks könn­te man ein gan­zes Buch fül­len. Bemer­kens­wert ist, dass weder die durch Dre­ad­locks bei wei­ßen Musi­kern erschüt­ter­ten Schrei­häl­se noch die Ange­grif­fe­nen auch nur einen Hauch von Wis­sen über die ver­schie­de­nen und uralten Ursprün­ge der Dre­ad­locks zu haben schei­nen. Deut­lich wird an die­sem Bei­spiel, dass der Vor­wurf der »kul­tu­rel­len Aneig­nung« reflex­ar­tig erho­ben wird, ohne sich mit den kom­ple­xen Dif­fe­ren­zie­run­gen einer sich stän­dig ent­wickeln­den Kul­tur zu beschäf­ti­gen, mit dem Unter­schied zwi­schen Aneig­nung und Aus­tausch. Eine Inter­pre­ta­ti­on von Kul­tur, die Kul­tu­ren jeweils fest­ste­hen­de und wesen­haf­te Eigen­schaf­ten zuschreibt, also eine »kul­tu­rel­le Iden­ti­tät«, ver­wech­selt die Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimm­ten Kul­tur mit dem Wesen eines Men­schen. Und deckt sich hier mit den Posi­tio­nen von Rechts­extre­men, die angeb­lich wis­sen, wie DIE Aus­län­der ticken. Wei­ße wie schwar­ze Haut­far­be wer­den zur poli­ti­schen Kate­go­rie umge­deu­tet, zu einem Wesens­merk­mal, als Beweis für einen in den Genen des Wei­ßen lie­gen­den Kolo­nia­lis­mus und für die gene­tisch fest­ge­leg­te Rol­le des Schwar­zen als einem unter­drück­ten Men­schen. So gese­hen ist ein wei­ßer Mensch nicht berech­tigt, eine »nicht-wei­ße« Fri­sur oder Tracht zu tra­gen. Die Empö­rung über die Dar­stel­lung von Trans­men­schen durch hete­ro­se­xu­el­le Schau­spie­ler folgt dem glei­chen Schema.

Ich befürch­te, den woken, den »erwach­ten« Für­spre­chern und Ver­tei­di­gern mar­gi­na­li­sier­ter Grup­pen geht es auch um die Demon­stra­ti­on ihrer mora­li­schen Über­le­gen­heit, um die Zur­schau­stel­lung ihrer außer­ge­wöhn­li­chen Sen­si­bi­li­tät für jede Dis­kri­mi­nie­rung. Doch für eine freie, libe­ra­le, demo­kra­ti­sche Gesell­schaft brau­chen wir nicht noch mehr Sen­si­bi­li­tät von noch mehr angeb­li­chen Opfern. Wir brau­chen nicht noch mehr stell­ver­tre­ten­des »Lei­den« für DIE Opfer, son­dern wir brau­chen – wie es die Phi­lo­so­phin Sven­ja Flaß­pöh­ler schreibt – mehr Resi­li­enz, also jene Wider­stands­kraft, die den Abschied von der Opfer­rol­le vor­aus­setzt und aus Selbst­re­fle­xi­on, Nach­denk­lich­keit und Humor besteht.

Ich bin übri­gens kei­ne gequäl­te Frau. Kein Fall für #MeToo. Wenn unbe­dingt nötig, habe ich dem einen oder ande­ren männ­li­chen Idio­ten für respekt­lo­se Über­grif­fig­kei­ten »in die Eier« getre­ten. Oder ihn ein­fach aus­ge­lacht. Aber meist habe ich mich über Pfif­fe auf der Stra­ße, Kom­men­ta­re zu mei­nen Bei­nen oder Blicke in mein Dekol­le­té gefreut. War­um habe ich (in jün­ge­ren Jah­ren) Mini­röcke bevor­zugt, die Lip­pen rot geschminkt oder für den schwin­gen­den Gang Schu­he mit hohen Absät­zen getra­gen? Damit kein Mann hin­schaut? Ich genie­ße das ero­ti­sche Spiel zwi­schen Män­nern und Frau­en, den Flirt, die klei­nen (ein­ver­nehm­li­chen) Über­grif­fe. Und bin sicher, dass ich schon wie­der gegen diver­se Sprach- und Denk­re­geln ver­sto­ße. Dass ich jetzt wenig­stens mei­ne grund­le­gen­de Abscheu gegen sexu­el­le Nöti­gung jeder Art for­mu­lie­ren muss. Und gegen die Redu­zie­rung der Frau auf ein Sex­ob­jekt. Was hier­mit gesche­hen sei. (So wie ich auch vor jeder Kri­tik an der Coro­na-Poli­tik beto­nen muss, dass ich selbst­ver­ständ­lich kei­ne rechts­ra­di­ka­le »Quer­den­ke­rin« bin – und vor jeder Kri­tik an den Ver­bre­chen der Nato, dass ich Putins Angriffs­krieg natür­lich aufs Schärf­ste verurteile.)

Und noch ein Gedan­ke beim Blick auf die beleb­te Stra­ße: Ich bin sicher, dass die Män­ner, die in Frau­en­klei­dern und High Heels durch mein Vier­tel lau­fen, eben­falls auf aner­ken­nen­de männ­li­che (und weib­li­che) Blicke hoffen.

Doch zurück zur Lite­ra­tur: Die Welt­hal­tig­keit von Lite­ra­tur besteht dar­in, dass sie immer wie­der dar­über nach­denkt, was ist und was sein könn­te, selbst wenn es empö­rend, ver­werf­lich, dreckig, pro­vo­kant sein soll­te. Doch eif­rig wird ver­sucht, die Lite­ra­tur strom­li­ni­en­för­mig auf Kurs zu brin­gen, auch die, die schon lan­ge in unse­ren Biblio­the­ken lagert. »Can­cel Kant« heißt eine aus den USA kom­men­de und dort sehr popu­lä­re For­de­rung, da Kants Werk angeb­lich ras­si­stisch sei. Was für eine drei­ste Kam­pa­gne. Imma­nu­el Kant (1724-1804), die­ser »gro­ße Zer­stö­rer im Reich der Gedan­ken«, wie Hei­ne es for­mu­lier­te, des­sen Kri­tik der rei­nen Ver­nunft welt­li­che und gött­li­che Auto­ri­tä­ten vom Thron stürz­te und durch einen uni­ver­sel­len Huma­nis­mus ersetz­te, war natür­lich den­noch ein Kind sei­ner Zeit und mach­te man­che frau­en­feind­li­che, ras­si­sti­sche oder anti­se­mi­ti­sche Bemer­kung. Aber sowie­so geht es an den US-Uni­ver­si­tä­ten beim Kampf gegen Kant gar nicht um ein­zel­ne Bemer­kun­gen oder zeit­ty­pi­sche Posi­tio­nen. Der Vor­wurf, dass der Mensch Kant ein Ras­sist war, dient der Beweis­füh­rung, dass Kants Uni­ver­sa­lis­mus in Wirk­lich­keit eine ras­si­sti­sche Ideo­lo­gie für pri­vi­le­gier­te wei­ße Män­ner ist: Sein auf­ge­klär­ter Huma­nis­mus sei nur eine Mas­ke, hin­ter der die Mäch­ti­gen unge­stört aus­gren­zen und aus­beu­ten kön­nen. Also weg mit dem uni­ver­sel­len Huma­nis­mus. Can­cel Cul­tu­re in Rein­kul­tur. Und Kant ist nur ein Bei­spiel. Auch auf hie­si­gen Ger­ma­ni­sten­kon­gres­sen wer­den For­de­run­gen erho­ben, ein­zel­ne Klas­si­ker kom­plett aus dem Kanon zu strei­chen. Zum Bei­spiel Kleist, in des­sen Tex­ten – gese­hen durch den Gegen­warts­fil­ter – eben­falls Ras­sis­mus zu fin­den ist. In Kleists aus dem Jah­re 1811(!) stam­men­den Novel­le »Die Ver­lo­bung in St. Dom­in­go« über einen Skla­ven­auf­stand wird von »Negern« oder »Ras­se« gere­det und die Über­le­gen­heit der Wei­ßen als von Gott gege­ben hin­ge­nom­men. »Man glaubt, berech­tigt zu sein«, schreibt der Schrift­stel­ler Mat­thi­as Poli­tycki in sei­nem Buch »Mein Abschied von Deutsch­land«, »Kunst­wer­ke über alle histo­ri­schen Zäsu­ren und kul­tu­rel­len Gren­zen hin­weg nach den eige­nen mora­li­schen Maß­stä­ben beur­tei­len und bear­bei­ten, im schlimm­sten Fall aus dem Ver­kehr zie­hen zu dür­fen. – Hybris mit hege­mo­nia­ler Ambition.«

Neben der immer häu­fi­ger gefor­der­ten rück­wir­ken­den Berei­ni­gung des abend­län­di­schen Bil­dungs­ka­nons soll in Zukunft auch dar­über bestimmt wer­den, was über­haupt noch geschrie­ben und gedacht wer­den darf. Sie­he den Raus­schmiss von Moni­ka Maron beim S. Fischer Ver­lag im Okto­ber 2020. Oder die Shits­torms gegen Auf­trit­te von Uwe Tell­kamp. Ihnen soll der Mund ver­bo­ten wer­den. Und das natür­lich wie­der nur für die Ver­tei­di­gung des Guten und Rich­ti­gen. Zudem hat man in der Lite­ra­tur den »Sen­si­ti­vi­ty Rea­der« erfun­den. Eine neue Berufs­grup­pe, die sich neu­er­dings zum Bei­spiel die Ver­lags­grup­pe Ran­dom Hou­se lei­stet. So ein »Sen­si­ti­vi­ty Rea­der« wird gebucht, um ein fer­ti­ges Manu­skript noch ein­mal unter dem Gesichts­punkt zu über­prü­fen, ob sich sen­si­ble Leser durch irgend­ei­ne For­mu­lie­rung ver­letzt füh­len könn­ten, ob sich Trig­ger für woke-Empö­rung fin­den. Mat­thi­as Poli­tycki: »Mit ande­ren Wor­ten: Er (der ›Sen­si­ti­vi­ty Rea­der‹) soll dafür sor­gen, dass ein woker Leser aus­schließ­lich das von einem Buch erhält, was sei­ner woken Welt­sicht entspricht.«

Waren Ver­la­ge nicht einst die Orte der Viel­falt? Soll­ten Ver­le­ger nicht eigent­lich Frei­heits­kämp­fer sein? Weil Pole­mik und Mei­nungs­streit unbe­dingt zu einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft gehö­ren. Franz Kaf­ka for­mu­lier­te es so: »Lite­ra­tur soll ›die Axt für das gefro­re­ne Meer ins uns‹ sein«. Der Sen­si­ti­vi­ty Rea­der, so Poli­tycki, »sorgt nun dafür, dass das Meer gefro­ren bleibt«.

Doch Lite­ra­tur, die sich absi­chert, ist überflüssig.

Die hori­zon­ta­le Zen­sur, aus­ge­übt durch uns selbst, ist umfas­sen­der und gefähr­li­cher, als es jede ver­ti­ka­le Staats­zen­sur je sein kann. Die kann man auf viel­fäl­ti­ge Wei­se aus­trick­sen. Doch unse­re selbst gezüch­te­ten Zen­so­ren, vor denen Ver­la­ge und öffent­lich-recht­li­che Rund­funk­an­stal­ten, Uni­ver­si­tä­ten und Kon­zert­ver­an­stal­ter längst ein­knicken, trei­ben uns im Ver­bund mit der über­all instal­lier­ten Über­wa­chungs­tech­no­lo­gie in eine moder­ne Form der Dik­ta­tur. Ich erwar­te schon die näch­ste Warn-App: »Ach­tung! Kon­takt mit einer Per­son, die sich des Rassismus/​der Transfeindlichkeit/​des Gen­der-Ver­sto­ße­s/­der kul­tu­rel­len Aneig­nung schul­dig gemacht hat.“

Wie gut, dass ich immer noch kein Smart­phone habe und lie­ber mit Buch und Notiz­block in mei­nem Lieb­lings­ca­fé sitze.