In den vergangenen zweieinhalb Jahren, die durch »Corona« geprägt wurden, haben wir umdenken müssen, und zwar so radikal, dass sich bis dahin geltende gesellschaftliche Vorstellungen über ein gedeihliches Miteinander buchstäblich in ihr Gegenteil verkehrten. Im Laufe von Jahrhunderten haben sich – wie in allen Kulturen, so auch in unserer – je verschiedene Gesten herausgebildet, mit denen wir einem jeweiligen Gegenüber bedeuten, dass wir seine Sicherheit nicht gefährden werden, dass wir bereit sind zu vertrauen und uns als vertrauenswürdig zu erweisen, dass wir nichts Böses im Sinn haben und davon ausgehen, dass wir Böses vom Anderen nicht zu gewärtigen haben. Viele dieser schönen Gepflogenheiten, die ein freundliches Miteinander erst möglich machen, sind unter den Bedingungen der Pandemie in unverzeihliches Fehlverhalten verkehrt worden. Wenn prinzipiell jeder jeden gefährdet und alle von allen gefährdet werden, dann ist eben Vertrauen keine Tugend, sondern Misstrauen geboten, für das wir dann, um die Schroffheit zu mildern, freundlich um Verständnis bitten. Das ungeschützte Antlitz, einst Inbegriff der Wehrlosigkeit, wurde zur Quelle der Bedrohung. Jede Berührung könne schweren Schaden anrichten, so wurden wir belehrt, denn der Virus lauere überall. Solidarisch und hilfsbereit seien wir, wenn wir uns voneinander fernhielten, denn davon, dass wir uns »nahe standen«, hatten wir nichts mehr zu erhoffen.
Der Nähe-Mangel, den der Corona-Komplex uns eingetragen hat, manifestiert sich vor allem in einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung. Ein Meinungs- und Deutungskampf entbrannte, der bewährte Loyalitäten schlagartig beendete, Freundschaften zerbrach, Familien zerrüttete, Arbeitsverhältnisse vergiftete. Während die Corona-Sorge (zeitweilig) abklingt, die Pandemie vorläufig aus den Schlagzeilen verschwindet und die Masken fallen, bleibt die durch die Coronakrise akut gewordene Spaltung vertieft bestehen. Und die Frontlinie, die zwischen »Geimpften« und »Impfgegnern«, zwischen »wissenschaftlich« und »verschwörungstheoretisch« verlief, trennt jetzt Bellizisten und Pazifisten, und zwar nach ebenso ungleichen Mehrheitsverhältnissen.
Je tiefer die Spaltung, desto eindringlicher wird Einhelligkeit beschworen und dann auch inszeniert. Politik und Medien arbeiten in lange nicht erlebter Einstimmigkeit Hand in Hand, um die Spaltung vergessen zu machen und »Geschlossenheit« zu insinuieren. »Geschlossenheit« ist das Wort, das sich im gegenwärtig gültigen Sprachgebrauch durchgesetzt hat, damit rivalisierende Meinungen sich schon im Vorfeld der öffentlichen Debatten nach »richtig« und »falsch«, ja, mehr noch, nach »vernünftig« und »unvernünftig« sortieren lassen. Wobei die Frage unerörtert bleibt, wer die Deutungshoheit über die in höchstem Maße besorgniserregenden Entwicklungen beansprucht, wem sie aber auch von – statistisch ermittelten – Mehrheiten zugebilligt wird und wie demokratisch sie dann in politische, ökonomische, technische und bürokratische Entscheidungen umgesetzt wird.
»Geschlossenheit« gilt in diesen unsicheren Zeiten als ein so hoher »Wert«, dass wir das Gespür für die Gefahren, die darin lauern, zu verlieren drohen. Geschlossenheit bedeutet aber eben nicht nur Zusammenhalt, sondern auch Eingesperrt-Sein. Für die Gefahren der Einsperrung habe ich, die ich seit Kindertagen und Bunkernächten an Klaustrophobie leide, ein besonders geschärftes Sensorium.
Am 16. April erfuhren wir in den Nachrichten nahezu aller für wichtig befundenen Medien von der Entscheidung des Papstes, bei der traditionellen Kreuzwegprozession am Karfreitag in Rom eine Russin und eine Ukrainerin das Kreuz gemeinsam tragen zu lassen. Ich atmete auf, endlich eine symbolische Geste der Versöhnung, endlich ein Zeichen, das in eine andere Richtung wies als in die Aufrüstung mit immer mehr Zerstörungswucht. Aber dann kam die Ernüchterung, dann schrillten die Alarmglocken: Die Reaktion reichte von der Vermutung, der Papst sei aus Altersgründen seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen, bis hin zu dem Vorwurf, er spiele Putin in die Hände, wobei das Wort »Putin« inzwischen als Bezeichnung für ganz Russland Verwendung findet. Aus der Ukraine kam der Verweis, für eine Geste der Versöhnung sei es zu früh, will sagen, der Papst hatte offenbar den Versöhnungsfahrplan nicht eingehalten. Aber Versöhnung duldet keinen Aufschub. Die Botschaft, in deren Namen Franziskus handelte, ist in dieser Hinsicht ganz unmissverständlich: Lass alles stehen und liegen, wenn dir einfällt, dass du mit deinem Nachbarn zerstritten bist, und gehe zuerst hin und versöhne dich. Und dann heißt es dort auch: »Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Wege bist« (Matthäus 5.23-25).
Die Vorstellung, man könne erst den Sieg erfechten und sich dann der Versöhnung widmen und Frieden organisieren, ist abwegig. Der Friede Gottes, der höher ist als diese »Vernunft«, lässt sich nicht um die Versöhnung betrügen, und die Frage, wer den ersten Schritt tun muss, stellt sich nicht, er muss nur getan werden, zum Beispiel dadurch, dass wir in unserer Solidarität, unserem Mitgefühl und unseren Gebeten keine Leid-Tragenden erster, zweiter, dritter und vierter Klasse unterscheiden. Das können wir von einem kleinen Jungen lernen, der bei der Erstkommunion in seiner Gemeinde, nachdem alle anderen Kinder ihre Fürbitte für die in der Ukraine von Bomben, Angst und Verzweiflung bedrängten Menschen ausgesprochen hatten, seiner eigenen Bitte die vier Worte »und auch den Russen« hinzufügte.
Meine Anteilnahme gilt den ukrainischen Frauen, die, geflohen mit ihren Kindern, sich von ihren Männern an der polnischen Grenze verabschieden mussten, ohne zu wissen, ob sie sie je wiedersehen werden, und den Müttern, Frauen und Kindern im fernen Sibirien, denen ihre Männer abhandenkamen und die nicht einmal, wenn sie vielleicht doch Nachricht von ihnen haben, wissen, ob sie noch leben. Sie gilt den Menschen, die in Charkiw oder anderswo mit der Angst ins Bett gehen, dass sie unter den Trümmern ihres nächtens zerbombten Hauses begraben werden könnten, und den nichtsahnenden jungen russischen Soldaten, die in den Krieg geschickt wurden, ohne zu wissen, wo sie sind und was sie da tun, und von denen etliche in ihren Panzern verbrannt sind. Sie gilt den Kindern, die mir besonders nahe gehen, denn ich fühle mich ihnen verbunden in der Erfahrung dessen, was Krieg ihnen antut, und den Müttern, die nicht wissen, wie sie sie schützen und trösten sollen.
Die Botschaft, in deren Namen wir zur Versöhnung ermahnt und ermutigt werden, mutet uns noch mehr zu: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist (3. Mose 19.18): ›Du sollst Deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.‹ Ich aber sage euch: ›Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen‹«. (Matthäus 5.44; siehe auch: Lukas 6.27-28).
Die Botschaft mutet mir zu, demjenigen, der mir auf die rechte Wange schlägt, auch die linke darzubieten, und dem, der mir den Rock stiehlt, auch meinen Mantel zu überlassen.
Ich weiß, diesen Zumutungen bin ich nicht gewachsen. Sie sind ein Vorschein auf das ganz Andere, auf den Frieden, der das, was wir über ihn zu denken wagen, weit übersteigt. Aber die Aufgabe bleibt uns doch, alles uns Mögliche dafür zu tun, dass die Sehnsucht nach dem »Frieden, der höher ist als alle menschliche Vernunft«, in uns nicht erlischt.
Papst Franziskus hat noch einen anderen ersten Schritt getan, der für den langen Weg der Annäherung und Versöhnung unerlässlich ist. Er hat gewagt, die Unschuld der westlichen Allianz an dem Kriegsgeschehen in Frage zu stellen, er hat vom »Gebell der NATO vor den Türen Russlands« gesprochen; wohl aus der bewährten Einsicht heraus, dass im Falle eines Konflikts immer Verblendung herrscht, wenn eine Seite sich unschuldig erklärt und die ganze Last des Schuldigseins ohne Abstriche und bis zur Verteufelung der anderen Seite aufbürdet. Auch dafür hat Papst Franziskus einen Sturm der Entrüstung geerntet. Aber ohne diese äußerst schmerzliche Mühe, die eigenen Anteile am Zustandekommen der ausweglosen Lage redlich und wahrhaftig, nach bestem Wissen und Gewissen und unter Einbeziehung Andersmeinender zu ergründen, dürfen wir nicht behaupten, wir seien verhandlungsbereit.
Tagtäglich werden wir im medialen Rauschen auf »unsere Solidarität mit der Ukraine« eingeschworen. Und auch der Papst hat sich verpflichten lassen, dieser Solidargemeinschaft symbolisch beizutreten: Als er – so war zu lesen – bald nach Beginn des Krieges Besuch von ukrainischen Kindern empfing, die ihm als Gastgeschenk eine ukrainische Fahne überreichten, hat er diese Fahne angesichts dieser Kinder geküsst. Mir ist diese Geste in Indiz dafür, dass unser Sinn für aussagekräftige Symbolik schweren Schaden genommen hat. Denn der Schritt vom Fahnen-Kuss zum Waffen-Segnen ist nicht groß.
Ich verwahre mich ausdrücklich dagegen, in dieses solidarische »Wir« mit der Ukraine eingeschlossen zu werden. Ich bin nicht ukrainophil und werde keine ukrainischen Fahnen schwenken und mein Gesicht nicht blau und gelb bemalen, so wenig wie ich russische- oder deutsche- oder Nato-Fahnen schwenken werde. Ich fühle mich ukrainischen Menschen verbunden, weil sie mich angehen, weil ich von Ihrem Elend »berührt« bin, »je suis touché«, sagt Emmanuel Levinas über diese Verbundenheit. Aber wie ist das möglich, da ich sie doch gar nicht kenne?
Dass Angst kein guter Ratgeber sei, ist sprichwörtlich. Ich sehe das anders: die aus meiner Kindheit durchs Leben hindurchgetragene Angst vor dem Grauen des Krieges und vor technisch unermesslich gesteigerter Gewalt teile ich mit den Leidtragenden auf beiden Seiten, und sie macht es mir un-möglich zu glauben, diese waffenstarrende Solidarität könnte einem friedlichen Zusammenleben den Weg bereiten.
Mögen sich nach dem Verstummen der Kirchen – der katholischen, die ihren Papst in seinem Bemühen um Versöhnung im Stich lässt, und meiner protestantischen, die sich überstimmen lässt von denen, die siegen wollen –, mögen sich überall im Land neue kleine ohn-mächtige Gemeinden bilden, die diesem gesellschaftlich wieder massenhaft verpönten Un-Glauben an einen durch technische Hochrüstung herstellbaren Frieden eine Stimme geben, nicht eine, die siegen und Recht haben will, aber eine, die als Hoffnung nicht aufgegeben werden darf. »Ent-rüsten wir uns!«
Ich schließe mit einem Satz von Elias Canetti: »Manches sollte man nicht sein, aber das Einzige, was man nie sein darf, ist ein Sieger.« (Canetti, Elias: Die Provinz des Menschen. 5. Aufl. Frankfurt 1981, S. 153)